Aufschwung?

Thomas Walter prüft den derzeitigen „vorsichtigen Optimismus“ vieler Wirtschaftsmedien vor dem Hintergrund der allgemeinen weltwirtschaftlichen Lage.Um die Weltwirtschaft ist es derzeit etwas ruhiger geworden: keine grossen Finanzkrisen, keine Börseneinbrüche, keine dramatischen Rettungsaktionen für Grosskonzerne. Die Medien sind noch vorsichtig. Sie wollen sich nicht wieder mit vorschnellen optimistischen Prognosen blamieren. Aber die günstigen Meldungen nehmen zu. 2004 könnten erstmalig nach drei Jahren die Aktienkurse zu Jahresende höher stehen als zu Jahresanfang.
Japan scheint zumindest nicht tiefer in die Krise zu rutschen, in der es schon seit 1990 steckt. Und das neoliberale Musterland USA führt abermals den Aufschwung an. Die grossen europäischen Staaten, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland (BRD), liegen irgendwo dazwischen – besser als Japan, aber schlechter als die USA. Für dieses Jahr erwarten die Experten für die BRD kein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), einem Mass für die Menge aller in einer Volkswirtschaft hergestellten Güter und Dienstleistungen. Im nächsten Jahr werden für das BIP so um die 1,5 % Wachstum erwartet. Das Ifo-Institut, München, kommentiert: „Wachstumsraten wie in den 50er Jahren, den stürmischen Aufbaujahren der Bundesrepublik, gehören längst der Vergangenheit an. Der letzte Boom mit seinem Höhepunkt im Jahre 1969 hat bisher keinen Nachfolger gefunden, der diesen Namen verdiente. Zwar durchläuft die deutsche Wirtschaft derzeit eine Phase langen Wachstums. Doch die Anstiegsraten sind im Vergleich zu früheren Konjunkturzyklen bescheiden.“1

Die Botschaft der Medien und Politiker ist freilich, dass es auch in der BRD bald wieder kräftig aufwärts gehen könnte, wenn nur endlich die nötigen sogenannten „Reformen“ kämen. In Orwellschem Neusprech ist damit der Abbau des Sozialstaates gemeint. Vorbild sind die USA. Dort seien die Arbeitsmärkte „flexibel“ und ohne „Rigiditäten“.

Tatsächlich steckt aber nicht nur die BRD, sondern die Weltwirtschaft insgesamt anhaltend in einer tiefen Stagnationskrise. Es bestehen weiterhin weltweit grosse sogenannte „Risiken“. Im Musterland USA z.B. wird vom „Aufschwung ohne Jobs“, von der „jobless recovery“ gesprochen. Aber eigentlich müsste von einem „Aufschwung mit immer weniger Jobs“ gesprochen werden, von einer „jobloss recovery“.2 Im letzten Abschwung hatten die USA 1,6 Millionen Arbeitsplätze verloren, im jetzigen sogenannten „Aufschwung“ aber noch einmal bis dato über eine Million Arbeitsplätze. Auch in der BRD wird die Zahl der Arbeitsplätze im nächsten Jahr abermals zurückgehen. Das Wachstum geht also auch hier zumindest vorerst am Arbeitsmarkt vorbei.

Wie der Kapitalismus allmählich immer tiefer in die Krise rutscht, hat für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der US-Marxist Robert Brenner ausführlich beschrieben.3 Er arbeitet einige wesentliche Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung heraus.

Grundtendenz: Die Produktionsanlagen wachsen schneller als die Produktion

Ein Kapitalist behauptet sich in der Konkurrenz, indem er möglichst billig produziert. Seine Arbeitskräfte müssen daher hoch produktiv sein. Eine Arbeitskraft kann umso mehr produzieren, je grösser die Produktionsanlagen je Arbeitsplatz sind.

Aus dem Konkurrenzkampf um möglichst hohe Arbeitsproduktivität ergibt sich die Tendenz, dass die Kapitalisten ihre Produktionsanlagen rascher ausdehnen als die Produktion. Dies ist nicht etwa technisch bedingt, sondern ergibt sich aus der Strategie der Kapitalisten, sich gegenseitig Marktanteile abzujagen bzw. ihre Marktanteile zu verteidigen. Deshalb weiten die Kapitalisten in erster Linie ihre Produktionsanlagen aus, mehr noch als ihre Produktion.

Tatsächlich haben sich in den OECD-Ländern4 die Produktionskapazitäten von 1980 bis 2002 verdoppelt. Die Produktion hat aber schwächer zugenommen, um 80 %.5 Aus dieser Grundtendenz können weitere für den Kapitalismus typische Entwicklungstendenzen abgeleitet werden. Alle diese Tendenzen sind fatal für den Kapitalismus und nicht innerhalb der kapitalistischen Welt „reformierbar“.

