Am 12. Juli, pünktlich zum Besuch des amerikanischen Präsidenten Clinton in Berlin, der Deutschland zum wichtigsten Partner der USA in Europa erklärte, verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil: Einsätze der Bundeswehr im Rahmen internationaler Bündnisse sind – bei Zustimmung der Mehrheit des Bundestages – verfassungskonform.
Diese Entscheidung gibt grünes Licht für den bereits geplanten Um- und Ausbau der Bundeswehr und zum Aufbau von Interventionstruppen, oder, wie Verteidigungsminister Rühe es ausdrückt, zur „zweiten Gründung der Bundeswehr“.
Mit Spannung erwartet …
wurde das Urteil des BVerfG natürlich nur in der deutschen Offentlichkeit. Denn die Entscheidung der Richter fügt sich nahtlos in die laufende Interpretation des Grundgesetzes ein. So stellt Dr. Albrecht Randelzhofer im Standard-Kommentar zum Grundgesetz, herausgegeben unter anderem von Theodor Maunz, der „beinahe allwöchentlich“ (Frey) in der National-Zeitung geschrieben hat, von dessen ehemaligen Assistenten und jetzigem Bundespräsidenten Roman Herzog sowie von Ex-Verteidigungsminister, Rupert Scholz, bereits im Dezember 1992 fest: „Da Art 24 II GG[Beitritt zu kollektivem Sicherheitssystem] keine abschließende Regelung des Streitkräfteeinsatzes ist, kann ein Streitkräfteeinsatz im Ausland auch außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit auf Art. 32 1 [Auswärtige Beziehungen] und 59 GG [völkerrechtliche Vertretungsmacht] gestützt werden.“ [1] Dieser Interpretation zufolge ist auch ein militärischer Alleingang Deutschlands vom Grundgesetz gedeckt.
Doch es wäre zu einfach, diese Entwicklung auf eine etwaige Kriegsbegeisterung der Militärs, Politiker und Verfassungsjuristen zurückzuführen, auch wenn diese bei manchen vorkommen mag. Es stellt sich vielmehr die Frage, warum gerade nach dem Wegfall der Bedrohung durch den Ostblock das deutsche Militär im Mittelpunkt der Bemühungen der Bundesregierung um eine „Normalisierung“ Deutschlands steht. Eine Antwort wird nur mit Hilfe einer historischen Betrachtung möglich sein.
Die Hegemonie der USA
Nach den beiden Weltkriegen und der Schwächung der europäischen Staaten lösten die USA und die UdSSR England und Frankreich als Weltmächte ab. Als Gegenleistung für amerikanischen Schutz und Wirtschaftshilfe gaben die europäischen Mächte ihren exklusive wirtschaftliche Stellung gegenüber ihren Kolonien auf. Mit Bretton Woods installierten die USA, die nur wenige Kolonien besaßen, ein von ihnen wirtschaftlich dominiertes System des freien Welthandels. Später, auch unter dem Druck sozialer Bewegungen, verloren die europäischen Staaten die meisten ihrer Kolonien.
Der Kalte Krieg ließ die Differenzen der westlichen Staaten in den Entwicklungsländern in den Hintergrund treten. Vorrang bekam der unter amerikanischer Führung betriebene „roll-back“ des sowjetischen Einflusses. Die USA, deren hegemoniale Stellung durch das System von Bretton Woods gestärkt wurde, mußten zu seiner Aufrechterhaltung erhebliche militärische Kosten tragen. Die europäischen Staaten konnten sich lange Zeit im militärischen Windschatten der USA halten und gewannen zunehmend wirtschaftliche Macht. Doch letztlich hat sich der Einsatz der USA in ihrem Sinne gelohnt. Sie ist nach dem Ende der Sowjetunion, auch wenn die europäischen Mächte, wie auch China und Japan, aufholten, die einzige verbliebene Weltmacht.
Europäischer Imperialismus
Die europäischen Staaten verstanden es dennoch, ihre Verbindungen zu den Entwicklungsländern und deren Eliten aufrechtzuerhalten. Beispiele sind der Commonwealth und die französische CFA-Zone in Afrika, in der eine Währung mit festem Wechselkurs gegenüber dem Franc gilt, aber auch die beiden Lomé-Abkommen der Europäischen Gemeinschaft. Diese Abkommen wurden erst kürzlich bei den Importbeschränkungen für sogenannte „Dollar-Bananen“ genutzt.
Für die deutschen Eliten stellte sich die Situation nach dem zweiten Weltkrieg schwierig dar. Ihr erstes Ziel war es, die staatliche Souveränität Deutschlands wiederzuerlangen. Über die EG, die inzwischen wirtschaftlich von der Bundesrepublik dominiert wird, versucht die deutsche Politik, am Einfluß Englands und Frankreichs teilzuhaben. Nicht umsonst sprach sich Kohl in der Debatte um Maastricht eindeutig für ein stärkeres Zusammenwachsen der Europäischen Union aus – hier sieht man, daß nationale Interessenpolitik nicht immer mit traditionell verstandenem Nationalismus gleichzusetzen ist.
