Vor zehn Jahren begann in Mexiko der erste Aufstand gegen die neue Weltordnung. Seine Geschichte und Folgen beschreibt Jan Maas.
Standpunkt: Die Angst vor der MachtDer Aufstieg der Zapatisten hat Aktivisten weltweit inspiriert. Viele von ihnen folgen ihrer Idee, die "Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen". |
Neujahr 1994: Champagnerkorken knallen. Während Mexikos Bosse auf das neue Jahr anstoßen, besetzen hunderte Guerillakämpfer der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN einige Provinzstädte im südlichen Bundesstaat Chiapas. Sie nennen sie "befreite Gebiete" und fordern Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie.
An diesem Tag tritt das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft. Die Herrschenden in Mexiko erhoffen sich von der Freihandelszone bessere Beziehungen zu den großen US-Konzernen. Die US-Bosse erwarten größere Profite.
Bauern und Landarbeiter sehen im Freihandel eine Fortsetzung der Unterdrückung, die die Zapatisten in einem ihrer ersten Texte beschreiben: "Uns wurde die grundlegendste Bildung verweigert, um uns als Kanonenfutter zu gebrauchen und die Reichtümer aus unserem Land zu holen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass wir hier vor Hunger und aufgrund heilbarer Krankheiten sterben; dass wir nichts haben, gar nichts, kein würdiges Dach, kein Land, keine Arbeit, keine Gesundheit, keine Bildung; ohne Recht, unsere Gemeindeverwaltung frei und demokratisch zu wählen, ohne Unabhängigkeit von Fremden, ohne Frieden und Gerechtigkeit für uns und unsere Kinder. Aber heute sagen wir Basta! Es reicht!"
Chiapas ist eine Region der Gegensätze. Der Bundesstaat verfügt über die zweitwichtigsten Erdölvorkommen des Landes und produziert 40 Prozent der Elektrizität in Mexiko, aber nur ein Drittel der Haushalte dort verfügen über elektrisches Licht.
Mehr als die Hälfte der Menschen ist unterernährt. Nur die Hälfte kann lesen und schreiben. Den Ureinwohnern geht es besonders schlecht. Die Unterstützung für die EZLN und Subcomandante Marcos, einen ihrer Anführer, ist riesig.
In ganz Mexiko herrscht große Armut: 40 Millionen Mexikaner leben unterhalb der Armutsgrenze. Der Aufstand der EZLN ist ein Protestschrei der Unterdrückten in Lateinamerika. Der mexikanische Anwalt Francisco Barcenas schreibt zur 10-jährigen Wiederkehr des Aufstands über die Zapatisten, sie "haben uns aus der Lethargie geholt". Er spricht von "einer Bewegung, die uns die Hoffnung auf ein besseres Leben zurückgegeben hat".
Der damalige mexikanische Präsident Salinas beantwortete die Bewegung der Zapatisten mit Waffengewalt. Nach großen Protesten in der Hauptstadt muss er schließlich die Armee abziehen. Der Innenminister und der Gouverneur von Chiapas treten zurück, aber die Regierung macht keine inhaltlichen Zugeständnisse.
Im Sommer 1994 bringen die Zapatisten mehr als 6.000 Menschen zu einer weltweiten Konferenz in den Urwald von Chiapas. Kurz darauf rutscht Mexiko in eine tiefe Krise. Im Dezember wertet der neue Präsident Zedillo die Landeswährung Peso ab. Die Sparguthaben der Mexikaner sind nur noch die Hälfte wert.
Im Februar 1995 befiehlt Zedillo einen Angriff auf die Zapatisten. Diese ziehen sich in die Berge zurück und lassen den Angriff ins Leere laufen.
Wieder zwingen Massenproteste in der Hauptstadt die Regierung zum Rückzug. Hunderttausende rufen: "Wir sind alle Zapatisten!"
Mexiko ist in Aufruhr. Aus Angst vor einer Radikalisierung der Proteste wollen die staatlichen Gewerkschaften die Demo am 1. Mai absagen.
Daraufhin organisiert die Gewerkschaftsbasis die Demo, an der 200.000 Menschen teilnehmen. Die Lage in Chiapas selbst bleibt relativ ruhig.
Unter der Vermittlung eines Bischofs einigen sich die Zapatisten und die Regierung 1996 auf das Abkommen von San Andres. Die Einigung soll lokale Autonomie für die Ureinwohner bringen, außerdem neue Bildungsrechte, mehr soziale und kulturelle Rechte.
Die Regierung verpflichtet sich, "die Armut, die Ausgrenzung und die unzureichende politische Beteiligung der Millionen von indigenen Mexikanern" zu beseitigen. Die Regierung Zedillo setzt das Abkommen nicht um und hält die militärische Belagerung der zapatistischen Gemeinden aufrecht. In deren Schatten fahren Paramilitärs, die von Großgrundbesitzern finanziert werden, immer wieder Angriffe.
Die Zapatisten durchbrechen ihre Isolation 1997. 1.111 Vertreter marschieren anlässlich der Parlamentswahlen nach Mexiko-Stadt und werden mit Jubel empfangen.
Im folgenden Jahr organisieren die Zapatisten ein Volksbegehren, das die Regierung zwingen soll, das Abkommen von San Andres umzusetzen. Drei Millionen Menschen nehmen an der Abstimmung teil, 95 Prozent davon unterstützen das Abkommen von San Andres.
Die Zapatisten und ihre Unterstützer stürzen die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die 71 Jahre lang regiert hat, in eine Krise. Im Dezember 2000 kommt der neue Präsident Fox an die Macht und verspricht, die Forderungen der Zapatisten umzusetzen.
Im Frühjahr 2001 verleihen die Zapatisten mit einem Marsch auf Mexiko-Stadt ihren Forderungen Nachdruck.
200.000 Menschen empfangen die Kämpfer. Trotz der großen Unterstützung kehren sie danach in den Urwald zurück.
Kurz darauf übernimmt das Parlament eine völlig verwässerte Version des Abkommens. Die Zapatisten ziehen sich aus allen Verhandlungen zurück und schweigen bis zur Gründung der Zeitung Rebeldia im November 2003. Die Armee hält den Belagerungsring immer noch geschlossen. 38 eingeschlossene Kommunen leben von Hilfen europäischer und US-amerikanischer Organisationen.
Den durchschnittlichen Reallöhne in Mexiko sind in den letzten 10 Jahren um 20 Prozent gefallen. Hunderttausende Bauern mussten ihr Land verlassen. Das Land muss inzwischen Mais zur Herstellung von Tortillas importieren.
2003 haben Bauern gegen ihre fortschreitende Verarmung protestiert. Die Gewerkschaften drohten mit Generalstreik. Diese Proteste waren Teil der Bewegung, die im September die Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation WTO in Cancun gestoppt hat.