Das Imperium ist am Boden

Die USA könnten zum Abzug aus Irak gezwungen sein. Das würde die Welt verändern, erklärt der US-amerikanische Aktivist Jonathan Neale.


2.500 US-Soldaten sind seit dem Einmarsch in den Irak durch den irakischen Widerstand getötet worden, 18.500 wurden verletzt. Die Sterblichkeitsrate der irakischen Bevölkerung ist seit dem US-Angriff um das 58-fache gestiegen – über 100.000 Iraker starben seit März 2003

Wir stehen kurz vor einem Wendepunkt der Geschichte. Die USA stecken in Irak in der Sackgasse und die meisten US-Amerikaner sind gegen den Krieg.

Es gibt eine gute Chance, dass die Iraker die USA zwingen können abzuziehen. Eine solche Niederlage hätte weltweit große Auswirkungen.

Viele glauben, das US-Imperium sei zu stark, um gebrochen zu werden. Sie glauben auch, dass fast alle US-Amerikaner konservativ und nicht in der Lage seien, die Regierung zu einer anderen Politik zu zwingen.

In Wirklichkeit verändert sich die politische Landschaft in den USA zurzeit sehr schnell. Das Land ist seit einigen Jahren tief gespalten. Die Angriffe vom 11. September hatten das konservative Lager gestärkt, aber diese Stärke ist im Sande der irakischen Wüste verlaufen.

In Großbritannien hat die Regierung den Krieg vor allem mit der Lüge von irakischen Massenvernichtungswaffen gerechtfertigt. In den USA damit, dass die Soldaten mit Blumen willkommen geheißen werden würden.

Den Amerikanern werden viele Informationen vorenthalten, aber sie sind nicht dumm. Sie wissen jetzt, dass sie belogen wurden.

Während der Präsidentschaftswahlen 2004 wurde dem Demokratischen Kandidaten Kerry von seinen Beratern empfohlen, den Krieg abzulehnen, um die Wahl zu gewinnen. Doch Multimillionär Kerry blieb seiner Klasse treu, unterstützte den Krieg und verlor gegen den obersten Kriegstreiber Bush.

Heute hält eine große Mehrheit der Amerikaner den Krieg für einen Fehler. Nicht alle sind für einen sofortigen Truppenabzug, aber sie erwarten ihn im Laufe der nächsten zwei Jahre.
Deshalb hat die Bush-Regierung angekündigt, die Zahl der Soldaten in Irak noch dieses Jahr zu senken. Doch das würde allen Irakern zeigen, dass die USA geschwächt sind und die Widerstandskämpfer ermutigen.

Die verbleibenden US-Soldaten würden zögern, ihr Leben für eine verlorene Sache zu riskieren. Eine vollständige Niederlage der US-Armee würde wahrscheinlicher. Deshalb hat Bush von Truppen-Reduzierung gesprochen, sie aber nie umgesetzt.

Dieses politische Klima hat die militärische Krise der USA in Irak verschärft. Die Hälfte der dort stationierten Soldaten gehören zur Nationalgarde oder Reserve. Diese Männer und Frauen hatten nie erwartet, in einen Krieg geschickt zu werden. Sie sind älter als die Berufssoldaten und haben Familien. Wenn sie in die USA zurückkehren, verlassen die meisten die Armee.

Kaum jemand tritt in Nationalgarde oder Reserve ein. Auch die anderen Teile der Armee bekommen wenig neue Mitglieder, weil die Eltern junger Männer und Frauen strikt dagegen sind.

Das Verteidigungsministerium hat die Aufnahmeanforderungen bereits gelockert, so dass auch Menschen mit leichten Lernschwierigkeiten eintreten können. Doch der Krieg ist so unbeliebt, dass auch dass nicht viel nützt.

Die Generäle erkennen ihre Probleme. Aus vertraulichen Quellen geht hervor, dass ranghohe britische und US-amerikanische Offiziere den Abzug wollen. Dasselbe gilt für ihre Soldaten und Familien.

