Die Wirtschaftskrise von 1993 endete 1994 in einem neuen Konjunkturaufschwung. Die Konservativen unter Kanzler Kohl gewannen die Bundestagswahl 1994 unter der Parole „Der Aufschwung ist da“. Anfang Januar 1995 hatte Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) 150.000 Arbeitsplätze mehr versprochen. Statt dessen hatten Ende des Jahres 180.000 weniger Menschen als 1994 eine bezahlte Arbeit. Im Januar 1996 wird die Zahl der Arbeitslosen vermutlich zum ersten Mal die Vier-Millionengrenze überschreiten. Der ursprüngliche Optimismus ist verflogen. Der Chefökonom der Dresdner Bank, Klaus Friedrich, schließt „ein Abkippen in die Rezession“ nicht mehr aus, und sein Kollege Norbert Walter von der Deutschen Bank sieht sogar Anzeichen einer weltweiten Depression.
„Depression“ bezeichnet eine langanhaltende Phase der Stagnation oder des Rückgangs der Wirtschaft, wie sie zuletzt in den dreißiger Jahren weltweit vorherrschte. Zur Unterstützung seiner Befürchtung weist Norbert Walter darauf hin, daß „in den vergangenen 30, wenn nicht 60 Jahren“ es keine Situation mit so ausgeprägten weltweitem Parallelverhalten in Richtung auf ein Abbremsen der Konjunktur gegeben habe. Er verweist auf die weltweit schwache Tendenz der Nachfrage und die „restriktive Fiskalpolitik“ der wichtigsten Staaten.
Das Gespenst der Depression hat die bisher so selbstbewußte Kohl-Regierung erschüttert. Die siegreiche Wahlparole „Der Aufschwung ist da“ ist zum Bumerang geworden. Erstes Opfer ist die FDP, die mit Rexrodt den Wirtschaftsminister stellt, der nun als „glücklos“ gilt. Rexrodt gilt im Kabinett Kohl als Verfechter der Lehre einer reinen angebotsorientierten Wirtschaftspolitik (Monetarismus).
Mit seinem Namen ist die sogenannte „Standortdebatte“ verbunden. Der Produktionsstandort Deutschland, so lautet die Theorie, könne nur verteidigt werden, wenn und soweit die Produktionskosten, vor allem aber die Lohnkosten gesenkt würden, dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit verteidigt und über eine Exportoffensive die gegenwärtige Stagnationskrise überwunden werden könne. Regierung und Staat müssen flankierende Maßnahmen ergreifen: Steuersenkungen für Unternehmer, Abbau von Lohnnebenkosten, Abbau des Haushaltsdefizits durch Einsparungen im Sozialhaushalt, Verringerung der Staatsquote (Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt [BSP]).
In ihrer Theorie folgen Rexrodt und die Kohl-Regierung insgesamt einer angebotsorientierten oder monetaristischen Doktrin. Zwischen Theorie und Praxis klafft allerdings ein krasser Widerspruch. Seit der Wiedervereinigung von 1990 tragt die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik ausgeprägt nachfrageorientierte, keynesianische Züge.
Hierzu einige Zahlen, die gemeinhin als Indikatoren für eine keynesianische Wirtschaftspolitik gelten. Der Staatsanteil am BSP („Staatsquote“) stieg von 45,7% des BSP (1990) auf 50,4% (1995). Selbst zu den Hochzeiten der SPD-Regierung Mitte der 70er Jahre (1975) hatte die Staatsquote nur 49,5% betragen. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ist von 1950 bis 1990 von 18,7 auf 1.048 Milliarden Mark gestiegen, von 1990 bis 1995 aber auf 2006 Milliarden Mark. Innerhalb der letzten fünf Jahre ist also die Staatsverschuldung um etwa den gleichen Betrag angestiegen wie in den vierzig Jahren davor. Gerhard Schröder (SPD) nannte den Transfer von jährlich 150 Milliarden Mark seit 1991 nach Ostdeutschland „das größte schuldenfinanzierte Beschäftigungsprogramm, das es jemals gegeben hat. (Der Spiegel, 52/1995)
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Verschuldung der öffentlichen Haushalte ist nach Keynes der Weg zur Überwindung von Krisen. In Deutschland hat sich die Staatsverschuldung unter dem „Antikeynesianer“ Bundeskanzler Kohl vervierfacht, die Arbeitslosigkeit aber zugleich verdoppelt. Gerhard Schröder (SPD) nannte die Verschuldungspolitik Kohls |
Die Kluft zwischen keynesianischer Praxis und monetaristischer Theorie hat zuletzt den Sprecher des Unternehmerverbandes DIHT Hans Peter Stihl dazu veranlaßt, die Kohl-Regierung scharf anzugreifen: „Es wird zuviel geredet (‚Theorie‘) und zuwenig entschieden (‚Praxis‘).“
Wenn die Finanzpolitik der Kohl-Regierung seit 1990 mit ihrer hohen Staatsverschuldung also durchaus „keynesianische“ Züge trug, so hatte sie aber nicht die von Keynes damit intendierten Konsequenzen für Konjunktur und Arbeitslosigkeit. Der Anstieg der Staatsverschuldung und die defizitäre Haushaltspolitik konnten den Ausbruch der Krise von 1993 nicht verhindern und haben einen dahinsiechenden „Aufschwung“ hervorgebracht, der bislang den Namen kaum verdient.
Aber das Gespenst der Depression hat Ende 1995 nicht nur die bisher so selbstbewußt auftretende Kohl-Regierung erschüttert, es hat auch die SPD-Führung verunsichert. Die Beschlüsse des Mannheimer Parteitags vom November betonten noch die „Notwendigkeit … einer strikten Begrenzung der Ausgaben und der Nettokreditaufnahmen (des Staates)“ und forderten „eine konsequente Sparpolitik“ im Rahmen einer „verläßlichen Konsolidierungsperspektive“.
Staatsverdschuldung
Wenige Wochen später warnte Oskar Lafontaine (SPD-Vorsitzender), „daß es immer schwerer (werde) die öffentliche Verschuldung im Rahmen der in Maastricht beschlossenen Grenzen zu halten“. Falls die Konjunktur sich weiter abschwäche, „müßten notfalls höhere Staatsschulden … hingenommen werden“. (FR 13.12.95) [1] Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) warnte davor, „durch Sparpolitik das abzuwürgen, was wir zum Blühen bringen wollen, die Beschäftigung“. Und er bekannte sich zu dem urkeynesianischen Satz des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD): „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“ („Dieser Satz gilt auch für mich.“)
Dagegen wamte der Fraktionschef der SPD, Rudolf Scharping, „in die Verschuldung hineinzurennen“. Sie zerstöre jeden politischen Gestaltungsspielraum. Und seine Stellvertreterin im Bundestag, Ingrid Matthäus-Meyer, beteuerte, daß die SPD im Bundestag auch in Zukunft Kanzler Kohl und Finanzminister Waigel als „Weltmeister im Schuldenmachen“ kritisieren werde. Sie kritisierte Lafontaine, dem sie vorwarf, „ein schuldenfinanziertes Strohfeuer“ abbrennen zu wollen.
