1968: Eine Welt im Aufbruch

Als 1968 in Deutschland die Studenten revoltierten, erhoben sich rund um den Globus Studenten, Arbeiter und unterdrückte Minderheiten gegen Armut, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg. Ihr Aufstand erschütterte die Welt nachhaltig und brachte unzählige weitere Bewegungen hervor. In Deutschland entstanden in den 70er Jahren Bewegungen von Frauen, Atomkraftgegenern, Antifaschisten, Lehrlingen und linken Gewerkschaftern, die sich in weiten Teilen als sozialistische Bewegungen verstanden.
Volkhard Mosler erklärt die Entstehung und Dynamik des ersten großen antikapitalistischen Aufbruchs in der Nachkriegsgeschichte.

… die Lunte gelegt

1969: Wilde Streiks der Stahl- und Bergarbeiter markieren den Aufschwung von Klassenkämpfen in der BRD


1970: Zehntausende treten bei den Jusos ein und organisieren sich in revolutionären K-Gruppen


1971: Der Stern veröffentlicht die von 374 Frauen getragene Kampagne "Ich habe abgetrieben" gegen den §218


1972: Lokale Aktionsgruppen schließen sich zum Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz zusammen


1973: Beim Autogerätehersteller Pierburg in Neuss streiken ausländische Arbeiterinnen erfolgreich gegen Niedriglöhne


1975: Proteste gegen den Bau eines AKW in Whyl (Baden) geben das Startsignal für die Anti-Atom-Bewegung. Im Folgejahr demonstrieren Zehntausende in Brokdorf


Seit Anfang des "Kalten Krieges" war die Welt in ein ideologisches Schwarz-Weiß-Schema gepreßt gewesen. Totalitärer "Kommunismus" "drüben" im Osten und "freie Welt" im Westen standen sich als starre, politische und ideologische Blöcke gegenüber. (Aus Sicht des Ostens: "Imperialismus" und "sozialistische Welt").


Dieses Schema hatte sich derart verfestigt, daß es sogar die große Mehrheit der Oppositionellen in Ost und West akzeptierte. Wer die eigenen Herrscher in Frage stellte, wechselte fast automatisch ins gegnerische Lager.


In der BRD gab es in der ersten Hälfte der 60er Jahre kaum mehr eine linke Opposition – der Antikommunismus hatte sich sogar ihrer bemächtigt.


Der stabile wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit schuf den Mythos vom krisenfreien, beherrschbar gewordenen Kapitalismus. Alte Theorien vom Klassenkampf, die von der Gültigkeit marxistischer Krisentheorie ausgingen, schienen überholt.

Imperialismus


Dieser Mythos wurde bereits 1967 durch die erste Wirtschaftsrezession der Nachkriegszeit angekratzt. Der andere Mythos, daß die USA an der Spitze der freien Welt gegen den Totalitarismus kämpften, verlor seine Glaubwürdigkeit, als US-Bomber Vietnam mit Napalm- und Splitterbomben überzogen und damit ein Regime retten wollten, an dessen Spitze ein offener Bewunderer Adolf Hitlers stand.


Der Besuch des Schahs von Persien wurde 1967 zum Lehrstück dafür, daß auch die Bundesrepublik aktiver Komplize des westlichen Imperialismus war.


Nicht nur, daß dieser Staat einen Diktator in allen Ehren hofierte, sondern er war auch bereit, friedliche Proteste gegen den Schah-Besuch mit brutaler Polizeigewalt niederzumachen und dabei den Tod des Studenten Benno Ohnesorg in Kauf zu nehmen.


In dem Maße, wie der Mythos von der "freien Welt" Risse bekam, nahmen auch Teile der Studenten die Widersprüche der herrschenden Ideologie wahr. Daß die Studenten hier am empfindlichsten vor anderen Bevölkerungsschichten reagierten, ist nicht verwunderlich: Ihr Studium bestand gerade in der Aneignung der bestehenden Ideologie, um diese später weitergeben zu können.

