Die Kraft des „Nein“

WASG und Linkspartei.PDS streben die Bildung einer gemeinsamen Linken an. Christine Buchholz argumentiert, dass diese Partei ihre Stärke nicht aus einer Kooperation mit der SPD, sondern aus einer angriffslustigen Oppositionspolitik bezieht.


Christine Buchholz lebt in Berlin und ist Mitglied des Bundesvorstandes der WASG. Des Weiteren engagiert sie sich im Rahmen der Initiative für ein Sozialforum in Deutschland an der Vorbereitung der Europäischen Sozialforen. Sie ist Mitglied von Linksruck.

Bei seiner Rede auf dem Wahlparteitag der Linkspartei.PDS sprach Oskar Lafontaine davon, dass sein Auftritt als ehemaliger Vorsitzender der SPD ein historisches Datum sei.

Historisch ist zum einen, dass sich in Deutschland eine neue Kraft links von der SPD gegründet hat, die bei der Bundestagswahl sogleich ihren ersten Erfolg mit 8,7% der Stimmen und dem Einzug von 54 Abgeordneten in den Bundestag feierte, und zum anderen, dass mit Lafontaine ein ehemaliger Vorsitzender der Sozialdemokratie zur Galionsfigur der politischen Neuformierung wird.

Noch ist offen, wie die neue Linke aussehen wird. Die Debatte darüber hat bereits begonnen. Die Mitglieder des Linkspartei.PDS-Parteivorstandes, Elke Breitenbach und Katina Schubert, haben beispielsweise ein Papier mit dem programmatischen Titel „Wenn wir den Politikwechsel 2009 wollen, müssen wir zum Sprung bereit sein“ veröffentlicht. Hier schreiben sie: „Wollen wir die Rolle der Fundamentalopposition einnehmen und in erster Linie dem außerparlamentarischen Protest eine parlamentarische Stimme geben? Oder wollen wir unsere Rolle als Oppositionspartei strategisch nutzen, um spätestens 2009 einen ‚Richtungswechsel der Politik hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung und ziviler Konfliktlösung’ […] auf Bundesebene herbeizuführen. Dafür sind gesellschaftliche und parlamentarische Mehrheiten nötig, die auch genutzt werden müssen. D.h. als logische Konsequenz, dass die Linkspartei.PDS bereit sein muss, bei entsprechender inhaltlicher Übereinstimmung auch Regierungsverantwortung zu übernehmen.“1

Auch Gregor Gysi und Oskar Lafontaine orientieren darauf, dass die Linke 2009 regierungsfähig sein muss. Stärker als Breitenbach und Schubert betonen sie aber, dass sich die SPD in den Jahren der Großen Koalition nach links entwickeln muss. Lafontaine will das „gesellschaftliche Klima“ verändern. Dann hätte die Linkspartei die Chance, die Politik der SPD direkt in Richtung „soziale Gerechtigkeit“ zu beeinflussen. Wenn wir unsere Wähler nicht enttäuschen wollen, „müssen wir in den kommenden vier Jahren darum kämpfen, dass sich das gesellschaftliche Klima […] so ändert, dass die Beteiligung der Linken an der Bundesregierung wie in anderen europäischen Staaten zur Selbstverständlichkeit wird.“2 Er geht davon aus, dass „allein die Anwesenheit einer starken Parlamentsfraktion“ (der Linken) dazu führt, dass eine große Koalition „daran gehindert wird, den Sozialabbau fortzusetzen.“3

Dies ist keine erfolgversprechende Orientierung, um die Kräfteverhältnisse in Deutschland so zu verändern, dass soziale Angriffe gestoppt und Alternativen zum Neoliberalismus möglich werden.