Der Schlagabtausch unter SPD-Führern über die Frage der Staatsverschuldung zeigt, daß die SPD keine Rezepte zur Überwindung von Krise und Massenarbeitslosigkeit besitzt. Wir wollen im folgenden der Frage nachgehen, welche Rolle die Lehren von John Maynard Keynes in der Sozialdemokratie gespielt haben und warum sich ihre führenden Vertreter seit Mitte der achtziger Jahre mehr und mehr davon abgewandt haben.
Bernstein
Karl Marx hatte bei seinem Studium des Kapitalismus herausgefunden, daß die kapitalistische Wirtschaftsweise nach den ihr innewohnenden Gesetzen zu periodisch wiederkehrenden Krisen führen müsse, die sich nicht nur wiederholten, sondern langfristig katastrophisch verschärften. Das wichtigste Gesetz war das vom „tendenziellen Fall der Profitraten“, dem sich der Kapitalismus nur vorübergehend auf Grund entgegenwirkender Tendenzen entziehen könnte. Die siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts schienen Marx Recht zu geben: es kam zu den vorausgesagten periodischen Krisen, und die Wirtschaft verfiel darüber hinaus in eine lange Depression, aus der sie sich nicht mehr zu erholen schien.
Nach 1893 rissen zwar die periodischen Krisen nicht ab, aber die Grundtendenz hatte sich geandert. Es folgte ein nachhaltiger Aufschwung. Der Kapitalismus hatte im Imperialismus eine neue Expansionsmöglichkeit gefunden, die Gesetzmäßigkeit der sich verschärfenden Krisen schien aufgehoben. Auf dem Höhepunkt des imperialistischen Aufschwungs im Jahr 1909 hielt der frühere Marxist und spätere Parteitheoretiker des rechten, revisionistischen Flügels, Eduard Bernstein, einen Vortrag, in dem er erklärte, daß das „alte Schema der Krisenentwicklung unhaltbar geworden ist“. Das Schema müsse fallen, „vor allem der Gedanke an eine wirtschaftliche Riesenkatastrophe … Dieser Gedanke nimmt steigend an Wahrscheinlichkeit ab.“
Als Hauptgrund für die Überwindung der Krisen führte Bernstein die wachsende Konzentration und Zentralisation des Kapitals in Kartellen und Trust an. Die Kartellierung von Industrien habe
zu Möglichkeiten der Regulierung der Produktion geführt, die früher fehlten, und dies … scheint dahin zu wirken, daß die Krisen und Depressionen des Geschäftslebens schneller als früher überwunden werden.
An die Stelle von Chaos und Anarchie trete immer mehr das Element der Planung und der Organisation.
Rosa Luxemburg, die schärfste Kritikerin von Bernsteins Theorie eines „gezähmten Kapitalismus“ in der SPD vor 1914, führte dagegen an, daß die
Einschränkung der Konkurrenz … nur im Innenhandel gelange: Auf dem Weltmarkt verschärft sich die Konkurrenz und Anarchie.
Die ökonomische Konkurrenz der Kartelle im Weltmaßstab führe aber notwendig dazu, „die Gegensätze zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten auf die Spitze zu treiben“.
Bernstein leugnete vor 1914 beides: die Verschärfung der Konkurrenz und die Gefahr eines bewaffneten Zusammenstoßes der imperialistischen Mächte im Weltmaßstab.
Nach 1914 mußte Bernstein nicht nur den politischen Zusammenstoß der imperialistischen Großmächte im Ersten Weltkrieg erleben. Mit Ausnahme eines kurzen Wirtschaftsaufschwungs von 1924-28 waren auch die Jahre nach dem ersten Weltkrieg von schweren wirtschaftlichen Krisen gekennzeichnet. Als Bernstein am 18. Dezember 1932 starb, war die Weltwirtschaft in eben eine solche katastrophale Krise gestürzt, die es nach seiner Diagnose gar nicht mehr geben durfte.
Hilferding
Bernsteins Theorie vom gezähmten Kapitalismus wurde in der Weimarer Republik von Rudolf Hilferding aufgenommen und weiter entwickelt.
In einer programmatischen Grundsatzrede auf dem SPD-Parteitag in Kiel 1927 ging Hilferding ähnlich wie zuvor Bernstein davon aus, daß der Kapitalismus durch wachsende Konzentration seine Periode der freien Konkurrenz und Anarchie tendenziell überwunden habe. Der Kapitalismus befinde sich, so führte Hilferding aus, in einer
neuen Periode, in der im wesentlichen die Ära der freien Konkurrenz, in der der Kapitalismus rein durch das Walten der blinden Marktgesetze beherrscht war, überwunden ist, und wir zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft.
Wie Bernstein behauptete auch Hilferding, daß die wirtschaftliche Entwicklung jegliche Zusammenbruchstheorien widerlegt habe. Anders als Bernstein behauptete er jedoch, daß Karl Marx selbst nie eine solche Theorie aufgestellt habe. Und anders als Bernstein ging Hilferding auch auf Rosa Luxemburgs Gegenargument ein, indem er behauptete, die kapitalistische Konkurrenz werde nicht nur national, sondern auch international aufgehoben. Er sprach „vom Bestreben, die nationalen Monopole, Kartelle und Truste international zusammenzufassen“. Er zeigte sich „erstaunt, wie sehr der Drang nach internationaler Organisation lebendig wird“.
Hilferding ging sogar noch weiter. In der schrittweisen Überwindung des freien Marktes durch Monopolbildung sah er einen Schritt zum Sozialismus:
Organisierter Kapitalismus – rief er den Delegierten zu – bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion
Wo Bernstein die Komponente der Verschärfung der internationalen Konkurrenz der nationalen Konzerne schlicht ignorierte, leugnet sie Hilferding mit dem Hinweis, auch die internationale Konkurrenz werde durch eine „internationale Zusammenfassung“ der Monopole und Trusts schrittweise überwunden.
Hilferding entwickelte seine Thesen vom „organisierten Kapitalismus“ Mitte der zwanziger Jahre, also in der kurzen Blütezeit der Weltkonjunktur zwischen 1925 und 28. Die hereinbrechende Weltwirtschaftskrise von 1929 zerstörte auch diese Träume vom „organisierten Kapitalismus“.
Weltwirtschaftskrise
Als die SPD 1931 in Leipzig erneut einen Parteitag abhielt, gab es bereits mehr als fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland, und ein Ende der Krise war nicht in Sicht. Schon der Titel des Hauptreferats des Gewerkschaftsführers Fritz Tarnow (Kapitalistische Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse) demonstrierte, daß Hilferdings Theorien ausgedient hatten. Nicht die Überwindung der Krisen, sondern ihr erneutes, zerstörerisches Ausbrechen galt es nun zu erklären. Deshalb sagte Tarnow gleich am Beginn seiner Rede:
Parteigenossen, wir wissen, daß solche Krisen natürliche Erscheinungen des Kapitalismus sind …
Und er machte klar, daß die Aufgabe der Zähmung des Kapitalismus noch langst nicht geleistet war:
… was die Menschen noch nicht gelernt haben, ist die Bändigung (auch) der Wirtschaft, die Herstellung einer vernünftigen Wirtschaftsordnung … Die Aufgabe durchzuführen, das ist unsere historische Mission. Wir klagen das kapitalistische System an!
