1. Das dritte Europäische Sozialforum (ESF) bewies erneut, soweit das noch nötig war, die Lebendigkeit der Bewegung für eine andere Welt. Es bestätigte nach Porto Alegre und Paris, Mumbai und Florenz auch, dass das Sozialforum eine erstaunlich dynamische und erfolgreiche politische Form bleibt. Der Erfolg des Londoner ESF kann in mehreren Dimensionen gemessen werden:
Zuerst einmal in Zahlen: insgesamt nahmen 25.000 Menschen an den Podiumsveranstaltungen, Seminaren, Workshops und kulturellen Veranstaltungen, auf denen 2.500 RednerInnen sprachen, teil. Die Voranmeldungen der Delegierten zeigen, dass die Teilnehmer vom ganzen europäischen Kontinent, auch jenseits der Grenzen der erweiterten Europäischen Union, kamen:
Belgien | 593 |
Frankreich | 1.003 |
Deutschland | 834 |
Griechenland | 363 |
Italien | 1.362 |
Polen | 499 |
Russland | 190 |
Spanien | 1.271 |
Schweden | 170 |
* Die Bündelung des Großteils der ESF-Veranstaltungen im Alexandra Palace brachte eine ähnliche Atmosphäre wie in der Fortezza in Florenz und verstärkte unsere Energien, indem verschiedene Akteure und Debatten zweieinhalb Tage lang auf sehr konzentriertem Raum zusammengebracht wurden.
* In London erreichten wir auch das Zusammenspiel von Mobilisierungen und Debatten, das die Triebkraft aller großen Sozialforen gewesen ist: das ESF gipfelte in einer Demonstration von 100.000 in der Londoner Innenstadt, nachdem die Versammlung der Sozialen Bewegungen einen Aufruf zu internationalen Protesten gegen Neo-Liberalismus und Krieg für das Wochenende vom 19. – 20. März 2005 verabschiedet hatte.
Solche Aktionen hatte das Londoner ESF mit seinen Vorgängern gemein. Aber in wichtigen Punkten ging London einen Schritt über sie hinaus.
* Der Mainstream der britischen Gewerkschaftsbewegung war aktiv an der Vorbereitung und dem ESF selbst beteiligt: das Feedback von den Gewerkschaften ist überwältigend positiv ausgefallen; es gab Berichte von höchst erfolgreichen gemeinsamen Seminaren von Gewerkschaftern und wichtigen Netzwerken von Aktivisten.
* Außerdem gab es eine deutliche Zunahme der Beteiligung von schwarzen, asiatischen, muslimischen und Flüchtlingsnetzwerken. Das war ein wichtiger Fortschritt gerade angesichts der europaweiten Angriffe auf die bürgerlichen Freiheiten und die Rechte von Migranten und Asylbewerbern.
* Es gab ein reiches und anspruchsvolles kulturelles Programm.
* Da die Zahl der Plenarveranstaltungen gesenkt wurde, gab es mehr Raum für selbst organisierte Veranstaltungen. Darüber hinaus haben sich die Bemühungen, die Zahl der Podiumsredner auf Plenarveranstaltungen zu drosseln, ein zahlenmäßiges Gleichgewicht der Geschlechter zu erreichen und mehr Zeit für Publikumsdiskussionen einzuräumen, als recht erfolgreich erwiesen.
* Mein Eindruck -und der anderer, mit denen ich gesprochen habe- war, dass die intellektuelle Qualität der Debatten gestiegen ist: in den Seminaren, an denen ich teilnahm, beeindruckte mich, dass sowohl die Referenten als auch die Diskussionsteilnehmer im Publikum rituelle Verurteilungen von Imperialismus und Neo-Liberalismus vermieden und stattdessen stark auf eine ernsthafte Analyse und Diskussion zielten.
All diese Verbesserungen waren nicht dem Zufall geschuldet, sondern von den Organisatoren des ESF bewusst angestrebt worden. Uns gebührt daher ein angemessener Teil des Erfolges.