Die SPD wird sich nicht nach links entwickeln

Die Hoffnung, dass sich die SPD unter dem Druck einer Linksfraktion im Bundestag davon abbringen lassen wird, den Kurs der Agenda 2010 weiter zu verfolgen, ist aus drei Gründen trügerisch:

1. Die Hinwendung der SPD zur Agendapolitik war kein Betriebsunfall

Der Aufschwung und die Krisen der SPD in den letzten 140 Jahren folgen einem Schema. In den Aufschwungzeiten des Kapitalismus bildet sich eine Grundlage für die Forderungen nach Reformen, es entsteht eine starke Strömung des Reformismus.4 In den Zeiten von Wirtschaftskrise oder Stagnation gerät diese ebenfalls in eine Krise und es kommt zum Aufschwung von klassenkämpferischen Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung.
Zuletzt erlebte der Reformismus seinen letzten großen Aufschwung während des Nachkriegsbooms und der Politik der Sozialpartnerschaft von 1945 bis Mitte der 70er Jahre. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Reformismus der SPD zu einem Reformismus ohne Reformen gewandelt.
Während der Adenauer-Ära (1949-63) ermöglichte ein langer Wirtschaftsaufschwung den Ausbau des Sozialstaats. Eine wieder erstarkte Gewerkschaftsbewegung nötigte die Konservativen zu einer Reihe weit reichender sozialer Reformen.5 Die SPD-Wahlprogramme dieser Zeit sind Dokumente eines ungebrochenen Vertrauens in die Transformationsmöglichkeit des Kapitalismus zu einem Volkskapitalismus mit gleichen Lebenschancen für alle. In dieser Zeit erlebte die Politik der Sozialpartnerschaft in den Gewerkschaften einen Höhepunkt.
Doch das Ende des „Wirtschaftswunders“ und die Rückkehr von Stagnationstendenzen und Krisen seit 1973 bis heute, entzog dem Reformismus mehr und mehr den wirtschaftlichen Boden.
Die SPD war selbst nur kurze Zeit, in der ersten Regierung Willy Brandts (1969-72), als führende Regierungspartei für den Ausbau sozialstaatlicher Maßnahmen verantwortlich. 1974 verkündete Brandts Nachfolger Helmut Schmidt, nur noch „Reformen, die nichts kosten“ in Angriff nehmen zu wollen.
In seinen letzten beiden Regierungsjahren ging Schmidt dazu über, den Sozialstaat zu demontieren. Die weltwirtschaftlichen Entwicklungen, der Druck des Kapitals und schließlich auch die „Einsicht“ in die „Notwendigkeit der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ seitens der SPD-Regierung führten zu einem Rechtsruck der Partei.
Bereits Ende der 70er Jahre griffen die wirtschaftspolitischen, „keynesianischen“ Konjunkturinstrumente nicht mehr. Zwei „Zentrale Investitionsprogramme“ wirkten nur kurzfristig und führten nicht zu einem nachhaltigen, selbsttragenden Aufschwung. Als die gestiegene Staatsverschuldung die deutsche Inflationsrate über die der wichtigsten Konkurrenten stiegen ließ, machte die deutsche Exportwirtschaft Druck auf die Regierung, die daraufhin ihren Keynes über Bord warf und mitten in der Krise die Staatsverschuldung senkte, indem sie die Sozialausgaben kürzte und damit die Krise anheizte.
Fritz Scharpf – Vordenker der so genannten „Modernisierer“ in der SPD – arbeitete später Schmidts Scheitern theoretisch auf und formulierte die Grundlagen für die rechtere sozialdemokratische „Angebotspolitik“: „Anders als in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten gibt es derzeit keine plausible keynesianische Strategie, mit der im nationalen Rahmen die sozialdemokratischen Ziele verwirklicht werden könnten, ohne dass dadurch die Funktionsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie verletzt werden.“ Aus dieser an sich richtigen Analyse wurden – aus sozialdemokratischer Sicht – allerdings selbstmörderische Konsequenzen gezogen. Scharpf fordert die Sozialdemokratie auf, eine „auf die Steigerung der Unternehmenserträge gerichtete […] sozialdemokratische Angebotspolitik“ zu entwickeln. Eine solche „sozialdemokratische Angebotspolitik“ müsse „immer die Einkommensposition der Klasse der Kapitalbesitzer im Verhältnis zur Klasse der Arbeitnehmer“ begünstigen.6
Der Abschied einer ganzen SPD-Generation von den Lehren Keynes‘ war eine Folge des Scheiterns Helmut Schmidts. Schröders Agendapolitik war nur die konsequente Umsetzung der „sozialdemokratischen Angebotspolitik“.
Die seitdem stagnative Grundtendenz des Kapitalismus, besonders in den letzten zehn Jahren, brachte die Kapitalseite dazu, die „Sozialpartnerschaft“ Stück für Stück aufzukündigen und soziale Rechte, erkämpfte Lohn- und Arbeitsstandards in Frage zu stellen und zurückzunehmen. Sämtliche Bundesregierungen setzten die Forderungen der Unternehmer mit um.
Weil es keine Anzeichen für ein Ende der Stagnationskrise gibt, ist eine Abkehr der SPD von ihrer neoliberalen Grundhaltung nicht in Sicht.