BILD lügt

Die Massenmedien und insbesondere der Springer-Konzern mit der Bild-Zeitung halfen dem Staat, die Studentenbewegung zu kriminalisieren.


Nach dem Mord an Benno Ohnesorg log BILD: "Gestern haben in Berlin Krawallmacher zugeschlagen, die sich für Demonstranten halten. Ihnen genügt der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen. Sie schwenken die rote Fahne und sie meinen die rote Fahne."


Am 7. Februar 1968, zwei Monate vor dem Dutschke-Attentat, erschien Bild mit der Schlagzeile: "Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!"


In dem Artikel war Rudi Dutschke im Profil. abgebildet. Im Text heißt es: "Man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei mit ihren Wasserwerfern überlassen."


Vor dem Sturm


Die ersten Studentenunruhen waren bereits 1964 in Berkeley, Kalifornien ausgebrochen. Dabei war es um "Free Speech", das heißt um die Wahrnehmung demokratischer Rechte durch die kritischen Minderheiten auf dem Campus der Universität gegangen. Drei Jahre später kam es in Berlin, Italien und Frankreich zu größeren Demonstrationswellen von Studenten.


Bereits die erste große Protestwelle im Anschluß an die Erschießung von Benno Ohnesorg hatte nicht nur zu einer Verbreiterung der Proteste, sondern auch zu einer Radikalisierung des "Sozialistischen Deutschen Studentenbundes" – SDS – geführt.


Es gärte international. Trotzdem war bei der Jahreswende 1968 nicht vorherzusehen, was noch kommen würde.


Die Neujahrsoffensive der antiimperialistischen Vietcong-Guerillas in Südvietnam (bekannt als "Tet-Offensive") markierte eine Wende im Vietnam-Krieg. Der Vietcong griff mit einem Male sämtliche US-Stützpunkte in Südvietnam an und eroberte Teile der amerikanischen Botschaft in Saigon und die gesamte alte Hauptstadt des Landes, Hue´.


Die Amerikaner konnten zwar mit großen eigenen Verlusten schließlich die Kontrolle über Vietnams Städte zurückgewinnen.


Die Tet-Offensive des Vietcong führte in den Metropolen des Westens zu neuen Protesten gegen den Krieg des US-Imperialismus in Südvietnam.

Der Sturm bricht los


In den USA selbst kam nun zum Protest der Studenten die Rebellion der schwarzen Ghettos hinzu. Der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King folgten militante Proteste und Ausschreitungen im ganzen Land. Viele Schwarze blicken nun auf die sich "marxistisch-leninistisch" nennende Black Panther Party.


In Rom, Madrid, Barcelona, Berlin, London und New York kam es zu massenhaften Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Westberlin verhängte die sozialdemokratische Stadtregierung ein allgemeines Demonstrationsverbot gegen den SDS.


Daraufhin rief der SDS zu einem internationalen Solidaritätskongreß gegen den Vietnam-Krieg auf. 20.000 Studenten folgten dem Aufruf. Unter roten Fahnen, den Portraits von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Ho Chi Minh demonstrieren sie durch das "Schaufenster des freien Westens" gegen den US-Imperialismus.


Die Proteste eskalierten, als Joseph Bachmann, Bildzeitungsleser und Nazi-Sympathisant, Rudi Dutschke mit einem Kopfschuß lebensgefährlich verletzte, an dessen Spätfolgen er zehn Jahre später starb. 100.000 beteiligten sich an den Osterunruhen, die sich gegen Einrichtungen des Springerkonzerns richteten. Der Staatsmacht gelang es am Ostermontag mit Polizei und Bundesgrenzschutz den Abbruch der Aktionen zu erzwingen.


Prager Frühling


Die Unruhen beschränkten sich nicht mehr nur auf Westeuropa. In Warschau demonstrierten Studenten gegen die Bestrafung linker Oppositioneller. In allen Universitätsstädten kam es zu Straßenkämpfen.