Und dann widerlegt Tarnow eindrucksvoll die Thesen Hilferdings und Bernsteins, daß die Bildung von Monopolstrukturen im Kapitalismus die Krisen das System planbar und kalkulierbar gemacht hätten:
Der Monopolkapitalismus … hebt in der Gesamtwirtschaft die Anarchie nicht auf er verlegt sie nur in andere Größenordnungen. Der organisierte Kapitalismus hat den ökonomischen Bürgerkrieg Mann gegen Mann aufgehoben und ihn in einen ökonomischen Bandenkrieg umgewandelt. Aber der Krieg ist mit allen seinen Zerstörungen geblieben, und die Zerstörungen sind jetzt in vieler Beziehung noch schlimmer; denn der organisierte Kapitalismus schießt mit Granaten, wo früher nur Flintenkugeln flogen.
Der Gegensatz zwischen Tarnows und Hilferdings Analyse über die Auswirkungen der Monopolisierung auf die Krisen im Kapitalismus könnte kaum großer sein. Wo Hilferding eine Dämpfung der Krisen und bereits eine teilweise Überwindung des Kapitalismus im sozialistischen Sinn einer rationell lenkbaren Wirtschaft gesehen hatte, sah Tarnow in den monopolkapitalistischen Wirtschaftsorganisationen einen
Strukturwandel im kapitalistischen System, der zweifellos die Krisen verschärft hat und ihren Ablauf verlangsamt.
Am deutlichsten käme dies in der Störung des Preismechanismus und des Kapitalmarkts zum Ausdruck: Die marktbeherrschenden Organisationen verzögerten den Fall der Preise in Krisenzeiten; das Kapital flösse in erster Linie in die Monopolwirtschaft, wo es Überkapazitäten künstlich erhielte, die bei freier Konkurrenz durch die Krise zerstört worden waren.
Nach dieser vernichtenden Kritik Tarnows an den Thesen Hilferdings und Bernstein hätte man praktische Schlußfolgerungen erwarten können, die auf eine Beseitigung des Kapitalismus hinausliefen. Stattdessen forderte er, daß die Sozialdemokratie erst einmal „Arzt am Krankenlager des Kapitalismus“ spielen müsse:
Der Patient (= der Kapitalismus – VM) selbst erbarmt uns gar nicht so sehr, aber die Massen, die hinter ihm stehen. Wenn der Patient röchelt, hungern die Massen draußen. Wenn wir das wissen und eine Medizin kennen, selbst wenn wir nicht überzeugt sind, daß sie den Patienten heilt, aber sein Röcheln wenigstens lindert, so daß die Massen draußen mehr zu essen bekommen, dann geben wir ihm die Medizin und denken im Augenblick nicht so sehr daran, daß wir doch Erben sind und sein baldiges Ende (d.h. den Sozialismus – VM) erwarten.
Die von Tarnow vorgeschlagene Medizin, die dem Kapitalismus erst einmal wieder auf die Beine helfen sollte, bestand im wesentlich aus zweierlei Maßnahmen: Einmal sollte der Staat sozusagen künstlich durch antimonopolistische Maßnahmen die Bedingungen der freien Marktwirtschaft wiederherstellen, damit die alte Krisendynamik wieder greifen könnte. Dieser Vorschlag war rückwartsgewandt und utopisch – als hätte man die Uhr der kapitalistischen Entwicklung einfach um 50 Jahre zurückdrehen können. Tarnow fiel theoretisch sogar noch hinter Hilferding und Bernstein zurück, die richtig gesehen hatten, daß es gerade der freie Markt war, der die Krisen hervorbrachte, den Tarnow iederherstellen wollte.
Zum anderen sollte der Staat eine „systematische Konjunktur- und Arbeitsbeschaffungspolitik“ durchführen. Diese Forderungen gingen in die Richtung einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, blieben aber in ihren Konsequenzen sogar noch hinter dieser zurück. Denn Tarnow sagte nicht, wie die öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Staatsauftrage finanziert werden sollte.
Bis Mitte der zwanziger Jahre zeigt die Kurve der Arbeitslosen starke Ausschläge nach oben und nach unten. Jeder Krise folgte ein Aufschwung, der die Arbeitslosigkeit wieder beseitigte. Seit Mitte der siebziger Jahre haben die Aufschwünge nicht mehr die Kraft, die Arbeitslosigkeit der vorangegangenen Krise aufzusaugen. |
Eine Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ließ sich aus Tarnows Vorschlagen nicht herauslesen. So blieb weniger als nichts übrig: Die SPD, die vorerst nicht der Erbe des Kapitalismus werden wollte, konnte auch nicht sein Arzt sein.
Hilferding und die SPD-Reichstagsfraktion lehnten im übrigen Tarnows Forderungen nach mehr Staatsinterventionismus aus zwei Gründen ab.
Erstens gefährdeten sie die Politik der Tolerierung der katholisch-konservativen Regierung durch die SPD im Reichstag. Die Brüning-Regierung verfolgte eine rein „angebotsorientierte“ Politik zur Überwindung der Krise. Ihr Hauptziel bestand darin, die Preise für deutsche Industrieprodukte mittels Lohnabbau und Sozialkürzungen zu senken, um den Export anzukurbeln und so die Krise nach außen zu verlagern, eine Politik, die sich als katastrophal erwies, weil sie von allen Industriestaaten gleichzeitig verfolgt wurde und direkt in einen Zusammenbruch der Weltmärkte führte.
Zweitens stellte sich Hilferding und die SPD-Reichstagsfraktion auch aus eigener Überzeugung gegen jede kreditfinanzierte Staatsnachfrage, weil sie darin die Gefahr der Inflation sahen. Die Parteiführung blieb unter Hilferdings Einfluß bis zum Schluß auf Deflationskurs. Der Streit zwischen den Gewerkschaftsführern um Tarnow und der SPD-Führung unter Hilferding erinnert an den heute in der SPD-Führung schwelenden Streit um die Frage der Staatsverschuldung.
Ansonsten verfiel Tarnow in einen für die SPD-Führer in den frühen dreißiger Jahren so typischen, aber unbegründeten Zweckoptimismus, daß es schon nicht so schlimm kommen werde und daß auch die- se Krise irgendwie vorübergehen werde:
Ich glaube (!), daß die Wirtschaft die Wege finden wird, die wieder zum Aufstieg führen, und ich befinde mich damit … in Übereinstimmung mit ziemlich allen Wirtschaftstheoretikern in unseren Reihen.
Selbst dem Anwachsen der faschistischen Bewegung konnte er noch eine positive Seite abgewinnen, indem er im Nationalsozialismus eine Vorstufe des Sozialismus sah. Es werde sich herausstellen,
daß im „Braunen Haus“ in München (NSDAP-Zentrale, d.V.) letzten Endes mehr Rekruten für uns gedrillt werden als für den Kapitalismus.
Viele Hilfstruppen der NSDAP seien „von einer scharfen Feindschaft gegen das kapitalistische System erfüllt. Sie haben schon gelernt, den Kapitalismus zu verfluchen. Sie haben nur noch nicht den Sozialismus begriffen“.
Keynes und die Sozialdemokratie
Kein Zweifel: Die optimistischen Prognosen Bernsteins und Hilferdings über die zunehmende Krisenfestigkeit des Kapitalismus infolge der wachsenden Organisierung der Märkte und der Vorteile des Kreditsystems waren durch die wirkliche Entwicklung widerlegt worden. Die Marxsche Zusammenbruchstheorie bestätigte sich in einem wörtlicheren Sinn, als es die meisten Marxisten für möglich gehalten hatten. Das Volkseinkommen sank in den USA zwischen 1929 und 1933 um 57,7%; in Deutschland nahm es zwischen 1929 und 1932 um etwa 40% ab, in England fiel es bis 1933 „nur“ um 15%.