Das Londoner ESF war kleiner als die ESF in Florenz und Paris, die um die 50.000 Teilnehmer anzogen. Das kann kaum überraschen: die Bewegung für eine andere Welt begann sich mit der Gründung von Attac Frankreich 1998 zu formieren; seit Genua ist die Bewegung in Italien am stärksten. In Großbritannien hat es eine sehr starke Anti-Kriegsbewegung gegeben, aber nur ein weit verbreitetes, aber diffuses Anti-Globalisierungsbewusstsein.
Das Londoner ESF, das viele junge Menschen anzog und in den Seminaren und Podiumsveranstaltungen viele der wichtigen Themen der Bewegung ansprach, sollte im Zusammenwirken mit der Mobilisierung zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Gleneagles nächsten Juli dieses Bewusstsein verstärken und zur Festigung stärker organisierter Netzwerke in Britannien führen.
Die privaten Medien in Britannien weigern sich standhaft, über die Bewegung für eine andere Welt ernsthaft zu berichten, aber der Guardian zollte dem ESF in seiner Ausgabe vom 18. Oktober 2004 seine Anerkennung und warnte:
„Die Politiker des Mainstream haben keinen Kontakt zu dem Geist, dem Inhalt und dem Stil dieser offenen, von keiner Partei dominierten Politik, die unter dem Schirm des ESF entsteht. Jeder professionelle Politiker, der ein Publikum von über 1.000 Menschen sieht, die gespannt Diskussionen über Globalisierung, die Macht der Konzerne, Rassismus, Nahrung oder die Umwelt verfolgen, täte gut daran, die Begrenztheit seiner eigenen politischen Zielsetzungen und den echten Transnationalismus, der sich deutlich in der europäischen Jugend bildet, zu überdenken… Es ist gut möglich, sich vorzustellen, wie aus den Verbindungen zwischen radikal unterschiedlichen Gruppen in den nächsten Jahren eine qualitativ neue Politik der europäischen Linken entstehen wird.“
Natürlich gab es auch Schwächen. Niemand kommt wegen des Essens nach London, aber das Essen im Alexandra Palace war scheußlich und scheußlich teuer. Die Erfahrungen bei der Vorbereitung des Programms bestätigten Bernard Cassens (Ehrenvorsitzender von Attac Frankreich) Kritik an den ersten beiden ESF, dass ungeheuer viel Zeit und Aufwand darauf verwendet wird, die Themen und Redner der Plenarveranstaltungen zu bestimmen. Es wird interessant sein, das Experiment des nächsten Weltsozialforums (WSF) in Porto Alegre auszuwerten. Dort will man auf Plenarveranstaltungen ganz und gar verzichten und ausschließlich auf selbst organisierte Veranstaltungen setzen.
Andere Probleme waren eher subjektiv. Einige Leute waren mit der Verteilung der Räume im Alexandra Palace unzufrieden, weil sie bedeutete, dass mitunter Geräusche aus einem Raum in der Diskussion im nächsten zu hören waren.Ich persönlich fand den Lärm erträglich, zumal er die Vielfalt der Stimmen erfahrbar machte, die eine solche Stärke unserer Bewegung ist.
2. Das Londoner ESF wurde von einer Menge politischem Lärm begleitet. Das spiegelte nicht zuletzt die Tatsache wider, dass unsere Vielfalt auch bedeutet, dass wir in vielen Punkten politische Differenzen haben. Zum Beispiel bemängelten viele Genossen aus Frankreich, dass der Krieg im Irak wie schon in Florenz eine so hervorgehobene Stellung einnahm.
Zum Teil entspricht diese Kritik den Unterschieden der nationalen Zusammenhänge. In Britannien dominiert der Krieg das politische Leben und mobilisiert mehr Menschen als irgendein anderes Thema. Ohne die Betonung des Krieges und die starke Beteiligung der britischen Friedensbewegung am ESF, wäre das Forum eine weit weniger dynamische Angelegenheit gewesen, und die Beteiligung an der Abschlussdemonstration wäre wenig größer gewesen als das ESF selbst.
Aber es geht um mehr. Der Krieg im Irak ist auch das bestimmende Thema der Weltpolitik, und das nicht nur aufgrund der Spaltungen, zu denen er zwischen den Großmächten geführt hat. Die einseitige Betonung militärischer Macht durch die Bush-Regierung, die Brutalität der Besatzung und die mit ihr einhergehende Durchsetzung des vollen Spektrums neo-liberaler Politik im Irak all das verstehen viele Aktivisten als den Kern dessen, was an der Globalisierung auszusetzen ist.