Die Ausbeutung der Entwicklungsländer
Mit der Dekolonisation wandelte sich die politisch-militärische Abhängigkeitsverhältnis in ein vorwiegend wirtschaftliches. Die Kräfte des Marktes und der Konkurrenz wiesen den Entwicklungsländern, die bei der Produktion von industriellen Gütern wegen fehlender Produktionsmittel mit den Industriestaaten nicht konkurrieren konnten, die Rolle von Nahrungsmittel- und Rohstoffexporteuren zu. Doch oft sind nicht die Staaten die Exporteure, sondern hauptsächlich westliche Firmen, die die niedrigen Löhne und Sozialstandards in den Entwicklungsländern ausnutzen. Bestrebungen, die Produktion zu verstaatlichen, wie etwa in Chile 1970-73, wurden von den Industriestaaten dagegen rücksichtslos bekämpft.
Diese Bedingungen – notwendig, um in den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern überhaupt Kapital verwerten zu können – werden von den Eliten der Entwicklungsländer gesichert, die ihrerseits von den Industriestaaten gestützt werden. Bisher waren die USA der Hauptakteur solcher geheimdienstlicher und militärischer Interventionen. Die USA führten Krieg in Vietnam, übergaben der indonesischen Armee Todeslisten vermeintlicher oder tatsächlicher Kommunisten und schreckten nicht davor zurück, das Terrorregime Pinochets zu unterstützen, um das internationalisierte kapitalistische Ausbeutungsverhältnis aufrechtzuerhalten.
Amerikas Rückzug
Dies hat sich seit der Auflösung der Sowjetunion geändert. Die USA müssen nun, nach dem Ende der fundamentalen Bedrohung des marktwirtschaftlichen Systems durch den Ostblock, dieses System nicht mehr als Ganzes stützen. Schon beim zweiten Golfkrieg hielt Washington die europäischen Staaten an, ihr geringeres militärisches Engagement durch erhöhte finanzielle Beteiligung auszugleichen. Das amerikanische Militär konzentriert sich zunehmend auf den Schutz der rein nationalen Interessen der USA. So hat Clintons Sicherheitsberater Lake angekündigt, die USA werden UN-Friedensmissionen nur unter der Bedingung der „Förderung amerikanischer Interessen“ zustimmen. [2] Das relativ geringe militärische Engagement der USA im Krieg auf dem Balkan ist ein weiteres Beispiel.
Brüche in Europa
Wo aber der globale Schutz durch die USA wegfällt, da müssen die Eliten der anderen Mächte ihre jeweiligen wirtschaftlichen Einflußsphären selbst absichern, auch militärisch. Dabei tun sich bereits die ersten Brüche zwischen den Staaten auf. So betrieb die Bundesrepublik gegen den erklärten Willen der übrigen EG-Staaten ihre Anerkennungspolitik gegenüber Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, und Frankreichs Staatspräsident Mitterand kündigte zwei Tage nach einer Konferenz der Westeuropäischen Verteidigungsunion, die gemeinsame Neutralität vereinbarte, die französische Intervention in Ruanda an. Daß Clinton bei seinem Besuch in Berlin Deutschland zum ersten europäischen Partner kürte, kontert Großbritanniens Außenminister Hurd mit dem verweis auf die militärische Zusammenarbeit mit den USA: „Wir haben mit den USA Beziehungen, die einzigartig sind und in gewissen Bereichen – etwa nuklearen Fragen, Geheimdiensterkenntnissen und anderen Feldern – mit niemandem geteilt werdern“ [3] Tatsächlich haben die USA in Zusammenarbeit mit Großbritannien und Frankreich vor kurzem die Lieferung von Plutonium für den deutschen Kernreaktor in Garching verhindert.
Strategische Allianzen oder Re-Nationalisierung?
Noch scheinen die Konflikte zwischen den westlichen Staaten nicht so groß, daß nicht eine Kooperation möglich ist, wo die Interessen aller westlichen Mächte bedroht sind, wie zum Beispiel im zweiten Golfkrieg. Doch in eine solche Kooperation werden nur die Staaten einbezogen werden und entsprechenden Nutzen ziehen, die sich auch militärisch beteiligen. Wie auch immer sich die strategischen Allianzen in Zukunft herausbilden – erst recht im Falle einer vollständigen Re-Nationalisierung der Politik – deutsches Militär wird an der Sicherung des Abhängigkeitsverhältnisses der Dritten Welt teilnehmen müssen, um deutschen Eliten einen Anteil an deren Ausbeutung zu verschaffen.