Die Weltwirtschaftkrise bedeutete das Ende der liberalen Ökonornie und ihres Glaubens an die stabilisierende Harmonie des kapitalistischen Systems. Kernstück der liberalen Theorie war das „Saysche Gesetz“, nach dem ein allgemeines Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage nicht möglich ist, da in dem Marktsystern die Produzenten Waren nur auf den Markt bringen, um ihrerseits Nachfrage nach Waren zu erzeugen. Die Gesamtsumme von Käufen und Verkäufen muß sich notwendig die Wage halten.
Auch die heute wieder vorherrschende Schule der „Neoklassiker“ stützt sich auf dieses Gesetz. Sie behauptet, daß die „unsichtbare Hand“ des Marktes dafür sorgt, daß die produzierten Waren auch ihre Käufer finden, daß Angebot und Nachfrage sich entsprechen. Die Preise, so die Theorie, signalisieren den Kapitalisten, was sie produzieren sollen. Aber die Theorie hat Löcher.
Preis“signale“ können niemals Angebot und Nachfrage, Produktion und Konsum reibungslos aufeinander abstimmen. Denn die Produktion braucht Zeit. Die Preissignale geben nicht an, was nachgefragt wird, wenn die Produktion abgeschlossen ist, sondern was nachgefragt wird, bevor sie begann. Dieser Zeitfaktor schafft enorme Probleme. Es gibt keine Koordination zwischen konkurrierenden Firmen und schon deshalb kommt es ständig zum Wechsel von Überproduktion (Krise) und „Übernachfrage“ (Boom).
Die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise hatte nicht nur die Marxsche Krisentheorie gegen seine Kritiker innerhalb der Arbeiterbewegung rehabilitiert. Auch unter bürgerlichen Ökonomen wuchsen die Zweifel am reibungslosen Funktionieren der freien Marktwirtschaft. Zu ihrem bedeutendsten Kritiker im bürgerlichen Lager wurde der britische Ökonom John Maynard Keynes. Er argumentierte, daß der freie Markt, sich selbst überlassen, notwendig zu Krisen führen müsse, in denen sowohl die Nachfrage als auch das Angebot fielen und nur deshalb im Gleichgewicht stünden, weil sie beide auf ein sehr niedriges Niveau sänken. Deshalb müßte der Staat in die Wirtschaft eingreifen, statt auf deren Selbstheilungskräfte zu pochen.
Keynes wandte sich auch gegen die Theorie der „Klassiker“, daß nur die Lohnkosten genügend sinken müßten, um den Aufschwung herbeizuführen, wenngleich er keineswegs, wie einige seiner Schüler später behaupteten, eine Unterkonsumtionstheorie vertrat, d.h. in zu niedrigen Masseneinkommen die Hauptkrisenursache sah. Ähnlich wie Marx beobachtete er einen langfristigen Fall der Profitrate („sinkende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“), die ein Zurückbleiben der Nachfrage nach Investitionsgütern bewirkt. [2]
Keynes’ Ansatzpunkt bei seinem Bemühen, die Krise zu überwinden, ist der Begriff der „effektiven Nachfrage“. Die bis dahin selbstverständliche Grundannahme, daß das Angebot sich seine Nachfrage schaffe, mußte aufgegeben werden. Die staatliche Finanzpolitik tritt in Aktion und ersetzt die fehlende Nachfrage durch öffentliche Aufträge. Allerdings darf dabei kein Geld ausgegeben werden, das sonst anderweitig für den privaten Konsum oder die private Investition ausgegeben worden wäre. Die Regierungsausgaben dürfen also nicht aus Steuern, sondern müssen aus Anleihen finanziert werden. Würden sie aus Steuern oder zusätzlichen Abgaben finanziert, so würde das in der Regel nur auf eine Ersetzung privater durch öffentliche Nachfrage, nicht aber auf einen Nettozuwachs an „effektiver Nachfrage“ hinauslaufen. Der Begriff der „effektiven Nachfrage“ ist bei Keynes daher unzertrennlich mit dem Begriff des „deficht spending“ (Staatsverschuldung) verbunden. Die Staatsausgaben sollten außerdem möglichst die zentralen Sektoren der Wirtschaft ankurbeln, d.h. den Investitionsgütersektor, und schließlich dürften sie nicht in Bereichen angelegt werden, in denen sie mit den privaten Investitionen konkurrieren würden.
Keynes entwickelte seine Theorien erst in den dreißiger Jahren. In den Debatten der Sozialdemokratie vor 1933 hatten seine Ideen keine Bedeutung, wenn auch die Forderungen der Gewerkschaften (ADGB) nach öffentlichen Arbeitbeschaffungsmaßnahmen in eine „nachfrageorientierte“, keynesianische Richtung zielten.
Der amerikanische Keynes-Schüler J.K. Galbraith hat darauf hingewiesen, daß vor dem Weltkrieg zwei Staaten die Politik von Keynes erfolgreich umgesetzt hätten: Nazi-Deutschland und das sozialdemokratische Schweden, eine rechte (Rüstungswirtschaft) und eine linke Spielart (Wohlfahrtsstaat) der defizitären Staatsnachfrage. Die rechte Spielart der Rüstungs- und Kriegswirtschaft hat sich schließlich über den zweiten Weltkrieg durchgesetzt.
Hatte der Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt der USA vor 1939 in Friedensjahren nie mehr als 1,5% ausgemacht, so betrug er in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durchschnittlich 10%. Demgegenüber hat sich der Anteil der Sozialausgaben am BSP gegenüber 1929 so gut wie nicht erhöht. Auch in Großbritannien und Frankreich wurde aus der Kriegswirtschaft eine permanente Rüstungswirtschaft mit hohen Anteilen der Rüstung am BSP (6 bis 7% in beiden Ländern bis in die 60er Jahre). Lediglich die Verlierer des Weltkriegs Deutschland und Japan folgten diesem Muster nicht. Sie profitierten über hohe Exporte aber von der hohen Staatsverschuldung der USA, die damit über Jahrzehnte zur Lokomotive der Weltkonjunktur wurde. [3]
Linkskeynesianer
Sozialdemokratische Politiker bekannten sich in den fünfziger und sechziger Jahren universell als Keynesianer. Ähnlich wie Bernstein vor 1914 schlossen sie aus der Tatsache einer langen Hochkonjunktur, daß der Kapitalismus endgültig gezähmt sei. Dabei tendierten sie dazu, die Bedeutung der Rüstung für den Aufschwung zu ignorieren oder herunterzuspielen. Sie argumentierten, als hatte sich nicht das rechte Modell des Rüstungskapitalismus, sondern das linke des Wohlfahrtsstaats durchgesetzt.
In Westdeutschland blieb das Interesse an den Ideen Keynes’ in den fünfziger Jahren noch gering. Der erste Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) war ein eingefleischter Antikeynesianer. Die deutsche Wirtschaft partizipierte über hohe Exporte an der Verschuldungspolitik anderer Staaten. Sie erntete die Fruchte einer Welthochkonjunktur, zu deren Zustandekommen sie zunächst nichts beitrug. Die Bonner Regierung verzeichnete in ihren Haushalten bis 1956 sogar einen Überschuß, aus dem dann nach 1956 die Wiederaufrüstung ohne wesentliche Steuererhöhungen oder Verschuldung der Regierung bezahlt werden konnte.