2. Die SPD spielt eine wichtige Rolle für die Herrschaftsinteressen des Kapitals

Durch ihre enge Verflechtung mit dem Gewerkschaftsapparat kann die SPD eine disziplinierende Wirkung auf die Gewerkschaften ausüben. Dieses Phänomen war deutlich spürbar unter der rot-grünen Regierung. So haben die Gewerkschaftsführungen mit Rücksicht auf die SPD darauf verzichtet, die Proteste gegen Hartz IV in eine Massenbewegung gegen Sozialabbau umzuwandeln.
Dasselbe gilt auch für eine Große Koalition. Die Aufgabe der SPD in einer solchen Konstellation hatte der Industriekurier, Vorläufer des Handelsblatts, 1967 zu Beginn der ersten Großen Koalition (1966-69) sehr treffend dargestellt. Die Regierungsbeteiligung der SPD falle zusammen mit der „beginnenden Krise des Sozialstaates“. Es sei „ihr Programm, das sich jetzt als undurchführbar erweist, das Programm der SPD, das aber die CDU ins Werk gesetzt hat, um dem großen Konkurrenten den Wind aus den Segeln zu nehmen […] Die engen Verbindungen zwischen SPD und den Gewerkschaften, die bisher als Einfluss der Gewerkschaften auf die Sozialpolitik der SPD in Erscheinung traten, müssen jetzt umgekehrt die Einflussnahme der SPD auf die Gewerkschaftsführer ermöglichen“.7
Der Vorteil für das Kapital ist vom Industriekurier klar benannt, der „Nachteil“ ist, dass die „soziale Gerechtigkeit“ bei den bevorstehenden Angriffen auf die sozialen Rechte eine gewisse Rolle spielen muss.