Andere, die vor allem in Frankreich einflussreich sind, stimmen dem nicht zu. Sie glauben, dass es keine zwingende Verbindung zwischen der Kriegslust der Bush-Regierung und neo-liberaler Globalisierung gebe. Ich denke, sie haben Unrecht, und dass jeder neue Tag bestätigt, wie wichtig es ist, die Verbindungen von wirtschaftlicher und militärischer Macht, die dem modernen Imperialismus zugrunde liegen, zu verstehen. Hier geht es um eine grundsätzliche politische Meinungsverschiedenheit, mit der zu lernen müssen zu leben, während wir in derselben Bewegung zusammenarbeiten.
Es ist schwierig, die Bedeutung dieser Differenzen zu erkennen, weil sie als technische Probleme dargestellt werden. So hat sich eine Reihe französischer Netzwerke darüber beschwert, dass das gesamte Podium in einem Seminar auf dem Recht junger muslimischer Frauen bestand, ein Kopftuch zu tragen, obwohl das nicht offenbar nicht verhindert hat, dass es sehr heftige Debatte im Publikum darüber gab. Diese Beschwere erscheint mir, die zentrale Frage zu umgehen.
Die Wahrheit ist, dass viele Aktivisten in ganz Europa die Unterstützung des gesetzlichen Kopftuchverbotes in Frankerich durch Attac unverständlich finden. Die jüngste Auswertung des Londoner ESF durch Attac Frankreich bemängelt die Rolle konfessioneller Organisationen dort.
Aber eine religionsfeindliche Haltung, die die unterdrücktesten Teile der französischen Gesellschaft ausschließt, dient der Zusammenarbeit gegen unsere gemeinsamen Gegner so wenig wie die islamistischen Organisationen, gegen die sie sich wendet.
Die Frage des Kopftuches ist nur ein Symptom des wirklichen Problems, welches darin besteht, wie wir unsere Bewegung auf die untersten Schichten der europäischen Bevölkerung, die gleichzeitig wirtschaftliche Ausbeutung und rassistische Unterdrückung zu erleiden haben und sich genau aus diesem Grunde stark auf den muslimischen Glauben beziehen, ausweiten können. Ich wiederhole noch einmal, in dieser Frage werden wir weder eine schnelle noch eine einfache Übereinkunft finden. Aber wir sollten mindestens die Bedeutung der Debatte anerkennen, statt uns hinter Diskussionen darüber zu verstecken, wie ein bestimmtes Seminar organisiert wurde.
3. Diese Meinungsverschiedenheiten führten zu einer Reihe von Störversuchen. Insgesamt hatten diese Aktionen wenig Auswirkung auf das ESF. Die überwiegende Mehrzahl der Veranstaltungen war von ihnen nicht betroffen, und die meisten Teilnehmer des ESF und der und des Konzertes zum Abschluss bemerkten sie gar nicht. Aber ich will sie erwähnen, weil sie sowohl in den Medien als auch im Internet einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Zum ersten Mal wurde ein ESF erfolgreich gestört (ein Versuch, den Vertreter der Sozialistischen Partei in Paris anzugreifen, wurde von Sicherheitsleuten unterbunden.) Es lohnt, sich diese Angriffe genauer anzusehen.
Ihre Verteidiger haben verschiedene Entschuldigungen vorgebracht. Eine bezieht sich auf den vermeintlichen Demokratiemangel bei der Vorbereitung des ESF. Eine Schwierigkeit bestand sicherlich darin, dass die Teilnehmer sehr unterschiedliche Auffassungen von Demokratie haben und oft sehr wenig Toleranz gegenüber anderen Konzepten als ihren eigenen zeigten. Aber das eigentliche Problem in England lag anderswo.