Wenngleich die offizielle Wirtschaftsdoktrin so durch den Antikeynesianer Ludwig Erhard geprägt war, gewannen linkskeynesianische Ideen in der Linken und unter Gewerkschaftern großen Einfluß. 1953 erschien in deutscher Übersetzung ein Sammelband britischer Autoren (Neue Beiträge sozialistischer Autoren [4]), die der Labour Party angehörten. Der Unterhausabgeordnete C.A.R. Crosland kritisierte darin die marxistische Zusammenbruchstheorie und sprach vorn Beginn einer neuen, nichtkapitalistischen oder vorsozialistischen Gesellschaftsordnung. In ihr hatten die Kapitalisten ihre Stellung als herrschende Klasse bereits verloren, die „Macht des Staates ist ungeheuer gewachsen“. Der Staat sei jetzt eine „unabhangige, verrnittelnde Macht, die das Wirtschaftsleben des Landes beherrscht“. Und:
Es besteht die allgemeine Tendenz der Erhaltung eines hohen Beschäftigungsgrades, und eine erneute chronische Massenarbeitslosigkeit ist höchst unwahrscheinlich. Man versteht heute die Keynesschen Arbeitsmethoden gut …
Zwar trage die neue Gesellschaftsordnung noch Züge des alten Kapitalismus. Aber:
Sie ist auch sozialistisch, weil die Verteilung der Einkommen nach viel stärkeren Prinzipien der Gleichstellung vorgenommen wird und weil ein Großteil der wirtschaftlichen Macht und der Industrie sozialisiert wurden, weil es allgemeine Mindestlöhne und einen Wohlfahrtsausgleich gibt und weil sich die Ziele der Wirtschaftsplanung weitgehend mit den traditionellen wirtschaftlichen Zielen decken.
Die neue Gesellschaftsordnung nennt Crosland „Staatismus“. Der Name sei zwar häßlich:
Aber der fundamentale Wandel, den der Kapitalismus durchgemacht hat, ist der Umschwung vom „Laisser faire“ zur staatlichen Kontrolle. [5]
Croslands Thesen knüpfen an die Theorien vom „organisierten Kapitalismus“ Hilferdings aus den zwanziger Jahren an, der ähnlich wie Crosland im „organisierten Kapitalismus“ eine Übergangsgesellschaft zum Sozialismus gesehen hatte. Beide sahen im Ende der freien, ungebundenen Marktwirtschaft einen entscheidenden gesellschaftlichen Fortschritt, nur daß Crosland nicht im Monopol, sondern im Staatsinverventionismus den entscheidenden Durchbruch sah.
Eine weitere britische Theoretikerin des Linkskeynesianismus, die mit ihren Schriften einen großen Einfluß auf die deutsche Linke innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie ausübte, war Joan Robinson. Sie schrieb:
Das Wesentliche an der Theorie von Keynes (ist): Eine ungleiche Einkommensverteilung erzeugt eine chronische Tendenz zu einem Zurückbleiben der Nachfrage hinter den produktiven Kapazitäten der Industrie. Diejenigen, die konsumieren wollen, haben kein Geld, um zu kaufen und schaffen so keinen profitablen Markt. Diejenigen, die Geld haben, haben kein Interesse daran, so viel zu konsumieren, wie sie könnten, sondern wollen Reichtum akkumulieren, das heißt sparen. [6]
Anders als Keynes, der in zu niedrigen Profitraten eine wichtige Rolle für das Aufkommen des Nachfragedefizits und der Krise sah, argumentierte Joan Robinson, daß zu hohe Profite zu Überproduktionskrisen führten. Unter monopolistischen Verhältnissen funktioniere der Preismechanismus nicht mehr. Die Preise sinken nicht rnehr mit den Kosten und führen zu erhöhten Profitspannen. Das gehe zu Lasten der Reallöhne, die nun nicht mehr proportional mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität wachsen. Die Folge sei, daß die Konsumnachfrage nicht mehr proportional dem Wachstum der Produktionskapazität zunehme, und so Überkapazitäten und Arbeitslosigkeit entstehen.
Einen Ausweg sah Joan Robinson in starken Gewerkschaften. Sie könnten durch offensive Lohnkampfe die Reallöhne steigern und die Profitrate verringern, und eben dies sei in den westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg tendenziell der Fall gewesen. Die Gewerkschaften sind tatsächlich erfolgreich als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus tätig geworden, der Traum Tarnows von 1932 ist sozusagen mit Verspätung in Erfüllung gegangen.
Unterkonsumsionstheorie
Unterkonsumtionstheorien gewannen auch in den deutschen Gewerkschaften große Popularität. Der Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI) des DGB, Dr. Victor Agartz, entwickelte 1953 ein Konzept der „expansiven Lohnpolitik“, das er auf dem Frankfurter Bundeskongreß des DGB 1954 unter großem Beifall der Delegierten vortrug. Agartz forderte die Gewerkschaften auf, die Lage der arbeitenden Massen umfassend und fortschreitend zu verbessern. Dabei sollten sie die Gewinne der Unternehrner abschopfen, um einen erneuten Einbruch der Konjunktur und Wiederauftreten der Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. So sprach er davon,
daß es einer expansiven Lohnpolitik bedarf nicht um den Lebensstandard der Werktätigen zu heben, sondern um die Konjunktur abzuschirmen und die Vollbeschäftigung zu sichern
Auf Joan Robinsons Thesen stützte sich der österreichische Sozialdemokrat Theodor Prager, dessen Schriften in der ersten Hälfte der sechziger Jahre auch in der deutschen Linken populär waren:
Die elementare Logik der kapitalistischen Akkumulation tendiert stets dazu, die Produktionspotenzen mit aller Macht zu entfalten, die Löhne aber möglichst im Zaum zu halten, und hierin wurzelt die unausrottbare Tendenz zur relativen Überproduktion … Indem die Gewerkschaft der unbegrenzten Profitmacherei entgegenwirken, verbessern sie die Chancen, große Verluste zu vermeiden. Indem der Lohnkampf die Absatzchancen verbessert, wirkt er der Krise entgegen. Indem der gewerkschaftliche Kampf der Ausbeutung Grenzen setzt, verbessert er die Chancen der Ausbeuterwirtschaft. [7]
Die Erklärung der kapitalistischen Krisen aus der mangelnden Kaufkraft ist jedoch höchst einseitig und deshalb falsch.
Richtig ist zwar, daß die Versuche, Absatzkrisen durch Lohnkürzungen zu überwinden, die Krisen verschlimmern können, wie die Weltwirtschaftskrise von 1929-33 zeigt. Aber der Umkehrschluß der Linkskeynesianer, daß hohe Löhne Krisen verhindern können, ist ebenso falsch. Er berücksichtigt nicht, daß die Nachfrage nach Investitionsgütern im wesentlichen von der Investitionsneigung der Kapitalisten abhängt, die wiederum von der zu erwartenden Profitrate bestimmt ist.
