Den „real existierenden Sozialismus“ der DDR hatte die große Mehrheit der Linken niemals für erstrebenswert gehalten. Sein Zusammenbruch hätte deshalb eigentlich befreiend wirken müssen. Aber stattdessen machte sich tiefste Enttäuschung breit.
Daß das politische System des Stalinismus, die Herrschaft eines Kränzchens alter Männer, gestützt auf den allgegenwärtigen Bespitzelungs- und Unterdrückungsapparat, nichts mit den Idealen von Marx und Engels gemein hatte, darauf konnte man sich leicht einigen. Aber daß das Wirtschaftssystem so jämmerlich versagt hatte im Vergleich zur kapitalistischen Marktwirtschaft des Westens, das war schwerer zu verdauen.
Immerhin waren die Produktionsmittel in staatlicher Hand. Daß man auf einen privaten Telefonanschluß vielleicht zehn Jahre warten mußte, ließ sich noch damit erklären, daß die Wirtschaftsplanung unter dem diktatorischen Regime eben nicht an den Bedürfnissen der DDR-Bürger orientiert war. Aber wenn die Staatswirtschaft noch nicht einmal konkurrenzfähige Computerchips hervorbrachte – und darauf hatten die SED-Bosse nun wirklich Wert gelegt –, zu was würde der Sozialismus dann überhaupt imstande sein? War es da nicht besser, mit der gescheiterten DDR auch gleich die sozialistischen Träume zu begraben?
Die Idee, daß das Staatseigentum an den Produktionsmitteln die Grundlage ist, auf der eine gute oder schlechte, demokratische oder diktatorische, irgendwie aber immer sozialistische Gesellschaft errichtet werden kann, war und ist unglaublich weit verbreitet. Bei den Propagandisten des Kapitalismus sowieso: Für sie steckt das Teufelswerk des Sozialismus schon in der kommunalen Organisation der Müllabfuhr.
Andererseits hat ein großer Teil der Linken in der Vergangenheit jedes Stück Verstaatlichung, auch unter durchaus kapitalistischen Verhältnissen, als Schritt in Richtung Sozialismus begrüßt. Kein Wunder, daß die Auflösung der DDR-Staatswirtschaft dann als Niederlage und geschichtlicher Rückschritt empfunden wurde – auch wenn man der SED-Herrschaft keine Träne nachweinte.
Keine Selbsttätigkeit
Das Mißverständnis, das Verstaatlichung einfach mit Sozialismus gleichsetzt, bestand schon zu Lebzeiten von Marx und Engels.
Es gab eine Vielzahl unterschiedlicher Entwürfe für eine bessere zukünftige Gesellschaft, die sozialistisöh oder kommunistisch heißen sollte. „Die Erfinder dieser Systeme“, heißt es im Kommunistischen Manifest, „… erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung.“
Marx und Engels sahen dagegen in der Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse den Motor der gesellschaftlichen Umwälzung. Es ging ihnen nicht darum, detaillierte Pläne für die sozialistische Zukunft auszuarbeiten. Stattdessen besteht ihr Manifest darauf, „daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“
Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.
Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hin- austreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind.
Nicht die Verstaatlichung ist demnach die erste Voraussetzung für die sozialistische Gesellschaft, sondern „die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie“. Erst danach kann die Verstaatlichung zum „Mittel zur Umwälzung der Produktionsweise“ werden.
Macht das einen Unterschied? Aber gewiß: Wenn es allein darauf ankäme, „die Produktionsinstrumente in den Händen des Staats zu zentralisieren“, dann wäre zum Beispiel Saddam Hussein ein Vorkämpfer des Sozialismus – und der Emir von Kuwait ebenso!
Bismarcks Staatssozialismus
Eine Denkrichtung, die genau diese Beschränkung des Sozialismus auf das Staatseigentum vertrat, entstand in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland. Die Kapitalisten und die Verfechter der reinen Lehre der Marktwirtschaft, die Liberalen, hatten es damals nicht leicht. Mit Otto von Bismarck regierte ein Vertreter der Grundbesitzer, und der hatte zwar nicht den Sozialismus auf seine Fahnen geschrieben, wohl aber die Oberaufsicht der preußischen Monarchie über die Wirtschaftstätigkeit.
Die Professoren, die sich auf die Seite Bismarcks stellten, wurden von ihren Gegnern als „Katheder-Sozialisten“ bezeichnet. 1872 gründeten sie in Eisenach einen „Verein für Sozialpolitik“. Einer ihrer Sprecher, Adolph Wagner, erklärte die Tendenz des Staates, immer mehr gesellschaftliche Aufgaben an sich zu ziehen, zu einer historischen Gesetzmäßigkeit, die schließlich in einem alles umfassenden sozialistischen Staat enden würde.
