Marxismus konkret: Sind Sozialisten für die schwule Ehe?

Stell“ dir vor, dein jahrelanger Partner stirbt, und die Schwiegerelternkönnen dir die Gestaltung der Beerdigung verweigern. Oder dir sogar
die Teilnahme am Begräbnis untersagen! Dies ist die Realität
für Hunderttausende schwuler und lesbischer Paare. Sie teilen mitunter
Jahrzehnte ihre Wohnung und ihr Geld, werden aber vor Gericht stets als
Fremde behandelt. Sie haben bei Unglücks- und Krankheitsfällen
kein Recht auf Auskunft durch den Arzt oder die Polizei. Sie haben nicht
das Recht auf eine gemeinsame Familienversicherung bei der Krankenkasse,
oder auf gegenseitige Unterhaltsansprüche bei Trennung. Nach dem Tod
des Partners existieren keine Rentenansprüche. Auch im Arbeitsleben,
auf der Wohnungssuche oder bei internationalen Partnerschaften entstehen
gravierende Nachteile für Homosexuelle, da sie nicht als Angehörige
gelten.

Fortschritt

Die nun beschlossene „eingetragene Lebenspartnerschaft“
soll nach den Vorstellungen der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung
schwul-lesbischen Lebensgemeinschaften alle Rechte und Pflichten einer
gewöhnlichen Ehe einräumen. Dies wäre ein wichtiger Fortschritt
gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben, den wir als Sozialisten
begrüßen. Die Schaffung einer „Homo-Ehe“ ist eine Anerkennung
der Tatsache, daß Homosexualität nicht „unnatürlich“ ist.
In vielen Gesellschaften wie etwa dem feudalen Japan oder dem antiken Griechenland
waren schwule Beziehungen akzeptiert und weit verbreitet. In vielen Stämmen
unter den Ureinwohnern Nordamerikas konnten junge Männer und Frauen
die jeweils andere Geschlechterrolle annehmen und entsprechend ihre soziale
Aufgaben tauschen. In Deutschland wurde mit der Gründung des Reichs
1871 schwule Liebe unter Strafe gestellt. Die Kampagne gegen den entsprechenden
§ 175 fand ihr organisatorisches Zentrum in der Arbeiterbewegung.
Die damals revolutionäre SPD unterstützte die erste homosexuelle
Reformgruppe um Magnus Hirschfeld. Sie verband den Kampf um soziale Befreiung
mit dem Kampf gegen die bürgerliche Familienideologie. Mit der Anpassung
der SPD an den Kapitalismus ist auch ihr Verhältnis zu Fragen der
Sexualmoral opportunistisch geworden. Sie hängt sich bestenfalls an
Bürgerrechtsbewegungen dran und droht bei jeder Offensive von rechts
wieder umzukippen. So ist auch der aktuelle Fortschritt nicht das selbstbewußte
Ergebnis rot-grüner Reformpolitik, sondern Ausdruck einer massiven
Bewegung am „Boden“ der Gesellschaft.

Zurückweichen Homosexuelle zeigen seit Jahren Flagge. 1969 kam
es in der New Yorker Christopher Street zu einem ersten Aufstand von Schwulen.
Seit dem nimmt die Zahl der Teilnehmer auf den jährlichen Märschen
des Christopher-Street-Day nicht zuletzt in Deutschland beeindruckend zu.
Der Wahlsieg gegen Kohl war auch ein Sieg dieser Bewegung. Die Gefahr besteht
darin, nun den Kampf um die endgültige Gleichstellung über die
Grünen an die neue Regierung zu delegieren. Tatsächlich stellt
die Koalitionsvereinbarung bereits ein Zurückweichen vor den Konservativen
dar. Mit dem Blick auf eine wahrscheinliche Klage vor dem Bundesverfassungsgericht
wurde nämlich bewußt keine wirkliche „Ehe“ beschlossen,
sondern nur ein vergleichbares „Rechtsinstitut“. Offen bleibt
damit, wie weit die rechtliche Gleichstellung überhaupt umgesetzt
wird. An der neuen Einrichtung bleibt mit der weiterhin existierenden Unterscheidung
zur „normalen“ Ehe ein Makel, der Kräfte wie die katholische Kirche
zu einer Gegenoffensive ermuntern könnte.

Kampf

Diese Halbherzigkeit der neuen Koalition ist nicht nur ärgerlich.
Sie läßt die Masse der Schwulen und Lesben im Regen stehen.
Für einen Großteil des schwul-lesbischen Mittelstands hat sich
das Thema Unterdrückung mit der juristischen Gleichstellung zwar weitgehend
erledigt – zumindest herrscht diese Stimmung vor. Man ist rechtlich abgesichert,
hat seine elegante Nische im rosa Ghetto, wohnt in alternativen Großstadtvierteln,
freut sich an schwulen Stars in Seifenopern und kann sich dem gesellschaftlichen
Gegenwind einigermaßen entziehen. Für die Masse der Schwulen
und Lesben verbessert die Neuregelung die Kampfbedingungen, schafft aber
die wesentlichsten Aspekte der Unterdrückung – die gesellschaftliche
Ächtung in Betrieben, auf der Straße und in der Familie – keineswegs
aus der Welt. Rot-Grün befindet sich in einer seltenen Position der
Stärke. Diese Gunst der Stunde müßte man nutzen, um einen
echten „Kulturkampf“ gegen die rechten Heuchler zu entfachen.
Daß die Regierung dieser Auseinandersetzung ausweicht, erhärtet
den Verdacht, daß der eigentliche Kampf gegen Diskriminierung und
Unterdrückung auch weiterhin den Schwulen und Lesben selbst überlassen
bleiben wird.<

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