Gerade die deutsche Entwicklung widerlegt das Unterkonsumtionstheorem in doppelter Hinsicht. Unter dem Faschismus wurde durch die Aufrüstung und bei Beibehaltung der extrem niedrigen Löhne von 1932 eine Hochkonjunktur ausgelöst. In der Nachkriegszeit erreichte der westdeutsche Kapitalismus seine höchsten Wachstumsraten in den fünfziger Jahren, als die Profite den Löhnen weit vorauseilten und die Vemögensverteilung sich zugunsten der Kapitalisten verschob. Nicht niedrige Profitraten, sondern hohe waren der Motor einer jährlichen durchschnittlichen Wachstumsrate von 7,8% zwischen 1950 und 1960. Der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen (bereinigte Lohnquote) ging in diesem Zeitraum von 85.7 auf 78.8% zurück.
Erst mit Erreichen der Vollbeschäftigung gegen Ende der fünfziger Jahre stiegen die Löhne stärker als die Profite. Die Lohnquote stieg von 78,5 (1960) auf 81,4% (1970). Im gleichen Zeitraum lag die jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts jedoch mit 4,4% wesentlich niedriger als in den fünfziger Jahren.
Aber erst mit der Verlangsamung der Wachstumsraten wurde in der BRD der Ruf nach mehr Staatsinterventionismus im Sinne von Keynes laut. Mit Prof. Karl Schiller (SPD) wurde 1966 ein gemäßigter Keynesianer zum ersten Mal Wirtschaftsminister. Mit einer antizyklischen Wirtschaftspolitik wollte er das Wirtschaftswachstum verstetigen. Die von den linken Keynesianern verfochtene Kaufkrafttheorie lehnte Schiller jedoch ab. Zu seinem Lenkungsinstrumentarium gehörte die „konzertierte Aktion“, eine Form staatlicher „Einkommenspolitik“ zur Bremsung des Lohnanstiegs.
Heute hat sich die Debatte unter dem Druck der anhaltenden Stagnationskrise des Weltkapitalismus merkwürdig verkehrt. Die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate liegt im wiedervereinigten Deutschland der neunziger Jahre bei 2%. Die Linkskeynesianer sind politisch kaum mehr wahrnehmbar. Selbst der IG-Metall-Vorsitzende Zwickel hat mit seinem Vorstoß für ein „Bündnis für Arbeit“ auf dem Berliner Gewerkschaftstag der IG Metall 1995 sozusagen probeweise das „Kaufkraftargument“ fallen lassen, indem er den Unternehmern einen Tausch von niedrigeren Einstiegslöhnen für Langzeitarbeitslose gegen Neueinstellungen anbietet.
Ein weiteres Argument des linken Keynesianismus verdient Beachtung, das dem „Arzt-am-Krankenbett“ Theorem noch hinzugefügt wurde und es ergänzte. Stellvertretend für viele andere sei noch einmal Theodor Prager zitiert, der 1963 in einem damals viel diskutierten Buch mit dem Titel Wirtschaftswunder oder keines? die These entwickelte, daß die Aufschwungphase des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg primär durch eine grundlegende Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse zwischen Kapitalismus und antikapitalistischen Kräften weltweit beruhte, die seine Existenz in Frage stellten. Das seien neben der Arbeiterklasse innerhalb der westlichen Länder die Kolonialrevolution und noch wichtiger „die Konkurrenz der nichtkapitalistischen Systeme, die eine ständige hohe Wachstumsrate aufweisen“.
Immerhin haben der Schock von 1945, der Druck einer selbstbewußt auf den Plan tretenden Arbeiterklasse und die Entmachtung des Kapitals im Osten den Oligarchien (des westlichen Kapitalismus – VM) eine expansionistische Linie aufgezwungen, haben Konjunktur- und Wachstumspolitik erzwungen. [8]
Heute, sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, stellt sich der wahre Sachverhalt umgekehrt dar. Östlicher Staatskapitalismus und westlicher Monopolkapitalismus erlebten beide in den ersten Jahrzehnten nach 1945 einen starken Aufschwung. Die Mitte der siebziger Jahre wieder einsetzende Krise erfaßte alle Teile des einen Weltsystems, erschütterte aber die wirtschaftlich schwächeren Glieder des Ostblocks tiefer und gründlicher. Nicht der Kommunismus hat die Krisen des Kapitalismus besiegt, sondern umgekehrt – die Krise des Kapitalismus hat den Kommunismus besiegt. Gescheitert ist mit dem Kommunismus nicht der Sozialismus, sondern Versuche, die alte Krise des Marktkapitalismus durch den Staatskapitalismus zu lösen. Der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit im Westen und der Zusammenbruch des Stalinismus sind Ausdruck der gleichen krisenhaften Entwicklung des Weltkapitalismus.
Krise des Keynesianismus
Stalinismus und Keynesianismus sind zwei Formen staatskapitalistischer Lenkungssysteme. Die Krisen, die im Osten zum Zusammenbruch des Stalinismus führten, zogen im Westen den Zusammenbruch des Keynesianismus nach sich.
Zunächst gilt es jedoch festzuhalten, daß bis Mitte der siebziger Jahre der Glaube an die Wirksamkeit der keynesianischen Steuerung in der internationalen Sozialdemokratie, speziell auch in der deutschen, ungebrochen war. Die Reden, Wahlprogramme und sonstigen Veröffentlichungen der SPD aus jener Zeit sind voller Begeisterung über die Machbarkeit und Planbarkeit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse. Neben der „mittelfristigen Finanzplanung“ gab es nach 1966, dem Jahr des Regierungseintritts der SPD, einen „Finanzplanungsrat“, einen „Sportplan“, einen „Grünen Plan“ für die Landwirtschaft, einen „Goldenen Plan“, einen nach dem Verkehrsminister Georg Leber (SPD) genannten „Leber-Plan“, einen Energieplan, und die SPD forderte einen Bildungsplan und einen langerfristigen Sozialplan. Von dem Begriff der „Planung“ ging eine elektrisierende Faszination aus.
Der Finanzexperte und zweite Vorsitzende der SPD, Alex Möller, erklärte 1967 in einer Haushaltsdebatte im Bundestag:
Wenn wir unsere Freiheit sichern wollen, müssen wir daran denken, was wir nicht zufällig, sondern bewußt in den kommenden Jahren zu tun haben. Das geht nicht ohne Planung … Planung setzt Dynamik frei …
Der Durchbruch des Keynesianismus erfolgte in Deutschland mit der Ernennung des gemäßigten Keynesianers Prof. Karl Schiller zum Wirtschaftsminister.
1965 hatte die westdeutsche Inflationsrate fast 4% erreicht und lag damit zum ersten Mal über dem internationalen Durchschnitt. Gleichzeitig mit der Bildung der Großen Koalition erhöhte die Bundesbank die Leitzinsen und bremste damit die Konjunktur ab. Die Zahl der Arbeitslosen stieg auf die damals alarmierend hohe Zahl von über 500.000. Karl Schiller sah seine Aufgabe u.a. darin, im Rahmen einer neu gebildeten „Konzertierten Aktion“ die Gewerkschaften zum Lohnverzicht zu überreden (was ihm von Herbst 1966 bis zum Frühjahr 1969 auch gelang). Zugleich kürzte die Große Koalition etwa 2,5 Mrd. DM im Sozialhaushalt (Arbeitnehmer) und bei den Bauern.