Diese Theorie war für Professoren recht praktisch. Man konnte Sozialist sein und zugleich ein Anhänger der preußischen Monarchie und ihres Kanzlers. Mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wollten die Katheder-Sozialisten nichts zu tun haben. Klassenkampf und Revolution paßten nicht in ihr Konzept. Ihr Sozialismus wollte nicht die Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft fördern, die „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse“, wie es Marx und Engels ausgedrückt hatten, sondern im Gegenteil verhindern.
Bismarcks Politik war die praktische Umsetzung dieser Theorie, auch wenn der Kanzler sie durchaus nicht als sozialistisch beschrieben hätte. 1878 wurden die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verboten. In den Achtziger Jahren setzte Bismarck gegen den Widerstand der Kapitalisten die Sozialversicherungen durch. 1883 entstand die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Alters- und Invalidenversicherung.
Zur gleichen Zeit führte Bismarck ein staatliches Monopol im Tabakhandel ein und begann mit der Verstaatlichung der Eisenbahtien. Das Wort vom „Staatssozialismus“ machte die Runde.
Eine Karikatur aus dem Jahr 1881 zeigt einen Bismarck im Kasperletheater, der den Teufel („Socialdemokrat“) mit dem Beelzebub („Staats-Socialismus“) austreibt. Der Knüppel in der Hand des Teufels trägt den Titel „Unfallversicherungs-Gesetz“.
Die Sozialdemokratie und der Staatssozialismus
Der „Staatssozialismus“ war ursprünglich ein Begriff gewesen, den die wirtschafts-liberalen Gegner Bismarcks geprägt hatten. Die Sozialdemokraten hatten sich dieser Sicht nicht angeschlossen. Angesichts der fortbestehenden Unterdrückung ihrer Organisation konnten sie auch kaum auf die Idee kommen, daß die kaiserliche Regierung in ihrem Sinne handelte.
Und trotzdem: Auf leisen Sohlen schlich sich der Staatssozialismus bei den Sozialdemokraten ein. Der amerikanische Marxist Hai Draper beschreibt – im vierten Band seines Werkes Karl Marx’s Theory of Revolution – wie das vor sich ging:
Einer der Kathedersozialisten, Albert Schäffle, veröffentlichte 1875 ein einflußreiches Buch Die Quintessenz des Socialismus, das bis 1891 dreizehn Auflagen erlebte. Es diskutierte die Auffassungen der Sozialdemokratie und des Marxismus mit derart bemühter Fairness (wenn auch ohne Verständnis), daß viele der Parteiführer überzeugt waren, daß es ein nützliches Partei-Schulungsbuch abgeben würde. Höchberg (ein sozialdemokratischer Journalist, der bald darauf zum Vorkämpfer des Reformismus wurde – AB) … griff seiner eigenen Zukunft vor indem er 10.000 Exemplare zur Verteilung an Akademiker und Intellektuelle kaufte. Schäffles Buch war als Schulungstext brauchbar – als Schulungstext im Fach Staatssozialismus.
… Schäffle präsentierte Marxens Sozialismus vorrangig als Betrachtung einer zukünftigen Gesellschaft (was er genau nicht war) und er tat Marx treuherzig den Gefallen, die Zukunftsgesellschaft als jene Art Staatssozialismus zu zeichnen, den er Schäffle, verehrte. „Das A und O des Sozialismus ist die Verwandlung von privaten und konkurrierenden Kapitalen in ein vereintes Kollektivkapital“, erklärte Schäffle in Hervorhebung. Alles, was zentralisierend wirkt, „ist sehr eng mit Sozialismus verbunden“. Sozialismus ist „die universelle Anwendung des besonderen Prinzips des Staates und der öffentlichen Verwaltung“, die Ausweitung der „Idee eines behördlichen öffentlichen Dienstes“. Das kollektivistische Prinzip ist „im wesentlichen ein Staats-Prinzip“. (Die Schäffle-Zitate sind hier aus dem Amerikanischen zurückübersetzt – AB)
Diktatur des Proletariats
>Für Marx war die Zentralisierung „der Produktionsinstrumente in den Händen des Staates“ nur ein Mittel zur Umwälzung der gesellschaftlichen Produktion. Es würde nach der Errichtung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse angewendet werden. Beides, die „Diktatur des Proletariats“ und die staatlich zentralisierte Produktion, würde nicht von Ewigkeit sein: „Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assozierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.“
Schäffles „Marx“ kam ohne Selbsttätigkeit des Proletariats und ohne Revolution aus. Übrig blieb die Verstaatlichung als „Quintessenz des Sozialismus“.
Diese „Vereinfachung“ des Weges zum Sozialismus fand Widerhall, nicht nur unter den „katheder-sozialistischen“ Professoren, sondern auch in Teilen der Sozialdemokratie. Im Züricher Exil verfaßten drei Parteimitglieder (der schon erwähnte Karl Höchberg, Eduard Bernstein und Rudolf Schramm) 1879 einen Aufsatz, der zur Änderung der sozialdemokratischen Strategie aufrief. Der deutsche Sozialismus habe „zuviel Wert auf die Gewinnung der Massen gelegt und dabei versäumt, in den sogenannten oberen Schichten der Gesellschaft energische Propaganda zu machen“.