Zu verschiedenen Zeitpunkten umfasste der Vorbereitungsprozess eine sehr große Bandbreite politischer Kräfte – vom britischen Gewerkschaftsbund über große Nicht-Regierungsorganisationen bis hin zu autonomen Gruppen mit einer Tradition spontaner Gewalt, wie die Wombles . Diese Koalition zusammenzuhalten wäre unter allen Umständen schwierig gewesen. Natürlich haben auch die französischen und italienischen Genossen breite Koalitionen geschmiedet, aber es war wohl von Vorteil, dass diese schon lange vor den jeweiligen ESF bestanden, so dass sie schon einige Erfahrung in der Zusammenarbeit hatten sammeln können.
In Britannien dahingegen waren jene Netzwerke für eine andere Welt, die schon an anderen Foren teilgenommen hatten, relativ schwach. Die Koalition, die das Londoner ESF organisieren sollte, musste von Null aufgebaut werden. Dazu gehörte, verschiedenste Organisationen zusammenzubringen, die nie zuvor zusammengearbeitet hatten und radikal unterschiedliche politische Traditionen verfolgen. Die Zusammenarbeit wäre also ohnehin schwierig geworden.
Aber nichtsdestotrotz tragen die autonomen Kreise die Hauptverantwortung für die Schwierigkeiten, die sich ergaben. Ihre Einstellung gegenüber dem ESF schwankte zwischen offenem Widerstand (theoretisiert in einer Kritik der Wombles , die dem ESF vorwarfen, in sich reformistisch zu sein) und wechselhafter, aber normalerweise nicht sehr konstruktiver Mitarbeit (üblicherweise durch verschiedene lose Anhänger der Autonomen).
Es wurde jeder Versuch unternommen, auf sie einzugehen: zum Beispiel stellte das Londoner ESF einen Autonomen Raum zur Verfügung, wie es ihn schon in Florenz und Paris gegeben hat. Wie auf der Europäischen Vorbereitungsversammlung vereinbart, waren alle Treffen der britischen Organisations- und Koordinierungskomittees offen. Aber viele der Anhänger der Autonomen standen der Idee des ESF als Massenveranstaltung, an der auch Gewerkschaften und NGO’s teilnehmen, offen feindlich gegenüber. Ihrer Kritik nachzugeben, hätte bedeutet, dass das ESF massiv kleiner ausgefallen wäre als seine Vorgänger und dass es als kleiner Kreis selbst erwählter Aktivisten, die einander nur zustimmen können, geendet wäre. Wir wollten dagegen so viele Menschen wie möglich und eben auch jene erreichen, die sich gerade erst politisieren.
Die Podiumsveranstaltung zum Irak verdeutlicht das Problem. Ich halte es für einen Fehler, dass ein Sprecher des Irakischen Gewerkschaftsbundes (IFTU), der der anglo-amerikanischen Besatzung zustimmt, auf das Podium geladen wurde. Dass dies getan wurde, hatte mit der massiven Unterstützung der IFTU durch viele britische Gewerkschaften zu tun. (Die IFTU hat mittlerweile ein Büro im Hauptgebäude der größten britischen Gewerkschaft UNISON).
Die Anwesenheit der IFTU, die ich nicht gutheiße, hing so mit dem Konzept eines ESF zusammen, das tief in den Mainstream der Gewerkschaftsbewegung hineinreichte. Die dumme Entscheidung einiger Protestierer (diesmal Mitglieder linker Sekten aus England und dem Nahen Osten), ein Podium niederzuschreien, das größtenteils aus Vertretern der Stop the War Coalition und Irakis bestand, die gegen die Besatzung sind, kam daher der Weigerung gleich, mit dem Mainstream ins Gespräch zu kommen.
Ihre Aktion stand genau für die Art steriler sektiererischer Politik, von der wir gerade wegkommen wollen.
4. Die Angriffe auf das Anti-Faschismus-Plenarveranstaltung und die Bühne am Trafalgar Square waren großenteils das Werk von Autonomen, von denen viele prinzipiell gegen das Sozialforum eingestellt sind. Zusätzlich zu den Behauptungen fehlender Demokratie wurden zur Verteidigung dieser Aktionen vor allem zwei weitere Begründungen gegeben. Zuerst einmal wurde das ESF der Konzerne und die Unterstützung durch den linken Londoner Bürgermeister Ken Livingstone angeprangert.