Tendenz „Fall der Profitrate“

Repräsentieren die Produktionsanlagen den erforderlichen Kapitaleinsatz, und stecken in der Produktion die Profite, dann wird das Verhältnis Profit zu Kapitaleinsatz, die sogenannte Profitrate, tendenziell immer kleiner, wenn, wie festgestellt, langfristig die Produktionsanlagen rascher ausgedehnt werden als die Produktion. In der Tat hat sich laut Brenner die Profitrate im verarbeitenden Gewerbe der sieben grossen Industriestaaten, der sogenannten G7,6 seit 1980 bis heute halbiert.7 Laut Brenner betrug diese Profitrate in den frühen 50er Jahren noch etwa 30 %, heute nur noch ca. 15 %.

Die Profitrate bestimmt, ob eine Unternehmung die erforderlichen Investitionen finanzieren kann. Die Kapitalisten verteidigen daher ihre Profitrate mit allen Mitteln. Der Lohnanteil der Arbeiter und Arbeiterinnen am BIP soll zugunsten des Profitanteils vermindert werden. Sie wollen die Löhne drücken (z. B. Kürzungen beim Weihnachtsgeld) und die Arbeitszeiten verlängern (längere Wochenarbeitszeiten, weniger Feiertage). Der massive Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter und Arbeiterinnen in den letzten Jahrzehnten erklärt sich aus dem Streben der Kapitalisten, die Tendenz zu fallenden Profitraten aufzuhalten. Die Diskussion konzentriert sich dabei zurzeit auf die Lohnnebenkosten. Das ist der Teil der Löhne, der der Finanzierung des Sozialstaates dient.8

Sozialkahlschlag Tendenz „Arbeitslosigkeit“

Immer mehr Profite werden in den Ausbau der Produktionsanlagen investiert, relativ immer weniger in zusätzliche Arbeitskräfte. Die Beschäftigung nimmt daher immer schwächer zu. Dafür steigt die Arbeitslosigkeit in allen ihren Formen langfristig. So hat sich laut OECD in den Mitgliedsländern die Arbeitslosigkeit von knapp 10 Mio. 1950 auf über 30 Mio. zum Jahrtausendwechsel mehr als verdreifacht. Der Kapitalismus kann immer weniger Menschen in sein System integrieren. Für die Kapitalisten ergibt sich daher die Notwendigkeit, den Sozialstaat immer massiver abzubauen.

So hatte früher der Sozialstaat für die Kapitalisten noch gewisse Vorteile. Er sollte sicherstellen, dass Arbeitslose oder Kranke bei Bedarf wieder rasch als Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Die Rentenversicherung sollte dafür sorgen, dass die Beschäftigten nicht dadurch von der Arbeit abgelenkt wurden, dass sie ständig über ihre Altervorsorge nachdenken mussten. Doch inzwischen kann der Kapitalismus gar nicht mehr alle integrieren. Ein sozialer Schutz der ganzen Bevölkerung ist aus Sicht der Kapitalisten nicht mehr notwendig. Entsprechend soll der Sozialstaat „umgebaut“ werden. Die Privatisierung des Sozialstaates bedeutet, dass nur noch wer verdient, wer also noch für den Kapitalismus von Nutzen ist, sich sozial versichern kann. Der Rest ist auf Almosen („Grundrente“, „Arbeitslosengeld II“ usw.) angewiesen. Mit diesem grundlegenden Abbau des Sozialstaates verabschieden sich die Kapitalisten von der Idee, die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung als Reservearmee zu halten. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung rutscht in die „Lazarusschicht“9 der nie mehr Benötigten ab.

Tendenzen „Kapitalkonzentration“ und „Wachstumsstagnation“

Gesamtwirtschaftlich führt der Kampf um die größten Produktionsanlagen dazu, dass die Firmen immer größer werden (Kapitalkonzentration), dass die Großen die Kleinen fressen (Kapitalzentralisation) und dass die Gesamtproduktion immer schwächer zunimmt, weil der Mehrproduktion der Großen der Produktionsausfall der Firmen, die Pleite gehen, gegenüber steht. In der BRD steigt die Zahl der Pleiten ungefähr parallel zur Zahl derArbeitslosen. Von 1991 bis 2002 stieg die Zahl der Insolvenzen (Pleiten) in der BRD von 9000 auf 38 000.10 Je mehr die Märkte nur noch von Großkonzernen beherrscht werden, desto geringer ist die Dynamik des Kapitalismus.

