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"Schärfere Gesetze, mehr Polizei!" lautet der Wahlkampfdauerbrenner der CDU. Inzischen ist sie nicht mehr allein: Gerhard Schröder fordert ein härteres Vorgehen gegen Kriminelle, Henning Voscherau macht innere Sicherheit zum Hauptthema der Wahlen in Hamburg ("Law and order is a Labour issue"). Auch die Grünen fordern erstmals eine "höhere sichtbare Polizeipräsenz". Doch diese Vorstöße sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Die Zahl der Straftaten steigt in Deutschland langsam an, im letzten Jahr ist sie leicht (um 0,3%) gesunken. Aber die Jugendkriminalität expoldiert. Seit Ender der 80er Jahre ist der Anteil der polizeilich aufgefallenen Jugendlichen in ihrer Altersgruppe um 69,2% gestiegen. 1996 wurden allein 131.000 Kinder unter 14 Jahren einer Tat verdächtigt. Fast immer geht es ums Eigentum. (Anteil von Ladendiebstahl: 57,3%)
Soziale Fieberkurve
Das hat einen Grund: Der Anstieg entspreche "in frappierender Weise" den Daten der Sozialstatistik, wie der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Pfeifer, erklärt: "Die Armutsquote ist unter Jugendlichen und Heranwachsenden zwischen 87 und 93 extrem gestiegen". Daß insbesondere eine hohe Zahl von Diebstahls- und Raubdelikten in einem direkten Zusammenhang mit dem Anteil der von Armut betroffenen Personen stehe, habe auch eine Untersuchung in NRW bestätigt. Pfeifer folgert: "Jugendkriminalität ist eine Art Fieberkurve".
Während einige Zehntausende in ihrem Reichtum ersticken, muß die große Mehrheit in Deutschland kämpfen, um finanziell über die Runden zu kommen. Hunderttausende Kinder wachsen in Armut auf, Zehntausende von ihnen auf der Straße. Die Perversion der Klassengesellschaft bringt die Jugendkriminalität hervor.
Gewalt
kriminalität ist nicht nur "die ursprünglichste Form der Umverteilung", wie Engels es formulierte, also die Tatsache, daß sich Menschen nehmen was sie brauchen, obwohl die Gesellschaft es ihnen verweigert. Sie ist auch Ausdruck kaputter menschlicher Beziehungen in einer kaputten Gesellschaft. Die Gewaltkriminalität hat 1996 um 5,5% zugenommen. 41% aller Gewalttäter sind jünger als 21, nahezu der gesamte Anstieg geht auf das Konto Jugendlicher. Die desolate Ausbildungs- und Jobsituation nimmt vielen das Selbstbewußtsein. Gewaltsames Auftreten und gestohlene Lederjacken z.B. sind der Versuch, anders zu gesellschaftlicher Anerkennung zu gelangen, wie der Soziologe Wilhelm Heitmeyer meint. Vor allem aber entlädt sich in den menschlichen Beziehungen der Druck, der auf jedem in der Konkurrenzgesellschaft lastet: Angst um den Job, Streß in der Arbeit, finanzielle Nöte, Perspektivlosigkeit. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und brutale Rationalisierung in den Betrieben haben den sozialen Druck in den letzten Jahren massiv verschärft. Es kracht vor allem in den Familien: Hier geschehen drei von vier Gewalttaten.
Polizei
Da die Polizei die Ursachen von Kriminalität nicht angeht, ist sie auch mit den brutalsten Methoden nicht in der Lage, sie zu beseitigen. Im von Law-and-order-Fans gefeierten New York kommen 588 Raubdelikte auf 100.000 Einwohner, im "laschen" Hamburg 350. Vor allem Haftstrafen erweisen sich als kontraproduktiv. "Wir müssen uns damit abfinden, daß wir Polizisten die Kriminalität nicht verringern können", meint Martin Herrnkind von den Kritischen Polizisten. Die Polizei kann Kriminalität nur verschieben. Und das soll jetzt mit aller Gewalt passieren. Und weil Armut Kriminalität hervorbringt, soll jetzt mit aller Gewalt gegen Arme vorgegangen werden (siehe Kasten). Der Berliner CDU-Fraktionschef Landowsky gab den Startschuß für die Hetze auf "Ratten": "Wo Müll ist, kommen die Ratten. Und wo Verwahrlosung herrscht, ist auch Gesindel." Das ist keine Lösung für das Problem Kriminalität, sondern Terror gegen die Schwächsten in der Gesellschaft.
Schröder
Die Debatte um Kriminalität knüpft am Gefühl der Unsicherheit an, das sich in unserer Gesellschaft breit macht. Die diffuse Angst hat eine reale Grundlage. Kohls Kahlschlagpolitik hat Millionen die Zukunftsperspektive genommen und macht der Mehrheit das Leben schwer. Die Kriminalitätskampagne schürt diese Ängste und präsentiert Sündenböcke für Kohls Versagen. Schröder meint, die SPD habe zu lange über die Ursachen von Kriminalität geredet, anstatt sie zu bekämpfen. Seine Antwort ist jedoch nicht, die Ursachen zu bekämpfen, sondern abzulenken von dem wirlichen Problem in Deutschland, nähmlich Kohls unsozialer Politik.
Schröders Provokation sorgte für Wut. Aus einem SPD-Ortsverein kam die richtige Antwort. Die Vorsitzende Karin Beckmann schrieb an die SPD-Zeitung Vorwärts: "Wir wollen einen Wahlkampf, in dem es um die soziale Ungleichheit in unserem Land geht, um die fehlenden Arbeitsplätze und die falsche Steuerpolitik. Das sind die Themen, mit denen unter anderem Kriminalität bekämpft werden muß". Millionen Arbeitslose, sozial Schwache und Gewerkschafter werden ihr Recht geben.
Von Daniel Friedrich