Das kann man kaum ernst nehmen. Wer auf dem WSF in Porto Alegre war, wird sich an die Werbebanner erinnern, mit denen die Besucher empfangen wurden, und an die VIP-Lounge im PUC. Die Bedeutung von Unterstützung durch örtliche Regierungen (und politische Parteien!) wird durch den Vorschlag verdeutlicht, das WSF nicht mehr in Porto Alegre stattfinden zu lassen, weil die PT (brasilianische Arbeiterpartei) bei der Wahl letzten November dort ihre Mehrheit in der Stadtverwaltung verloren hat.
Dasselbe Muster hat sich beim ESF bestätigt. In Florenz erhielt es Unterstützung von der Regionalregierung. Zusätzlich zu der Hilfe durch die Verwaltungen von Paris, St Denis, Bobigny und Ivry bekam das Pariser ESF eine Million Euro von dem konservativen französischen Premierminister Jean-Pierre Raffarin. Niemand kritisierte die französischen Genossen deswegen, denn alle verstanden, ein ESF, das auf massenhafte Beteiligung ausgerichtet ist, Geld braucht und dass Geld Kompromisse bedeutet.
Im Londoner Fall kam dieses Geld von einem Bürgermeister, der zwar aus den falschen Gründen in die Labour Party zurückgekehrt ist, aber konsequent die Anti-Kriegsbewegung unterstützt hat. Warum sollte London mit anderem Maß gemessen werden als andere Sozialforen?
Die andere Begründung, die in Verteidigung der Störaktionen vorgebracht wurde, betraf die Rolle der Polizei. Es ist sogar behauptet worden, die Organisatoren des ESF seien Schuld an den Verhaftungen während der Demo und am Trafalgar Square. Diese Behauptungen sind völlig aus der Luft gegriffen und tatsächlich verleumderisch; aber sie sind auch lächerlich wie sollte ein altgedienter revolutionärer Sozialist wie ich irgendeinen Einfluss auf die Polizei haben? Die Genossen, die diese Behauptungen vorgebracht haben, sollten sie sofort zurückziehen.
Es ist außerdem verwirrend, dass nur ausgewählte Verhaftungen Aufmerksamkeit erregt haben und andere nicht. Zum Beispiel löste eine sehr aggressive Gruppe der Einsatzpolizei während der Anmeldung in der Conway Hall am 14. Oktober die Schlange der Wartenden auf und nahm einen Organisator der Socialist Workers Party fest. Zwei Aktivisten von Globalise Resistance wurden unter Verweis auf das Antiterrorgesetz 2000 daran gehindert, die Demo zu verlassen. Einer von ihnen wurde festgenommen und zu 80 Pfund Bußgeld verurteilt. Jemand anderes, der anscheinend versuchte, die Bühne am Trafalgar Square zu stürmen, wurde ebenfalls verhaftet und mit derselben Geldstrafe belegt. Aber nur sein Fall erregte Mitgefühl und Aufmerksamkeit, unter anderem von führenden französischen Aktivisten. Wieder einmal scheint mit zweierlei Maß gemessen zu werden.
Aber sogar wenn die Einwände, die gegen die britischen Organisatoren erhoben wurden, richtig wären, würden sie nicht dazu berechtigen, auf dem Forum Gewalt anzuwenden. Gewalt und Debatte sind miteinander unvereinbar. Wer meint, Vielfalt und Diskussionen seien die größten Stärken unserer Bewegung, kann nicht tolerieren, dass Streits mit Gewalt geregelt werden. Dazu kommt, dass jene, die Gewalt in unsere Bewegung tragen, den staatlichen Repressionsapparat im Schlepptau führen: die Attacken am Trafalgar Square lieferten der Polizei einen willkommenen Vorwand, einzugreifen und Verhaftungen durchzuführen. Die europäischen Genossen, die sich geweigert haben, diese Attacken zu verurteilen, die sie begrüßt oder gar an ihnen teilgenommen haben, sollten bedenken, welch gefährlichen Präzedenzfall sie für die Zukunft schaffen.