3. Politischer und sozialer Druck von außen kann die SPD nicht nachhaltig nach links bewegen

Gesellschaftlicher Druck kann die SPD zu Konzessionen zwingen. Die Fähigkeit der Sozialdemokratie, sich am eigenen Schopf durch linke Rhetorik oder einzelne Aktionen aus dem Sumpf zu ziehen – wie im Wahlkampf 2005 oder bei der spektakulären Rettung des Holzmann Konzerns 1999 – darf nicht unterschätzt werden. Eine substantiell andere Politik wird es allerdings nur rhetorisch, allenfalls noch symbolisch geben. Daran wird auch ein Generationenwechsel nichts ändern.
Dies zeigt auch ein Blick in die lange Geschichte der Partei. Schon mehrfach hat sich die SPD in der Vergangenheit gegen politische Zwänge und Verwerfungen abgeschottet. In Situationen der gesellschaftlichen Linksentwicklung oder Polarisierung hat die Parteiführung immer wieder unnachgiebig gegen Linksabweichler gehandelt. Sie wurden nur solange geduldet, wie sie keinen bestimmenden Einfluss auf die Kommandohöhen der Partei gewannen. Dabei ist die Parteiführung weder vor Ausschlüssen noch vor Spaltungen, noch vor Rückschlägen bei Parlamentswahlen zurückgescheut. Das haben die Gründer der WASG, Klaus Ernst und Thomas Händel, erleben müssen, als sie im Juni 2004 aus der SPD ausgeschlossen wurden.
Bereits 1917 als die gesellschaftliche Stimmung immer deutlicher gegen den Ersten Weltkrieg war, schloss die Parteiführung eine Gruppe bekannter Reichstagsabgeordneter aus, weil diese zuvor zu einem Oppositionstreffen gegen den Pro-Kriegskurs der Parteiführung eingeladen hatte und nahm damit die Spaltung der Partei in SPD und USPD in Kauf. 1931, während einer tiefen gesellschaftlichen Krise infolge der Depression von 1929, schloss sie erneut eine linke Fraktion aus, weil diese die Zerstörung des Sozialstaats durch die konservative Regierung mit Unterstützung der SPD nicht mehr mittragen wollte. Damals entstand die Linkspartei SAP. 1961 erließ der SPD-Parteivorstand einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegen die eigene Studentenorganisation, den SDS, weil dieser ein Hindernis auf dem Weg zu einer schon damals angestrebten Koalitionsregierung mit der CDU/CSU war.
Da es keine nachhaltige Linksbewegung der SPD geben wird, ist die Perspektive einer gemeinsamen Regierung mit der SPD ist kein gangbarer Weg für eine neue Linke, es sei denn sie verzichtet auf die Umsetzung ihres linken Reformprogramms. Die Konsequenz einer solchen Haltung kann nur die Aufweichung und schließlich Verabschiedung von linken Positionen bedeuten.
Der Aufbau breiter gesellschaftlicher Bündnisse zur Verteidigung des Sozialstaates und zum Kampf für wirkliche Reformen ist die Alternative zu dieser Regierungsorientierung. In diesem Kampf ist es die Aufgabe der Linken, Sozialdemokraten mit einzubeziehen und sie für eine politische Alternative zu gewinnen.

Die Schwächen der PDS

Die PDS steckte nach ihrem schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl 2002 in einer Krise. Das Image als Nachfolgepartei der SED war ein Grund dafür, dass sie kaum ins sozialdemokratische Milieu ausgreifen und im Westen Fuß fassen konnte. Ein anderer Grund war die Erfahrung mit der PDS in der Regierungsverantwortung. Lothar Bisky, Vorsitzender der PDS, schrieb: „Wir hatten gedacht, enttäuschte Sozialdemokraten und enttäuschte linke Grüne kommen zur PDS. Das ist so nicht eingetreten.“ Die PDS vermochte es nicht, eine nennenswerte Verankerung in den Gewerkschaften aufzubauen. Zwar konnte die PDS ihre Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland auf hohem Niveau stabilisieren, aber es gelang ihr nicht, in neue Wählerschichten vorzudringen oder ihre Mitgliederstruktur zu verjüngen.8
Die Entscheidung, die WASG zu gründen, hing mit dem Unvermögen der PDS zusammen, die vielen von Rot-Grün Enttäuschten zu organisieren.9
Dass die Partei nun in aller Munde ist, liegt daran, dass Oskar Lafontaine mit seinem Austritt aus der SPD und seinem Vorschlag einer gemeinsamen Kandidatur den Aufbruch, den die WASG hervorgerufen hatte, in Verbindung mit der PDS brachte. Folgerichtig dankte Lafontaine den Gründern der WASG am Wahlabend für ihre zentrale Rolle in diesem Prozess.

a) Macht oder Gegenmacht?

