Interview: „Die Menschen duckten sich nicht mehr“

Linksruck sprach mit einer Aktivistin der Wende aus Chemnitz (früher Karl-Marx-Stadt).


Gabi Engelhardt war Mitglied der DDR-Oppositionsgruppe Vereinigte Linke. Heute ist sie aktiv in der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit.

Du warst bereits vor 1989 in der Opposition aktiv. Welche Gruppen gab es damals?
Abgesehen von der Opposition in der SED, die versuchte, die Partei von innen zu ändern, gab es viele verschiedene Gruppen. Sie trafen sich hauptsächlich in kirchlichem Rahmen: Friedens- und Umweltschutzgruppen, Frauen- und Schwulen und Lesbengruppen. Es ging hauptsächlich um Menschenrechte und mehr Demokratie, gegen die stalinistische Parteidiktatur. Wir wollten einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht.

Wann gab es erste Anzeichen, für Veränderungen in der Gesellschaft?
Mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion setzte auch bei uns die Debatte um die Umgestaltung der Gesellschaft ein. Im Untergrund wurde das Neue Forum gegründet. Die Regierung zog die Schrauben an. Es gab Verhaftungen beim geringsten Anlass. Aber der Mut in der Bevölkerung stieg, sich nicht mehr länger zu ducken.
Obwohl die Ostdeutschen in den letzten Jahren unzufriedener wurden, wählten angeblich über 99 Prozent die SED und die Blockparteien. Zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 gab es deshalb eine Initiative der Opposition, den Wahlbetrug aufzudecken. Gleichzeitig fand die Abstimmung mit den Füßen statt. Tausende verließen das Land. Ab dem Sommer gab es dann die offene Versammlung der Ausreisewilligen vor dem Rathaus. Vorher wäre das undenkbar gewesen.

Die Oppositionsgruppen unterstützten die Ausreisebewegung?
Die Oppositionsgruppen standen an der Spitze der Demokratiebewegung und führten später auch die Demos an. Viele von uns verstanden zwar die Ausreisewilligen, wollten aber nicht in den Westen. Unsere Parole war „Wir bleiben hier“. Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR demonstrierten in Karl-Marx-Stadt 1000 Menschen gegen das Regime, obwohl wir befürchten mussten, dass sowjetische Panzer der Regierung helfen würden.

Wie hast du die Veränderungen 1989 erlebt?
Die ganze Gesellschaft hat sich politisiert. Arbeiter, Angestellte und Hausfrauen kamen in das Kontaktbüro der Demokratisch-Oppositionellen Plattform (dem Bündnis der Oppositionsgruppen). Ein Polizist sagte damals: „Wenn sie uns wieder befehlen, gegen die eigenen Leute vorzugehen, drehen wir die Waffen um.“ Viele Menschen waren gierig nach Information. Die Flugblätter wurden uns aus den Händen gerissen. In den überfüllten Kirchen diskutierten die Menschen gemeinsam, wie es weitergehen sollte.

Am Anfang glaubte keiner an einen Sturz der SED.
Ich denke, die Demo von Zehntausenden am 9. Oktober in Leipzig war bereits der Anfang vom Ende der SED-Herrschaft. Nachdem der sowjetische Präsident Gorbatschow am 7. Oktober zum 40. Jahrestag der DDR mit dem Spruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ dem SED-Chef Honecker die Unterstützung versagte, war klar dass das Regime am Ende war. Danach kamen hunderttausende zu den Montagsdemonstrationen im ganzen Land. Das Ende der Diktatur war der Fall der Mauer und der Sturm auf die Stasizentrale in Berlin.

Im Dezember forderten Arbeiter aus verschiedenen Betrieben im Süden und einem Magdeburger Schwermaschinenbaukombinat einen Generalstreik. Warum lehnten die meisten Oppositionellen das ab?
Hauptsächlich, weil die Arbeiter auch die Wiedervereinigung forderten. Wir wollten damals eine bessere DDR aufbauen und nicht das 12. Bundesland der BRD werden. Wir wollten keinen Kapitalismus mit Arbeitslosigkeit und Nazis.
Ich denke, wir haben damals nicht verstanden, dass die Wiedervereinigung an sich nicht falsch ist, wenn wir damit die Interessen der Menschen in Ost und West durchgesetzt hätten. Leider gab es nur eine Vereinigung nach den Vorstellungen vom westdeutschen Kanzler Kohl.

Welche Erfahrungen von 1989 sind heute wichtig?
Wir dürfen uns nicht von den Herrschenden vereinnahmen lassen. Außerdem müssen wir uns organisieren, um Widerstand zu leisten. Durch die stalinistische Unterdrückung konnten wir erst auf dem Höhepunkt der Bewegung anfangen, Strukturen aufzubauen, um einzugreifen. So wurden wir oft von den Ereignissen überrollt, obwohl wir mitten drin waren. Das nächste Mal, wenn wir uns in einer solchen Situation befinden, will ich nicht ohne Organisation dastehen.

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