Der „Erfolg“ war durchschlagend: Die Lohnstückkosten gingen 1967 (–0,6%) und 1968 (–0,8%) sogar zurück, die Inflationsrate fiel von 3,5 (1966) auf 1,4% (1967), der Exportmotor sprang wieder an und gegen Ende 1967 war die Rezession überwunden. Die 1967 zugleich mit der Dämpfung der Massenkaufkraft aufgelegten „Eventualhaushalte“ zur Ankurbelung der Investitionen, das eigentlich keynesianische Element, spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Karl Schiller ließ sich als Krisentöter feiern.
Fall der Profitrate
Der Keynesianismus der SPD unter Wirtschaftsminister Karl Schiller (1966-72) und später unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-82) hatte immer schon eine Nachfrageseite (staatliche Nachfrage nach Investitionsgütern) und eine „Angebotseite“ (Senkung der Lohnkosten und Masseneinkommen). In den drei Konjunkturkrisen unter sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung (1967, 1975, 1981) kamen immer beide Elemente zum Tragen, die Dämpfung von Löhnen und konsumtiven Staatsausgaben sowie die Erhöhung der Staatsnachfrage zur Belebung des Investitionsgütersektors. Sie unterschieden sich vom linken Keynesianismus, indem sie die positive Bedeutung steigender Profitaussichten für Investitionsentscheidungen privater Kapitalisten betonte. Und sie unterschieden sich vom klassischen Liberalismus darin, daß sie in Krisenzeiten zum Mittel der defizitär finanzierten Staatsnachfrage griffen.
Mit dem Mitte der Siebziger einsetzenden weltweiten Verfall der Profitraten verschärfte sich die internationale Konkurrenz in einer seit 1945 nicht gekannten Weise, das Wachstum der Weltwirtschaft verlangsamte sich. Ende der achtziger Jahre betrugen die durchschnittlichen Profitraten sowohl in den USA wie in der Europäischen Union nur etwa 60% von denen der fünfziger und sechziger Jahre.
In der Rezession 1975, die durch die Bundesbank (mit stillschweigendem Einverständnis eines sozialdemokratischen Kanzlers!) durch Erhöhung der Zinsen gezielt ausgelost worden war, stieg die Arbeitslosigkeit auf 1,1 Millionen. Wie 1967 wirkte die Regierung auf die Gewerkschaften ein, Lohnverzicht zu üben, um die Profitaussichten der Kapitalisten zu verbessern. Sie legte auch wieder ein paar Investitionshaushalte auf, aber die Konjunktur kam nach kurzem Aufschwung rasch wieder ins Stocken. Jetzt zeigte sich, daß sich die internationalen Bedingungen seit 1967 grundlegend gewandelt hatten. Die Weltmärkte wuchsen langsamer, über eine Steigerung des Exporte ließ sich eine Stagnation der Binnenkonjunktur nicht mehr überwinden. Anders als nach der Rezession von 1967 ging deshalb die Arbeitslosigkeit 1975 und 1976 nicht zurück.
Die USA übten nun starken Druck auf Deutschland und Japan aus, die Rolle der Konjunkturlokomotive der westlichen Welt zu übernehmen. Schließlich verpflichtete sich die Regierung Schmidt 1978 zu zusätzlichen nachfragesteigernden Ausgaben in der Größenordnung von 1% des Bruttosozialprodukts. Daraus entstanden die „Zentralen Investitionsprogramme“ (ZIP) der Jahre 1977-81. Die Programme zeigten sogar Wirkung. 1979 stieg das Wirtschaftswachstum noch einmal auf 4,2%, die Arbeitslosigkeit ging zurück. Eine neue internationale Krise 1980-81 machte jedoch diese Anstrengungen zunichte. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte überstiegen die Importe die Exporte beträchtlich. Die „Flucht in den Export“ funktionierte nicht mehr.
Insofern war 1980 eine neue Situation eingetreten. Trotz ZIP kam es zu einem Konjunktureinbruch. Die Regierung geriet in Panik und warf die keynesianische Ausgabenpolitik über Bord. Statt „antizyklisch“ die Staatsnachfrage zu erhöhen, legte sie ein Sparprogramm nach dem anderen auf, was vorwiegend der Kürzung von Sozialausgaben diente, also die Arbeitnehmer traf und trug so – ganz gegen alle keynesianischen Lehrbücher – zur Verschärfung der Krise bei. Im Winter 1981 erreichte die Arbeitslosigkeit die 2-Millionen-Grenze.
In anderen europäischen Ländern sah es nicht besser aus.
In Großbritannien wurde eine Labour-Regierung 1976 vom Internationalen Währungsfond (IWF) gezwungen, Ausgabenkürzungen von über 30 Milliarden DM (in heutigen Werten) im Sozialetat durchzuführen und eine Verdoppelung der Arbeitslosigkeit von 2,9% (1974) auf 6,1% (1977) hinzunehmen. Unter dem Eindruck der Krise sagte der damalige Labour-Premier James Callaghan auf dem Parteitag 1976:
Wir dachten, wir könnten uns aus den Krisen freikaufen, indem wir Steuern senkten und die staatliche Verschuldung erhöhten … Diese Möglichkeit besteht nicht langer; wenn sie überhaupt je bestanden hat, dann haben wir dafür mit Inflation bezahlt. Und jedesmal, wenn das passierte, stieg der Anteil der Arbeitslosen.
Die Alternative zur öffentlichen Verschuldung … käme einer Kapitulation vor der Bewältigung von wirtschaftlichen Krisen gleich. (Alex Möller 1967, stellv. SPD-Vorsitzender) |
Ähnliche Erfahrungen folgten in Frankreich Anfang der Achtziger, wo die Sozialistische Partei Mitterands zunächst mit einem Programm der Wiederbelebung der Wirtschaft und der sozialen Reformen gewählt worden war. Sie endete mit fast vier Millionen Arbeitslosen. Selbst in Schweden, dem Musterbeispiel des linken Keynesianismus, verfolgte eine sozialdemokratische Regierung eine Politik der Deflation, die 14 Prozent Arbeitslose hinterließ.
Die harte Realität war, daß der Keynesianismus nicht mehr funktionierte.
In einer in SPD-Führungskreisen viel zitierten und gelesenen Studie über Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, worin Fritz W. Scharpf die Erfahrungen von keynesianischer Steuerungspolitik in Großbritannien, Österreich, Schweden und Deutschland vergleicht, heißt es:
Anders als in den ersten drei Nachkriegjahrzehnten gibt es derzeit keine ökonomisch plausible keynesianische Strategie, mit der im nationalen Rahmen die sozialdemokratischen Ziele voll verwirklicht werden könnten, ohne daß dadurch Funktionsbedingungen der kapitalistische Ökonomie verletzt werden.
Scharpf fordert die SPD auf, eine „auf den Privatsektor bezogene sozialdemokratische Angebotspolitik“ zu entwickeln. Diese müsse
auf die Steigerung der Unternehmenserträge gerichtet sein, und sie muß bei den Produktverfahren der Unternehmen ansetzen. [9]
Scharpf erkennt ausdrücklich an, daß eine solche sozialdemokratische angebotsorientierte Politik „immer die Einkommensposition der Klasse der Kapitalbesitzer im Verhältnis zur Klasse der Arbeitnehmer …“ begünstigt. Der Sozialdemokratie bliebe aber nichts anderes übrig, als die „historische Niederlage erst einmal zu akzeptieren“ und mit ihr „die Grenzen ihrer binnenwirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten“. An den Zielen des Demokratischen Sozialismus müsse sie auch dann festhalten, wenn „dieser nur als Sozialismus in einer Klasse“ verwirklicht werden könne.