In der Linkspartei.PDS gibt es unterschiedliche Positionen über die Strategie einer neuen Linken. Elke Breitenbach und Katina Schubert begründen ihre Orientierung auf eine rot-rote Koalition im Bund 2009 mit der positiven Erfahrung in Berlin und empfehlen eine Fortsetzung von Rot-Rot dort und in Mecklenburg-Vorpommern und als Option für Sachsen-Anhalt.10 Eine kritische Bilanz der Regierungsbeteiligungen in Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern ziehen sie nicht.11

Eine andere Position vertritt Michael Brie von der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Kernpunkt seiner strategischen Überlegung nach der Bundestagswahl ist: „Der Aufbau von antineoliberalen Reformmehrheiten ist die allerwichtigste Aufgabe, der sich die Linke verpflichten muss, alles andere ist dem unterzuordnen.“ Er schlussfolgert, dass die neue Linke „Teil und bewegende Kraft einer umfassenden Formation von Kräften [werden muss], die in der Lage ist, die Kräfteverhältnisse in Deutschland und der Europäischen Union zu verändern. Der erste Schritt dazu ist die Entwicklung der demokratischen, der befreienden Fähigkeit zum grundsätzlichen Konflikt mit den herrschenden Klassen und ihren neoliberalen Ideologien. Nur wer konfliktfähig ist, ist auch veränderungsfähig. Dies werden sich die Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen und vor allem auch die Linkspartei sagen lassen müssen. Ohne Selbstveränderung gibt es keine Veränderung.“

Seine Warnung geht an die eigene Partei. Nur der Aufbau von Gegenmacht, einer eigenen Öffentlichkeit und Selbstorganisation kann eine Anpassung an die jetzigen Verhältnisse und eine Gegengewicht zur „Integrationskraft politischer und parlamentarischer Systeme“ herstellen: „Ohne diese Voraussetzungen ergreift die Linke niemals die Macht, sondern ihre Vertreter beteiligen sich bestenfalls an einer Regierung, deren hartes Programm von anderen vorgegeben wird.“12

Überträgt man diese Analyse auf die Situation in Berlin, wird deutlich, wie wenig zukunftsfähig das Hauptstadtmodell ist. Die PDS hat fast alle Kürzungen in Berlin politisch mitgetragen und verteidigt. Anstatt die Berliner Bevölkerung gegen die unsoziale Steuerpolitik der Bundesregierung zu mobilisieren, die die Kommunen und die öffentliche Daseinsvorsorge systematisch ausbluten lässt und die Großkonzerne begünstigt, wendet sich die PDS in der Praxis gegen ihre Wähler und bricht ihre Wahlversprechen. Bestenfalls macht sie in der Regierung noch Kompensationsgeschäfte, in denen ein Übel gegen ein anderes abgewogen wird.

Diese Politik hat Konsequenzen. Es wird nicht Schlimmeres verhindert, sondern im Gegenteil: Das Potential der PDS zur Mobilisierung gegen Sozialabbau wird geschwächt und die Mitglieder und Wähler werden demoralisiert.

Eine gemeinsame Regierung mit der SPD kommt nur unter einem Rechtsruck der PDS zustande. Eine linke Partei degeneriert zu einer Verwaltungsagentur des Elends anstatt den Widerstand zu organisieren, der den Druck erzeugen könnte, der zur Umverteilung des Reichtums in der Gesellschaft nötig ist. Rosa Luxemburg schrieb bereits 1898: „Der Opportunismus ist übrigens ein politisches Spiel, bei dem man doppelt verliert: nicht nur die Grundsätze, sondern auch den praktischen Erfolg. Die Annahme beruht nämlich auf einem völligen Irrtum, dass man auf dem Wege der Konzessionen die meisten Erfolge erzielt. Bei uns liegt in dem Nein, in der unversöhnlichen Haltung unsere ganze Kraft. […] Nur weil wir keinen Schritt von unserer Position weichen, zwingen wir die Regierung und die bürgerlichen Parteien, uns das Wenige zu gewähren, was an unmittelbaren Erfolgen zu erringen ist. Fangen wir aber an, im Sinne des Opportunismus, dem ‚Möglichen’ unbekümmert um die Prinzipien und auf dem Wege staatsmännischer Tauschgeschäfte nachzujagen, so gelangen wir bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und die Flinte zugleich verloren hat.“13