Die Partei und ihr Programm sollten zwar nicht aufgegeben werden, „wir meinen dabei, daß wir auf Jahre hinaus genug zu tun haben, wenn wir unsere ganze Kraft, unsere ganze Energie auf Erreichung gewisser naheliegender Ziele richten, welche unter allen Umständen errungen sein müssen, bevor an eine Realisierung der weitergehenden Bestrebungen gedacht werden kann.“ Dazu empfahlen die drei Züricher ihrer Partei, „den Weg der Gesetzlichkeit, d.h. der Reform zu beschreiten“.
Marx und Engels waren aufgebracht: „Wie die Partei die Verfasser dieses Artikels noch länger in ihrer Mitte dulden kann, erscheint uns unbegreiflich.“
Die Züricher wurden nicht hinausgeworfen, aber ihre Haltung konnte sich auch vorerst nicht durchsetzen. Unter dem Sozialistengesetz hielt die Partei in der Theorie an der Revolution fest. Aber in der Praxis (die legale Tätigkeit war auf die Reichstagsfraktion beschränkt) schlugen reformistische und staatssoziaiistische Ideen feste Wurzeln.
Daß beides miteinander verbunden war, belegt ein Ausspruch des Parteiführers Ignaz Auer:
Eine Partei der Revolution ist die deutsche Sozialdemokratie nie gewesen und das soll und will sie auch heute, trotz dem Ausnahmegesetz, nicht werden … Wollen wir bloß eine Sekte sein, dann können wir uns den Luxus einer Revolutionspartei aus Prinzip gestatten; wollen wir aber die Partei der deutschen Arbeiter bleiben, dann muß im Vordergrund unseres Strebens das Verlangen stehen, auf dem Wege der friedlichen – ich sage nicht der gesetzlichen – Propaganda auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet Reformen und Umwälzungen herbeizuführen, die der arbeitenden Bevölkerung zum Nutzen gereichen und zugleich uns um eine Etappe dem sozialistischen Staat näher bringen.
Lebte Ignaz Auer heute, dann würde er sich mit dieser Auffassung wohl eher auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie wiederfinden. Er könnte allerdings nicht beanspruchen, in der Tradition von Marx und Engels zu stehen. Nicht nur, weil sie entschiedene Revolutionäre waren – es war ihnen auch niemals eingefallen, den „sozialistischen Staat“ als Ziel der Arbeiterbewegung auszugeben.
Aufhebung der Klassenunterschiede
In seinem Buch über Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878) hatte Friedrich Engels dies noch einmal ganz deutlich gemacht:
Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat. […] Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen der Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein.
Auch hier steht – wie im Kommunistischen Manifest – an erster Stelle die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse. Was vorher geschieht, hat mit Sozialismus nichts zu tun:
Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier.
Allenfalls, so Engels, ist Verstaatlichung im Kapitalismus ein Signal, daß die Produktionsmittel eine Größenordnung erreichen, die von privaten Eigentümern nicht mehr bewältigt werden kann. Für Bismarcks Verstaatlichung läßt er nicht einmal dies gelten:
Allerdings, wäre die Verstaatlichung des Tabaks sozialistisch, so zählten Napoleon und Metternich mit unter den Gründern des Sozialismus … wenn Bismarck ohne jede ökonomische Notwendigkeit die Hauptbahnlin ien Preußens verstaatlichte, so waren das keineswegs sozialistische Schritte, direkt oder indirekt, bewußt oder unbewußt.
Die Verstaatlichung der Produktionsmittel ist bei Marx und Engels niemals eine unabhängige Grundlage für den Sozialismus. Sie ist immer an die Voraussetzung geknüpft, daß zuvor die Arbeiterklasse die politische Macht erobert, den alten, bürgerlichen Staat zerstört und ihre eigene demokratische Herrschaft errichtet hat. In diesem Sinne bezeichnete Karl Marx die Pariser Kommune als „die endlich entdeckte Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“.
Bestätigung der Marxschen Theorie
Die Gleichung „Staatseigentum = Sozialismus“ war immer ein Ausdruck für den „Realismus“, den Reformisten und Stalinisten für sich in Anspruch nahmen. Ängesichts sozialdemokratischer „Realpolitik“ oder des „real existierenden Sozialismus“ wurde der ursprüngliche Inhalt der marxistischen Ideen in das Reich der Utopie, d.h. der nicht realisierbaren Träume verdrängt.
Die wirtschaftliche und politische Niederlage des Staatseigentums ohne Arbeitermacht beweist nur das Scheitern dieses angeblichen Realismus. Die Marx’sche Vorstellung vom Sozialismus als Selbstbefreiung der Arbeiterklasse wird dadurch nicht widerlegt, sondern bestätigt.