In der Tschechoslowakei versprach eine neue kommunistische Führung Reformen. Tausende Studenten forderten, daß die Führung viel weiter gehen sollte.


Als im August russische Truppen in Prag einmarschierten, die Proteste niederschlugen und die Regierung kidnappten, bis diese eine Beendigung des Reformweges versprochen hatten, war überdeutlich, daß der Mythos von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Systeme in Ost und West endgültig zerbrochen war.


Die westlichen Medien beklagten das Schicksal der tschechischen Studenten, die sich den Panzern entgegenstellten auf den Straßen von Prag entgegenstellten. Aber die gleichen Medien waren gezwungen zu berichten wie in Chicago Studenten mit ungeheuerlicher Brutalität zusammengeschlagen wurden, als sie gegen die Ernennung eines Pro-Kriegs-Kandidaten der Demokratischen Partei zur Präsidentschaftswahl protestierten.

Pariser Mai


Daß man die Gesellschaft nicht reformieren, sondern nur umstürzen konnte, wurde im Laufe des Jahres 68 vielen Studenten klar. Der Pariser Mai zeigte welche Kraft dazu imstande sei.


Wie aus heiterem Himmel war in Frankreich eine Studentenbewegung entstanden, die nach der Ermordung eines Studenten drei Tage und Nächte lang den Kampf mit der paramilitärischen Polizei CRS ausnahm. Die Solidarität in der Bevölkerung und die skandalöse Brutalität der Polizei führten dazu, daß die Gewerkschaftsführer nach einigem Hin und Her zu einem eintägigen Solidaritätsstreik aufriefen.


Einmal von der zögerlichen Führung zur Aktion gerufen, blieben die Arbeiter nicht beim Warnstreik stehen. Innerhalb weniger Tage entwickelte sich der Streik zu einer Welle von Betriebsbesetzungen mit eigenen Forderungen der Arbeiter. Was als Studentenprotest angefangen hatte, hatte sich zum größten Generalstreik der Geschichte entwickelt. Für 14 Tage war das Land völlig gelähmt und die Regierung in Verzweiflung gestürzt.



Damit war die explosive Mischung, die aus der Revolte einen internationalen Aufschwung der revolutionären Linken machte, komplett. Die durch den Faschismus und Stalinismus zerstörte Tradition der revolutionären Linken in Deutschland war neu begründet.


Die Rolle des SDS

"Der SDS hatte einen entscheidenden Anteil daran, daß aus dem bloß antiautoritären, radikaldemokratischen Protest eine antikapitalistische Bewegung wurde, aus der schließlich eine organisierte revolutionäre Linke unabhängig von Reformismus und Stalinismus Moskauer Prägung entstand.


Als ich 1963 dem Göttinger SDS beitrat, war dieser gerade aus der SPD ausgeschlossen worden und mit 400 Mitgliedern bundesweit politisch völlig isoliert. Seminarmarxismus war die vorherrschende "Praxis". Unter dem maßgeblichen Einfluß einer "aktionistischen" Gruppe unter Rudi Dutschke gelang es dem SDS, den ökonomischen Protest gegen die Hochschulkrise mit dem politischen Kampf gegen antidemokratische Strukturen zu verbinden und eine beträchtliche Minderheit der so entstehenden "außerparlamentarischen Opposition" in eine sozialistische Richtung zu führen.


Dabei verwandelte sich der SDS selbst von einer links-sozialdemokratischen Gruppierung in eine revolutionäre Kraft, die 1968 dann unter dem Einfluß des Generalstreiks in Frankreich den Klassenkampf der Arbeiter wiederentdeckte. Revolution und Arbeiterklasse waren die beiden politischen Prinzipien, die der SDS in seiner Schlußphase für sich reklamierte und an die alle linksradikalen Fraktionen der siebziger Jahre anknüpften."


Volkhard Mosler, seit 1963 Mitglied und 1968 in der Leitung des Frankfurter SDS

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