5. Es ist auf jeden Fall die Zukunft, an über die wir nachdenken sollten. Das nächste ESF wird im Frühling 2006 in Athen stattfinden. Welche politischen Lehren können wir aus London ziehen? Die wichtigste ist die, welche die italienischen Genossen nach Florenz gezogen haben: die Stärke unserer Bewegung besteht aus ihrer Vielfalt und ihrer Radikalität. Wir haben nahezu ein Wunder vollbracht, indem wir eine Bewegung aufgebaut haben, die eine außerordentlich weite soziale und politische Bandbreite verbindet und gleichzeitig eine Herausforderung für den kapitalistischen Imperialismus als System darstellt. Das war in London offensichtlich: wie schon in Florenz wurden einige der größten und dynamischsten Veranstaltungen von der Politik der radikalen Linken dominiert.
Aber London hat auch gezeigt, dass es mit der Zeit schwieriger und nicht leichter wird, Radikalität und Vielfalt miteinander zu verbinden. In einer Reihe wichtiger Punkte sind die Gegensätze klar erkennbar geworden: der Krieg, die Europäische Verfassung, das Kopftuch, die Rolle der radikalen Linken. Es gibt auch Diffenrenzen über die Frage, wie die Bewegung weiter aufgebaut werden soll: einige Netzwerke sind in der Frage, ob der Mainstream der Gewerkschaften einbezogen werden soll, unentschlossener als andere. Diese letzte Frage bezieht sich wiederum auf andere: zum Beispiel vermute ich, dass ich sehr viel näher an den französischen Genossen stehe, wenn es um die Frage der Gewerkschaften geht, als an den italienischen, mit denen ich mich aber sehr viel besser über die Einschätzung des Krieges im Irak einigen kann. Das macht es viel komplizierter, die Koalitionen, die wir errichten wollen, zusammenzuhalten und auszuweiten.
Wir müssen uns auch der Tatsache stellen, dass der Ablauf der ESF zunehmend schlechter funktioniert. Attac Frankreich hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Beteiligung an den Vorbereitungstreffen zum ESF seit Florenz stagniert, und argumentiert, dass die Funktionsweise der Vorbereitung in Hinblick auf ihre Demokratisierung, Repräsentativität und Vergrößerung verbessert werden muss. Das ist leichter gesagt als getan, besonders wenn wir dabei bleiben wollen, die Vorbereitungstreffen für alle offen zu halten und Entscheidungen im Konsens zu treffen, was uns verwundbar macht für Störungen durch Minderheiten, die niemanden repräsentieren.
Unter anderem daher rührten die Schwierigkeiten, die in London sichtbar wurden. Wir müssen das verstehen, wenn wir uns auf Athen vorbereiten. Die Spaltungen in der Vorbereitung des Londoner ESF haben tendenziell zu einer Polarisierung geführt, auf deren einer Seite eine Koalition wichtiger sozialer Bewegungen stand und auf der anderen autonome Splittergruppen, die den Prozess eher sabotierten. Es gibt ungefähr vier wichtige Kräfte, die am ESF in Athen beteiligt werden müssen: das Griechische Sozialforum, die Genua 2001 Kampagne, die Griechische Kommunistische Partei und die griechischen Gewerkschaften, deren Führung mit der sozialdemokratischen PASOK-Partei verbunden ist. Nur die ersten beiden haben bisher an ESF teilgenommen, und alle vier haben eine lange Geschichte von Streitereien miteinander. Sie zusammenzubringen wird für uns alle eine schwierige Aufgabe. Die Dinge werden also alles andere als einfach für uns und nicht einmal vornehmlich wegen der Querelen, die wir miteinander haben. Schließlich ist George W. Bush mit einer Stimmenmehrheit wieder gewählt worden, die er als Mandat dafür auffasst, seinen weltweiten Krieg fortzuführen und den Planeten zu verschmutzen. Das führt uns vor Augen, wie weit wir es noch bringen müssen, um irgendwelche der konkreten Ziele durchzusetzen, auf die wir uns in den Seminaren und Podiumsveranstaltungen geeinigt haben. Aber unsere Erfolge – zuletzt beim Londoner ESF- stärken mein Vertrauen in unsere Fähigkeit, eine Bewegung aufzubauen, die wirkliche Siege erringen kann.London, 26. November 2004