Auch für das immer schwächere Wachstum des BIP gibt es zahlreiche Belege. Laut der Weltbank wuchs das Welt- BIP in den 50er Jahren noch mit Raten zwischen 4 % und 6 %, in den 90er Jahren dagegen nur noch mit um die 3 %.11

Tendenz „Konkurrenz“

Der Kreis schließt sich: diese langfristigen Tendenzen verschärfen selbst wiederum die Konkurrenz unter den Kapitalisten. Dabei nehmen sie auch ihre Staaten in Dienst. So gehören die Wechselkurse zu den wichtigsten ökonomischen Größen der Weltwirtschaft. Brenner schildert, wie die Staaten die Wechselkurse keineswegs den „Marktkräften“ überlassen. Um die eigenen Exporte und damit die Profite zu steigern, versuchen die kapitalistischen Staaten ihre Währungen abzuwerten.12 Das können natürlich nicht alle gleichzeitig. Die ökonomische Macht, der
wirtschaftliche Druck entscheidet, welcher Staat aus diesen Abwertungswettläufen als Sieger hervorgeht. Zur Zeit werden beispielsweise mal wieder Japan und China unter Druck gesetzt, die eigenen Währungen zugunsten der US- Wirtschaft (und der EU) aufzuwerten, damit sie auf dem Weltmarkt an Konkurrenzfähigkeit verlieren. Auch das Scheitern der Welthandelskonferenz der WTO in Cancun 2003 spiegelt die ökonomischen Machtkämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten wider.

Diese Wirtschaftskriege mögen noch vergleichsweise friedlich ablaufen. Doch „heißer“ Krieg ist ebenfalls ein Mittel, um interimperialistische Konkurrenzkämpfe auszutragen, wobei derzeit in erster Linie schwächere Staaten in Stellvertreterkriege hineingezogen werden. Der Kölner Soziologe Lutz Zündorf z.B. erwartet, speziell was das öl anbelangt, „eine Verschärfung des internationalen Kampfes – nicht nur zwischen Zentren und Peripherien, sondern auch zwischen den etablierten Zentren (wofür der Ablauf der jüngsten Irak-Krise einige Hinweise gibt) sowie zwischen diesen und den Entwicklungs- und Schwellenländern, soweit sie über keine eigenen Erdölvorkommen verfügen.“13

Die dargestellten Krisentendenzen haben die Probleme für die Kapitalisten und ihre Regierungen gewaltig verschärft. Einige Punkte: Super-Spar-Minister Eichel produziert derzeit das größte Staatsdefizit in der Geschichte der BRD. Die USA haben wieder ihre Erfolge der 80er und 90er Jahre bei der Rückführung des Staatsdefizits und des Außenhandelsdefizits verspielt. Das „Zwillingsdefizit“ erreicht dort wieder Rekordwerte und lähmt die Handlungsfähigkeit staatlicher Wirtschaftspolitik. Auch die Zinssätze der Zentralbank liegen in den USA so niedrig, dass sie praktisch nicht mehr weiter gesenkt werden können, um so noch die Wirtschaft anzustoßen. Der Kapitalismus bleibt in der Sackgasse, daran ändern auch kurzatmige kleinere „Aufschwünge“ nichts.Fussnoten:

1 Vgl. Manfred Hettlage: Wenn man über den Tellerrand der nächsten Tarifrunde schaut – die „heimlichen“ Lohnerhöhungen. In: Ifo- Schnelldienst 15/2003.
2 FAZ, 6. Oktober 2003.
3 Robert Brenner: Boom & Bubble – Die USA in der Weltwirtschaft. VSA-Verlag 2002.
4 Die OECD umfasst dreissig Mitgliedsländer und damit die Masse des Weltbruttoinlandprodukts.
5 OECD Economic Outlook, No. 73, Juni 2003.
6 USA, Japan, BRD, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Kanada.
7 R. Brenner, a.a.O., S. 76.
8 Bezeichnenderweise denkt bei dem Abbau der „Lohnnebenkosten“ niemand an die Lohnsteuer, die doch auch eine aus den Löhnen zu bezahlende Abgabe ist wie die Beiträge zur Sozialversicherung. Im Gegenteil, die Lohnsteuer ist kräftig weltweit gestiegen im Gegensatz zu den Unternehmenssteuern. Die BRD ist dabei laut OECD Spitzenreiter in der Besteuerung der Arbeitnehmer, vgl. H.-W. Sinn: Der neue Systemwettbewerb, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 3, H. 4, 2002, S. 396 und Christian Christen, Tobias Miche l, Werner Rätz: Sozialstaat. AttacBasisTexte 6, VSA-Verlag 2003, S. 25f. Für die USA: R. Brenner, a.a.O., S. 88.
9 Marx-Engels-Werke 23, S. 673.
10 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2003. PapyRossa-Verlag 2003, S. 284; allgemein zur Kapitalkonzentration a.a.O. S. 244ff.
11 Vgl. z.B. Paolo Giussani: Das Bruttoweltprodukt seit dem 2. Weltkrieg. In: Wildcat, Oktober 2003; Angus Maddison: The World Economy – A Millennial Perspective. OECD 2001. Die Wachstumsabschwächung quasi als „Naturgesetz“ in: M. Hettlage, a.a.O.
12 Brenner vereinfacht hier. Tatsächlich gibt es auch Gründe, den Wert der eigenen Währung zu verteidigen. Aber auch dann sind die Interessen der Staaten gegeneinander gerichtet.
13 Lutz Zündorf: Das Weltsystem des Erdöls. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, September 2003.

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