Kommentar: Schröders Drahtseilakt

Schröder strahlte beim SPD-Parteitag in Berlin als Sieger. Aber das Terrain war nicht das seine: Aus der Entscheidungsschlacht gegen die Traditionalisten wurde nichts. Im Gegenteil: die allgemeine Stimmung gegen Banken und Multis zwang Schröder sogar, die Hand nach links auszustrecken.

Fast übertrieb er es, mit der rhetorischen Beschwörung von Gerechtigkeit und Solidarität. Schier herzzerreißend waren die Beispiele, die zeigen sollten, wie sozial er sich die Gesellschaft wünscht – und die vergessen machen sollten, daß man diesen Schröder lange ganz anders gehört hat. Dieser Schröder der Parteitagsrede wollte der Schröder der kleinen Leute sein (…) er garantiert ihnen, daß er sie vor einem Raubtierkapitalismus schützt (…) Es war nicht wenig Oskar Lafontaine in diesem neuen Schröder (…) er hat seine politischen Botschaften gewechselt wie das Chamäleon die Farbe.

So beschrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung Schröders Parteitagsrede. Dieser Imagewechsel und die Holzmann-Rettung sind der Preis für die vorübergehende Aussöhnung von Millionen Arbeitern und der SPD-Basis mit ihrem Kanzler und eine schwere Last für dessen Regierung.


Zugabe


Erstens, weil Staatsintervention jetzt überall dort gefordert wird, wo die Profitgier Arbeitsplätze bedroht. Während die Holzmänner „Gerhard! Gerhard!“ riefen, fordern nun viele andere „Zugabe! Zugabe!“

Zweitens, weil der im Schröder-Blair-Papier angekündigte Modernisierer-Kurs seine erste Niederlage erlebt hat. Die Modernisierer sind nervös, links wächst das Selbstbewußtsein: Aha, Schröder bewegt sich also doch, wenn man ihn nur hart genug tritt.

Zu diesem Druck von unten kommt drittens der Druck von oben. Die Bosse müssen im weltweit tobenden Konkurrenzkampf um Profite bestehen. EU-Zentralbank-Chef Duisenberg beschwert sich, daß Deutschland vom Pfeiler der Stabilität in Europa zum Hort der Instabilität geworden ist. Das Kapital fordert, daß Schröder tätig wird und die Arbeiter angreift.


Drahtseilakt


Diese Lage zwingt Schröder zu einem Drahtseilakt. Er versucht, die Zustimmung der Arbeiter und der Parteibasis zu nutzen, um sie einlullen und den Umbau des rheinischen Kapitalismus im Interesse der Bosse durchführen zu können.

Das heißt links reden, wie in Berlin, in einzelnen Fällen links handeln, wie bei Holzmann und gleichzeitig Sparpaket und Steuergeschenke für die Reichen durchsetzen.

Das ist ein gefährliches Spiel. Im Kontext der bei Holzmann hochbrechenden antikapitalistischen Grundstimmung werden die Arbeiter Schröder daran messen, in wie weit er seine parlamentarische Position benutzt, um gegen die Macht der Kapitalisten vorzugehen.

Jedes Zugeständnis an die Arbeiter wird deren Erwartungen verstärken. Und jedes Einknicken ihre Wut.

Die USA sind nicht nur der Motor der weltweiten Konkurrenz, sondern spätestens seit Seattle auch Schauplatz von den Anfängen dieses Prozesses. In Deutschland sind Ausdrücke wie Raubtier– oder Casinokapitalismus wieder in aller Munde.

Die Zeitung Freitag verglich die Holzmann-Stimmung mit der, die die Ostberliner Arbeiter während des Aufstandes vom 17 Juni 1953 ergriff. Dort entwickelte sich ein Arbeitskampf von Bauarbeitern gegen die Erhöhung der Produktivitätsnormen soweit, daß Hunderttausende das gesamte System in Frage stellten.


Seattle


Die Parteitagsdelegierten in Berlin forderten aber auch einen Kurswechsel in anderen Bereichen unter anderem stimmten sie für ein großzügigeres Asylrecht, gegen den Panzerdeal mit der Türkei und für das Festhalten am Atomausstieg.

Wenn Schily aber seine Abschiebepraxis weiter fortsetzt, wenn die Panzer weiterhin verkauft werden und der Castor wieder rollt, können wir mit heftigem Widerstand rechnen. Dann werden radikalisierte Jugendliche, wie in Seattle, wieder auf den Plan treten. Viele von ihnen haben keine Geduld mehr mit Rot-Grün, setzen auf außerparlamentarische Aktion und suchen Alternativen zu diesem System.

Wenn diese jungen Aktivisten sich mit den Arbeitern und deren sozialen Forderungen verbinden, werden wir unser deutsches Seattle erleben.


von Ahmed Shah

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