Die im Mannheimer Parteitag beschlossene Resolution zur Wirtschafts- und Finanzpolitik ist ganz in Scharpfs Sinn ein Versuch „sozialdemokratischer Angebotspolitik“. Zwar heißt es gleich zu Anfang: „Wir setzen auf eine Doppel-Strategie aus Angebot und Nachfrage.“ Zu einer nachfrageorientierten Politik im Sinne des Keynesianismus findet man aber im ganzen Antrag sonst nichts, zu einer „angebotsorientierten“ Politik der Kostensenkung um so mehr: „Alle Ausgabenblöcke müssen auf den Prüfstand. Die Ansprüche an den Staat müssen zurückgenommen werden …“ Von einer „konsequenten Sparpolitik“ ist die Rede, „auf allen staatlichen Ebenen müssen die Konsolidierungsanstrengungen verstärkt werden“. Notwendig sei eine „strikte Begrenzung der Ausgaben und der Nettokreditaufnahme“, die „gesetzlichen Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden“, bei der „ökologischen Modernisierung gilt das Prinzip strikter Aufkommensneutralität“ usw.
Dazu, was „konsequente Sparpolitik“ in einer Krise bedeutet, erklärte Alex Möller (SPD) in seiner bereits zitierten Rede im Bundestag:
„Die Alternative zur öffentliche Verschuldung, nämlich die öffentlichen Ausgaben der sinkenden Steuereinnahme anzupassen, kann wohl von niemandem ernsthaft gewollt werden. Eine solche Politik käme einer Kapitulation vor der Bewältigung von wirtschaftlichen Krisen gleich. Wir hatten dann nicht nur den gesamtwirtschaftlichen Abschwung noch verschärft, sondern die Deckungsprobleme der öffentlichen Haushalte erheblich vergrößert. [10]
Eine ganze Generation von ehemals linken Keynesianern in der SPD folgte in den achtziger Jahren den von Fritz Scharpf empfohlenen Pfaden. Sie nannten sich „Modernisierer“. Im Einleitungsteil der zitierten Mannheimer Resolution wird das Wort „modern“ wie eine Beschwörungsformel acht mal auf zwei Seiten benutzt. Modern ist an ihrer Kapitulation vor der Krise des Kapitalismus gar nichts. Sie erinnert an die historische Kapitulation Hilferdings und der SPD-Reichstagsfraktion 1929-33, die damals hilflos den konservativen Deflationskurs der Brüning-Regierung unterstützte.
Die Regierung Helmut Schmidts endete 1982 mit 2 Millionen Arbeitslosen, die Regierung Helmut Kohls steht schon bei 4 Millionen. Die Illusionen der sozialdemokratischen Keynesianer in einen krisenfreien Kapitalismus sind in den achtziger und neunziger Jahren ebenso zerstoben wie die der Reformsozialisten Bernstein und Hilferding nach 1929. Bernstein und Hilferding und ebenso Keynes hatten aber immerhin erkannt, daß der Kapitalismus ein wildes Tier ist, das man erledigen (Bernstein) oder zumindest zahmen muß (Keynes). Die heutigen „Modernisierer“ erkennen zwar die Gefahren der „Globalisierung“ und der verschärften internationalen Konkurrenz, aber sie ziehen daraus den merkwürdigen Schluß, das wilde Tier laufen zu lassen. Das ist keine gesunde Reaktion für Menschen, die nicht bei lebendigem Leib verschlungen werden wollen.
Der Kapitalismus hat nichts von seiner unkontrollierbaren Dynamik und seiner zerstörerischen Kraft verloren. Die Krisentheorie von Karl Marx war nie unmodern geworden, aber es war leicht, sie für überholt zu erklären, als der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg von seiner bis dahin tiefsten Krise in seinen längsten und steilsten Aufschwung überging. Modern sein heißt heute, der unbequemen Tatsachen ins Auge zu sehen, daß die Krise des Kapitalismus erneut auf eine katastrophale Zuspitzung zulauft und daß wir uns auch in Europa und den entwickelten Industrieländern früher oder später erneut vor die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ gestellt sehen werden.
Anmerkungen
1. Nur vier Tage später schrieb die Süddeutsche Zeitung von einer erneuten Kurskorrektur Lafontaines: „Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine hat sich nach Kritik aus den eigenen Reihen gegen kreditfinanzierte Ausgabenprogramme ausgesprochen und damit frühere Äußerungen, notfalls eine höhere Verschuldung in Kauf nehmen zu wollen, revidiert.“ Die Debatte über solche Programme zur Stützung der Konjunktur sei „absurd“. (SZ 16./17.12.95)
2. So schrieb Keynes: „Die Anschauung, daß die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten im Jahre 1932 entweder durch die hartnäckige Weigerung der Arbeiter verschuldet wurde, eine Kürzung der Geldlöhne anzunehmen oder durch ihr hartnäckiges Bestehen auf einem Reallohn, der höher war als der, den die Produktivität des Wirtschaftslebens bieten konnte, klingt nicht sehr überzeugend.“ (Keynes)
3. Eine genauere Darstellung der Entwicklung der permanenten Rüstungswirtschaft findet sich bei Christoph Deutschmann, Der Linke Keynesianismus, Frankfurt 1973 oder bei Chris Harmann, Wohin geht der Kapitalismus, Frankfurt 1995. Deutschmann wies darauf bin, daß „die Funktion der permanenten Rüstungswirtschaft in den USA für die Entwicklung der Nachkriegszeit sich (also) erst dann erschließt, wenn man sie als internationales System betrachtet, d.h. ihre Rückwirkung auf das imperialistische System als Ganzes untersucht. In dem Maße, wie die Rüstungswirtschaft in den USA ihre stabilisierende ökonomische Wirkung für die nationale Wirtschaft (der USA) einzubüßen begann, wirkte sie dank der besonderen Stellung des Dollars als internationaler Reservewährung als internationales ‚deficit spending‘, das zur Fortsetzung der Prosperität des Gesamtsystems einen wichtigen Beitrag leistete.“ (Christoph Deutschmann, Inflation und Währungskrise, in: V. Brandes (Hrsg.), Perspektiven des Kapitalismus, Handbuch 1, Frankfurt am Main 1974, S.82) Das übersehen die deutschen und internationalen Kritiker der hohen Verschuldungspolitik der US-Regierungen. Sie schaufeln sich gewissermaßen mit der Forderung nach Senkung des US-Defizits ihr eigenes Grab.
4. Frankfurt, 1953. Titel der Originalausgabe New Fabian Essay, London 1952.
5. a.a.O., S.70
6. zitiert nach Christoph Deutschmann, Der linke Keynesianismus, Frankfurt 1973.
7. Theodor Prager, Der Lohnkampf als Triebfeder der gesellschaftlichen Dynamik, in Festschrift für Otto Brenner, Frankfurt 1967.
8. Theodor Prager Die unwirtschaftliche Rüstungswirtschaft, Referat gehalten auf einem Seminar des SDS in Frankfurt 1965, zitiert nach Probleme sozialistischer Politik 1, Frankfurt 1966, S.64
9. Fritz W. Scharpf, Frankfurt 1987, S.332f.
10. Tatsachen – Argumente Nr.230/67, Herausgeber: Vorstand der SPD