Ein Jahr nach der Demonstration von Seattle hat die neoliberale Globalisierung einen sichtbaren Gegner bekommen – eine globale antikapitalistische Bewegung. In Prag haben zuletzt 20.000 Menschen gegen IWF und Weltbank demonstriert. Ein Blick zurück nach vorn auf die Entstehung einer neuen Bewegung wirft dieser Artikel.
Kein Ort auf der Welt mehr, wo sie sich sicher fühlen können. Die Davos-Menschen, die Business-Leute in ihren Designeranzügen, die sich – selbstverständlich fürstlich bewirtet und in Nobel-Limousinen kutschiert -, regelmäßig treffen, um über das Wohl der Weltwirtschaft zu beraten. Überall werden sie erwartet. Washington, Okinawa, Melbourne. Seit Seattle hat sich viel verändert: 60.000 Umweltschützer, Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten u.v.m. haben die WTO-Konferenz zum Abbruch gebracht. Die Zeit war reif. Peng! Sieg! Jedes Treffen von IWF, Weltbank, WTO und G8 wird seitdem von lautstarken, bunten und frechen Protesten begleitet. Und noch viel mehr: Durch diese Demonstrationen sollte die Weltöffentlichkeit mit einem Paukenschlag erfahren, was die tatsächlichen Auswirkungen der Beschlüsse hinter den blankgeputzen Fassaden sind.
Nizza 2000: Proteste gegen den EU-Gipfel
Der bekannte amerikanische Professor Paul Krugman prägte den Begriff des Seattle-Menschen. Er sei die politische Gegenkonzeption des profitgläubigen Davos-Menschen. Das sind die Superreichen mit ihren Vorzeigegattinnen, die mit gewählten und ernannten Funktionären herum pussieren. Jene dagegen glauben, dass die Globalisierung schlicht und ergreifend eine Methode der Kapitalisten ist, um weltweit die Arbeiterschaft auszubeuten. Dieser Seattle-Mann vergleicht den Reichtum und die Privilegien all der international agierenden Persönlichkeiten mit der Armut der Sweatshop-Arbeiter […]
Wie fruchtbar der Boden für die Botschaft Gegner der neoliberalen Globalisierung ist, zeigte sich in den USA. Über die Hälfte der Bevölkerung sympathisierte mit den Protesten in Seattle. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten scheint eine Alternative zu den herrschenden Parteien zu entstehen. Vorher gab es nur zwei Alternativen: eine rechte und eine ganz rechte. Mit Ralph Nader, Verbraucheranwalt und Kandidat der Grünen, gab es den Seattle-Kandidaten. In Umfragen bekam er schon mal – etwa in Kalifornien – zehn Prozent. Seine Botschaft ist Antikapitalismus: Schluss mit dem Amerika der Konzerne! Menschen vor Profite!
Eine Entwicklung, die in den letzen Jahre schon unter der Oberfläche gärte, brach durch. Die Wirtschaftswoche warnte vor der neuen Internationalen der Globalisierungsgegner und Antikapitalisten. Und dies sind keine reinen Wortschöpfungen von Journalisten, sondern sie drücken eine reale Entwicklung aus. Selbst das konservative Allensbach-Institut musste weitverbreitet antikapitalistische Ressentiments in der Bevölkerung registrieren.
1989 noch rieben sich die Konservativen die Hände und klatschten Francis Fukujama Beifall, als er das Ende der Geschichte verkündete. Sie glaubten, der Marktliberalismus habe sich politisch und ideologisch als alternativlos herausgestellt. Heute – angesichts einer wachsenden antikapitalistischen Bewegung – reiben sie sich ungläubig die Augen und schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, als hätten sie Angst, der Himmel könnte ihnen auf den Kopf fallen.
International formiert sich eine neue Linke. Die Kontinuität der Proteste seit Seattle ist unverkennbar (siehe Kasten). Sie hat neue Akteure, neue Organisationen wie die NGOs, wie Peoples Global Action, aber auch alte Akteure, die wieder zu neuem Leben erweckt werden und Allianzen, die vorher niemals denkbar gewesen wären. 1968 haben die Gewerkschaften in Chicago und Berlin gegen die Studentenbewegung demonstriert. In Seattle hat die Gewerkschaftsbürokratie zunächst erfolgreich eine andere Demonstrationsroute gewählt. Doch als die Arbeiter von den Angriffen auf die anderen Aktivisten hörten, erzwangen sie eine Änderung der Route und vereinigten sich unter dem Schlachtruf Unity! mit den anderen Demonstranten. Heute ist diese Demonstration das Symbol für das Zusammenkommen von Umweltschützern und Menschenrechtsaktivisten mit der organisierten Arbeiterbewegung.
Seit Seattle ist klar: Die Institutionen des Kapitalismus sind verwundbar. Die Linke hat sich zwar noch nicht von den Niederlagen der 80er Jahre erholt, doch es gibt Hunderttausende neue Aktivisten, die diese frustrierenden Erfahrungen nicht gemacht haben. Die Linke hat ihr Haupt wieder erhoben und wagt dem Feind in die Augen zu schauen. Es gibt eine grundsätzliche Einigkeit darüber, dass man etwas gegen den globalen Kapitalismus tun muss und viele Leute, die sagen: ja, wir sind optimistisch, wir können wieder was hinkriegen. Die Debatten in der Bewegung gehen vor allem darum, mit welcher Strategie wir erfolgreich sein können.
Die antikapitalistische Bewegung hat auch bei den Intellektuellen neue und alte Figuren wieder hervorgebracht. Der IWF ist nicht umsonst in der größten Legitimationskrise seiner Geschichte (Die Woche). Susan George und Noam Chomsky sind schon seit Jahrzehnten in der erste Reihe, aber international gibt es neue Figuren: Naomi Klein, Walden Bello, Boris Karaglarski, Kevin Danaher. Der französische Soziologe Pierre Bordieu war in den 80er Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, im akademischen Elfenbeinturm zu beweisen, dass Marxismus eine fehlerhafte Theorie ist. Heute spielt er in der europäischen Linken eine Schlüsselrolle. Er fordert, dass kritische Intellektuelle sich wieder einmischen sollen. Er selbst tut dies zur Genüge. Seit dem heißen Herbst 95 in Frankreich spricht er vor Arbeiterversammlungen und hat die Gruppe raison dagir gegründet.
Es ist wieder eine Bewegung auf der Straße international. Sie hat viele Gesichter, tausende von Sprachen und steht für die Hoffnungen von Millionen in der Dritten Welt, in den Sweatshops, in den Fabriken des Westens, für eine saubere Umwelt, kurz: für eine gerechte Welt. Wir haben nur eine, aber wir können sie gewinnen.