b) Entkopplung von der Arbeiterbewegung

Die Orientierung auf das Mitregieren wird dadurch verstärkt, dass die Linkspartei.PDS ihrer Verankerung in der Arbeiterklasse und der Gewerkschaftsbewegung keine nennenswerte strategische Bedeutung beimisst. Praktisch wird dies deutlich, wenn der rot-rote Senat in Berlin Tarifflucht begeht, indem er den kommunalen Arbeitgeberverband verlässt, und es keinen Aufschrei in der Partei gibt.

Theoretisch wird das damit begründet, dass die „soziostrukturellen Veränderungen der modernen Gesellschaften“ und die „soziale und kulturelle Ausdifferenzierung in allen gesellschaftlichen Klassen und Schichten“ dazu führt, dass die Linke sich nicht mehr auf eine Stammklientel beziehen kann wie noch die SPD zu Beginn des 20. Jahrhundert auf die industrielle Arbeiterklasse.14

Diese These ist in zweifacher Hinsicht falsch: Erstens liegt ihr ein idealisierendes Bild von einer sozial homogeneren Arbeiterklasse vor hundert Jahren zugrunde, die keiner wissenschaftlichen Untersuchung standhält. Vor allem die „soziale Ausdifferenzierung“ war damals wesentlich größer als heute (Stadt-Land, Nord-Süd, Männer-Frauen, Facharbeiter-Ungelernte usw.). Zweitens übersieht sie die rasante Annäherung der sozialen Milieus und der sozioökonomischen Problemlagen gerade in den letzten Jahrzehnten.

Nicht die Ausdifferenzierung prägt heute das Bild, sondern eine Angleichung der Lebenssituation nach unten und ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit in breiten Schichten. Eine Bundeswehr-Umfrage ergab, dass sich 60% der Menschen heute von Sozialkürzungen persönlich bedroht fühlen und jeder zweite um seine Alterssicherung fürchtet.15 Die heutige Arbeiterklasse ist zusammengesetzt nicht nur aus Industriearbeitern, sondern auch einer Mehrzahl von einfachen und mittleren Angestellten und Millionen Arbeitslosen sowie Kurzzeit- und Teilzeitbeschäftigten. Selbst der gut bezahlte Facharbeiter mit Eigentumswohnung hat mittlerweile Angst vor dem sozialen Abstieg. Die Politik des Sozialabbaus hat ein neues Gefühl des „Wir hier unten – die da oben“ geschaffen.

In einer Analyse des Bundestagswahlergebnisses ist zu lesen: „Die Sozialdemokraten wie nunmehr auch die Christdemokraten haben sich […] dramatische Integrationsprobleme bei ihren Anhängern in der Arbeiterschaft und in den unteren Mittelschichten eingehandelt. Zur Disposition steht nicht geringeres als die strukturelle Mehrheitsfähigkeit der beiden Volksparteien.“16

Folge hiervon muss eine politische Orientierung an dem gemeinsam Verbindenden sein – der sozialen Frage oder – genauer gesagt –, dem Klassenwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Eine neue Linkspartei muss eine radikal interessenbezogene Partei werden – eine Partei, die die Interessen der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen vertritt.

Damit dies entstehen kann, muss die Linkspartei.PDS einen klaren Kurswechsel vollziehen. Nur so kann sie beitragen eine Gegenmacht gegen das Kapital aufzubauen.