Die Unzufriedenheit zieht in den USA weitere Kreise. Im April nahm ich mit 350.000 Menschen an einer Antikriegsdemo in New York teil.

Jemand trug ein Schild, auf dem stand: „Nenn mir eine Entscheidung der Regierung, die der Mehrheit der Amerikaner zugute kommt.“ Tatsächlich gibt es keine einzige.

Die Menschen haben die Nase voll von einer Regierung der Reichen für die Reichen. Die Katastrophe in New Orleans nach dem Hurrikane Katrina machte den meisten klar, wie Bush zu seiner Bevölkerung steht.

Außerdem gibt es die Bewegung für die Rechte der Ausländer. In derselben Woche, in der ich in New York demonstrierte, zogen 1 Million Menschen in Los Angeles auf die Straße. Zwei Wochen vorher hatten eine halbe Million Menschen in Dallas, angeblich die konservativste Stadt der USA, demonstriert.

Diese Bewegung begann mit Einwanderern aus Lateinamerika. Mittlerweile beteiligen sich Menschen aus der ganzen Welt. Heute sind mehr Lateinamerikaner für ihre Rechte aktiv, als es Schwarze auf dem Höhepunkt ihrer Bewegung in den 60er Jahren waren.

Die Bewegung spricht von Streiks, Gewerkschaften und der Arbeiterklasse. Die Lateinamerikaner sind die ersten Einwanderer, die auch in der zweiten Generation ihre Muttersprache sprechen. Noch wichtiger ist: Sie sind die ersten, die aus ihrer Heimat den Hass auf den US-Imperialismus mitbringen.

Das bedeutet nicht, dass sich schon alles verändert hat. Aber die herrschende Klasse fühlt den Boden unter ihren Füßen wackeln.

In den vergangenen 100 Jahren haben Massenbewegungen in den USA – Gewerkschaften, die Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und die Frauenbewegung – wichtige Siege errungen. Das ist ihnen nicht durch Wahlen gelungen, sondern indem sie die Politiker zwangen, ihre Forderungen zu erfüllen.

Das gelingt immer, wenn die Herrschenden fürchten, die Kontrolle über das Denken und Handeln der Menschen zu verlieren. Dann sind Regierungen zu Zugeständnissen bereit. Der Abzug der Armee aus Irak könnte ein solches erzwungenes Zugeständnis sein.

Die herrschende Klasse der USA ist gespalten darüber, was sie in Irak tun soll. Sie können den Krieg nicht gewinnen, aber ein Abzug der Armee hätte für die Herrschenden verheerende Folgen.

Wenn die USA den Irak verlassen, werden sie die Kontrolle über das irakische Öl verlieren. Saudis und Ägypter könnten ihre Diktaturen stürzen, weil ihre Unterstützung des US-Kriegs nichts gebracht hat, außer den Tod hunderttausender muslimischer Brüder und Schwestern.
Dadurch würden die USA ihre militärische Kontrolle über den gesamten Nahen Osten und sein Öl verlieren. Auch ein Abzug aus Afghanistan wäre unvermeidlich.

Nach der Niederlage in Vietnam 1975 wagte es die US-Regierung 15 Jahre nicht, den Amerikanern einen neuen Krieg zuzumuten. In den 80er Jahren meldeten sich so wenige zur Armee, dass Kleinkriminelle, die zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurden, das Recht bekamen, stattdessen drei Jahre in der Armee zu dienen.

Auch nach einem Abzug aus Irak könnte die US-Regierung jahrelang keinen Krieg mehr führen. All dies käme einer ernsthaften Schwächung der Macht der USA gleich. Das wiederum würde die US-Dominanz der Weltwirtschaft in Frage stellen.