Fazit
Die Orientierung auf Regierungsbeteiligung wird weder zu einer linken Politik, noch zu einem linken Aufbruch führen. Sie geht von zwei falschen Prämissen aus: Zum einen, dass die SPD sich substantiell nach links entwickeln wird und zum anderen, dass es möglich ist, in der Regierung unter den gegebenen Umständen linke Politik umzusetzen.

Die Änderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse muss daher im Zentrum der Politik einer neuen Linken stehen. Daraus ergeben sich folgende Anforderungen für die neue Linke:
a) Zum einen muss sie einen praktischen Nutzen für außerparlamentarische Bewegungen bieten. Sie kann die Schwächen der bestehenden sozialen Bewegungen in Bezug auf die mangelnde Verankerung in der Bevölkerung überwinden helfen, wenn sie die Möglichkeit der politischen Organisierung von zehntausenden Menschen wahrnimmt, die über das klassische linke Milieu hinausgeht und sich vor allem in die ehemalige sozialdemokratische Wählerschaft ausdehnt.
b) Auch die parlamentarische Oppositionsarbeit muss der Förderung des Widerstandes dienen. Die Präsenz im Parlament bietet die Möglichkeit, der neoliberalen Propaganda Gegenargumente entgegenzusetzen und so die latente Opposition gegen Sozialabbau auch außerhalb des Parlamentes zu stärken. Alles was die Parlamentsfraktion sagt oder tut, muss daran gemessen werden, ob sie damit dazu beiträgt, den gesellschaftlichen Widerstand gegen die Angriffe der Unternehmer und ihrer Regierungen zu stärken.

Eine neue Linkspartei muss eine pluralistische Linke sein. Dabei kann sie an die positive Erfahrung der WASG anknüpfen, die auf der Einsicht beruht „dass das gemeinsame zu betonen ist und nicht das Trennende. […] Es muss ein für alle, die die grundsätzlichen Ziele teilen, offenes Angebot für Unterstützung und Mitmachen sein.“17 Gleichzeitig braucht sie die Offenheit, um über Alternativen zum Kapitalismus und den Weg dorthin streiten zu können.

Fußnoten

1 Breitenbach, Elke und Schubert, Katina: Wenn wir den Politikwechsel 2009 wollen, müssen wir zum Sprung bereit sein
2 Oskar Lafontaine: Handlungsspielräume nutzen, in: Neues Deutschland, 14.10.2005; siehe auch Gregor Gysi im Interview mit dem Neuen Deutschland am 30.9.2005: „ND: Und bis 2009 regiert eine große Koalition? Gysi: Vermutlich, aber danach kann es sowohl in der Union als auch in der SPD Umorientierungen geben“.
3 Frankfurter Rundschau, 5. Juli 2005.
4 Der klassische Reformismus bezeichnet die Strömung in der SPD, die – in Abgrenzung zu Marx – die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus bestreitet. Ihr Vordenker Eduard Bernstein propagierte den angeblich „sicheren“ Weg zum Sozialismus über parlamentarische Mehrheiten.
5 Zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1956, Bundessozialhilfegesetz 1961.
6 Scharpf, Fritz W.: Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt 1987, S. 332 f.
7 Industriekurier, 24.1.1967.
8 Die PDS hat jetzt etwas über 50.000 Mitglieder, von denen mehr als 70% über 60 Jahre alt sind. In den ländlichen Regionen hat der Alterungsprozess bereits zur Auflösung von Parteistrukturen geführt.
Bei den Kommunalwahlen in NRW im September 2004 erhielt die PDS in den Kommunen, wo sie antrat, im Durchschnitt nur 2,9%, trotz der massiven Abwanderung von der SPD. Bei den Landtagswahlen am 22.Mai 2005 in NRW konnte sie trotz massiven finanziellen und personellen Einsatzes der Bundespartei gerade 0,9% holen. Die WASG schaffte es unter weitaus schlechteren Bedingungen aus dem Stand auf 2,2%.
9 Die Gründer der WASG-Vorgängerin www.wahlalternative.de schrieben in dem Grundsatzpapier „Für eine Wahlpolitische Alternative 2006“: „Im bestehenden parteipolitischen Raum bietet sich dazu nur die PDS an. Bei aller Kritik an der PDS hat ihr Ausscheiden aus dem Bundestag 2002 den sozialreaktionären Kräften ihren Vormarsch in der Politik und in der öffentlichen Meinung erheblich erleichtert. Auf der anderen Seite bleibt diese Option hinter den Erfordernissen und den gesellschaftlichen Möglichkeiten dramatisch zurück. Die PDS ist nicht in der Lage, den überwiegenden Teil des Potentials für eine wahlpolitische Alternative auszuschöpfen. Für einen Großteil des Potentials ehemals sozialdemokratischer, grüner oder sonst wie linker WählerInnen und sozial enttäuschter NichtwählerInnen kommt sie nicht in Frage. In den letzten Jahren hat sie sich durch ihre Regierungsbeteiligung in Berlin zusätzlich desavouiert. Sie erscheint als sehr auf sich selbst und auf Mitregieren fixiert. Sie bzw. ihre führenden VertreterInnen sind offenbar für die notwendige klare und offensive und zugleich populär vorgetragene Gegenposition zum Neoliberalismus in der öffentlichen Auseinandersetzung weder politisch-inhaltlich noch kulturell geeignet.“ Vgl.: Für eine wahlpolitische Alternative 2006.
10 Breitenbach, Elke und Schubert, Katina: Wenn wir den Politikwechsel 2009 wollen, müssen wir zum Sprung bereit sein.
11 Das Problembewusstsein über die eigenen Schwierigkeiten ist in der Linkspartei unterschiedlich weit ausgeprägt. So argumentiert die Führung der Berliner PDS in einem Strategiepapier, dass man in der PDS innerhalb der letzten 15 Jahre alle nötigen Diskussionen geführt habe und es nun auf der Grundlage der Beschlüsse des Parteitages von Potsdam (2004) eigentlich nur noch vorwärts gehen könne.
12 Brie, Michael: Nach der Bundestagswahl – Analyse und Prognose
13 Rosa Luxemburg: Possibilismus und Opportunismus, in: „Sächsische Arbeiterzeitung“, 30.September 1898, Gesammelte Werke, Bd. 1/1.
14 Brie, André: Thesen zur Perspektive der Linkspartei: Offene Fragen, Probleme, Herausforderungen, in: Brie, Michael (Hrsg.): Die Linkspartei – Ursprünge, Ziele, Erwartungen, Berlin 2005.
15 Frankfurter Rundschau, 24.10.05.
16 Oberndörfer, Dieter / Mielke, Gerd / Eith, Ulrich: Ein Graben mitten durch beide Lager, in: Frankfurter Rundschau, 22.9.05.
17 Für eine wahlpolitische Alternative 2006.
18 Ein Ausdruck von der Neuformierung ist, dass sich mehrere Kräfte links von der Sozialdemokratie zur Europäischen Linkspartei zusammengeschlossen haben. Neben den alten, bzw. ehemaligen kommunistischen Parteien gehören seit dem Parteitag im Oktober 2005 in Athen auch der Linksblock aus Portugal und das Wahlbündnis Respect aus Großbritannien an.
19 Buchholz, Christine und Lösing, Sabine: Bericht von der Europäischen Konferenz zur Auswertung der französischen und holländischen „Nein“-Kampagnen zu den Referenden über die EU-Verfassung (24./25. Juni 2005) zu beziehen unter christine.buchholz@web.de.
20 Bernhard Sander: Bürgerliches Ausscheidungsrennen und linke Opposition in Frankreich, in: Sozialismus 11/2005.

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