Es ist auch möglich, dass einige Staaten und Konzerne ihre Finanzreserven statt in US-Dollar in Euro anlegen. Dann wäre der Dollar nicht mehr die weltweite Leitwährung. Das ist bisher unwahrscheinlich, aber die herrschende Klasse der USA macht sich begründete Sorgen darüber.

Zudem würden die Auswirkungen einer US-Niederlage in Irak über die US-Wirtschaft hinausgehen. Denn Israels militärische Stärke hängt vollständig von der Militär- und Finanzhilfe der USA ab. US-feindliche Regierungen im Nahe Osten könnten Israel bedrohen und die USA wären nicht in der Lage einzugreifen.

Deshalb versucht die israelische Regierung jetzt, die palästinensische Widerstandsbewegung entscheidend zu schwächen, indem sie die Palästinenser mit Mauern in den besetzten Gebieten einpfercht. Die USA drohen Iran mit Krieg, um ihre Herrschaft über den Nahen Osten zu sichern, so lange sie noch eine kleine Chance dazu haben.

Die US-Regierung ist verzweifelt genug, um alles auf eine Karte zu setzen. Doch falls sie tatsächlich die Entscheidungsschlacht gegen die Menschen im Nahen Osten sucht, ist eine Niederlage wahrscheinlich.

Eine Niederlage der US-Armee im Nahen Osten wäre auch eine Niederlage des Neoliberalismus. Die Amerikaner wissen, dass der Krieg im Interesse der Konzerne geführt wird. Wenn der Krieg verloren geht, würden viele Menschen zu Recht die Hoffnung bekommen, dass die Konzerne auch in den USA und auf der ganzen Welt geschlagen werden können.

Noch können sich die meisten Menschen keine Alternative zum Neoliberalismus vorstellen, obwohl er auf der ganzen Welt zu Privatisierungen, Gebühren für öffentliche Dienstleistungen, Kürzung von Renten, gebrochenen Gewerkschaften und sinkendem Lebensstandard geführt hat.

Doch eine Niederlage der Konzern-Interessen in Irak würde für viele Menschen die Frage nach einer Alternative zur Herrschaft der Konzerne aufwerfen. Wenn die Iraker gegen die US-Regierung gewinnen, werden die Menschen in den USA überlegen, ob nicht auch sie ihrer Regierung oder ihrem Konzern die Stirn bieten können.

Eine Niederlage der USA in Irak würde Schleusentore öffnen. Die herrschende Klasse der USA weiß das. Sie gibt es nur nicht öffentlich zu.

Viele Politiker und Konzern-Vorstände können sich nicht vorstellen, wie ihre Niederlage aussehen würde. Sie erlauben sich nicht, daran zu denken. Aber sie spüren, dass sie diese Niederlage der Luft liegt.

Die Reichen und Mächtigen in anderen Ländern sind ebenfalls besorgt. Sie mögen die Übermacht der USA nicht und möchten mit ihr konkurrieren.

Aber eine globale Niederlage des Neoliberalismus wäre auch eine Niederlage für sie. In Großbritannien und Griechenland, in Indien, Pakistan und jetzt auch in Deutschland kann man sehen, wie die Herrschenden sich auf Seite der USA stellen.

Wir können nicht sicher sein, dass die USA geschlagen werden und weltweit die sozialen Bewegungen den Sieg davon tragen. Denn unsere Seite ist stark in ihrer Leidenschaft, aber schwach im Verständnis. Die Herrschenden könnten auch gegen soziale Bewegungen mit blutiger Gewalt vorgehen – und wir könnten verlieren.

Aber es ist sicher, dass das US-Imperium in einer ernsten Krise steckt und dass der Neoliberalismus deswegen gefährdet ist. Die Reichen und Mächtigen wissen das und führen diskutieren, wie sie reagieren sollen. Je länger sie keine Lösung haben, desto größer wird der Raum für unseren Widerstand. Und nach einer Lösung sieht es wahrlich nicht aus.

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