Doch nicht nur die Entwicklungsländer sind das Ziel imperialistischer Politik. Diese zielt ebenso auf das in Osteuropa entstandene politische Vakuum. Bislang suchen die westeuropäischen Mächte hier vor allem auf wirtschaftlichem Wege Einfluß zu gewinnen, Deutschland etwa in den baltischen Staaten und in Kroatien. Sollten die europäischen Mächte bestehende Konflikte, wie in Jugoslawien bereits geschehen, weiter für ihre Zwecke ausnutzen oder gar schüren, dann rückt auch ein Krieg zwischen diesen Mächten in greifbare Nähe.
Regionalisierung der Weltwirtschaft
Auch auf wirtschaftlichem Gebiet zeigt sich die zunehmende Fragmentierung des internationalen Systems. Zum einen erreichte der Außenhandel der OECD-Staaten bezüglich ihres Bruttosozialprodukts erst Ende der achtziger Jahre das Niveau von 1913. Zudem kann trotz des Abschlusses der GATT-Verhandlungen von einer globalen Vernetzung des Welthandels keine Rede sein. Die starke Zunahme des intraregionalen Handels, vor allem in der EG, aber auch in der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA), läßt sich eher als Regionalisierung, als Ausbildung wirtschaftlicher Blöcke, die politisch abgesichert werden, beschreiben. So sank der Anteil der Extra-EG-Exporte an allen Exporten der EG-Staaten von 58% (1960) auf 39% (1990), sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt ging leicht von 11,3% auf 11,0% zurück. Der Anteil des Extra-NAFTA-Exports an allen Exporten der NAFTA-Staaten ging von 55,1% (1980) auf 39,2% (1992) zurück. [4] Und zwischen den USA und Japan bahnt sich bereits ein neuer Handelskonflikt an.
„So wird denn weiter munter neues Vokabular erfunden und die Offentlichkeit damit eingelullt.“ Konteradmiral Dr. Günther Pöschel |
Diese politische Abschottung der Wirtschaftsregionen gegeneinander könnte den Keim einer Regionalisierung der gesamten Weltwirtschaft beinhalten – eine Entwicklung, die auch nach der Weltwirtschaftskrise der dreißiger stattfand. Denn eine Abschirmung gegenüber anderen Industriestaaten bei gleichzeitigem Freihandel mit Entwicklungsländern bedeutet eine engere politische und wirtschaftliche Anbindung derer an die jeweilige Industriemacht. Zeichnet sich hier bereits eine Wiederbelebung des alten Kolonialismus ab? Der Zugang zu Rohstoffen spielt jedenfalls eine wichtige Rolle bei der neuen Bundeswehr-Planung.
„Der Krieg ist der Ernstfall“
Ähnlich wie nach dem Beitritt der DDR unter dem Schlagwort „Normalisierung“ die alte Bundesrepublik von der Rechten zum angeblichen „Sonderweg“ erklärt wurde, betrieb die militärischen Elite einen Kurswechsel. So vermißte Generalmajor Johann Adolf Graf von Kielmannsegg in der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Zeitschrift Truppenpraxis während des Golfkriegs bei vielen Soldaten die Disziplin und erklärte: „Und der Ernstfall ist eben nicht nur der Frieden, […] so gut sich damit werben läßt. Der Ernstfall ist vor allem der Krieg.“ [5]
Und auch Konteradmiral Dr. Günther Pöschel sieht ein gestörtes verhältnis von Gesellschaft und Politik zum Krieg: „Mit einer wahren Besessenheit wird nach meinem Eindruck seit geraumer Zeit versucht, militärische Terminologie friedfertiger und gesellschaftlich angepaßter zu machen Da wird alles umgewandelt, was auch nur im entferntesten an Krieg, verteidigung, Kampf, Tod, töten, sterben u.ä. erinnert. Die neuen Wortschöpfungen sind unklar, dehnbar, glitschig wie Aale und kaum mehr für den exakten militärischen Sprachgebrauch tauglich. […] So wird denn munter weiter neues Vokabular erfunden und die Öffentlichkeit damit eingelullt.“ [6] So viel zu friedenserhaltenden, friedensschaffenden, friedenserzwingenden und sonstigen Einsätzen.
Nationale Interessen
Auch auf höchster Ebene wird der Ausbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee vorangetrieben. Am 26. November 1992 erließ Verteidigungsminister Rühe die „verteidigungspolitischen Richtlinien“, denen ein von Generalinspekteur Klaus Naumann im Februar 1992 veröffentlichtes Papier mit dem Titel Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr zugrunde liegt. Rühe nennt als zentrale Kategorien die „deutschen Wertevorstellungen und Interessen“ und bestimmt damit die Bundeswehr nicht mehr vorrangig als Teil des NATO-Bündnisses, sondern als nationale Armee. Rühe: „Die nationale Interessenlage ist daher auch Ausgangspunkt der Sicherheitspolitik eines souveränen Staates.“ [7]
Und tatsächlich fordert Generalinspekteur Naumann in einem geheimen Papier: „Die Konzeptionelle Leitlinie verlangt, zukünftig für Einsätze der Bundeswehr außerhalb der Bündnisstrukturen eine zentrale, TSK-[(Teilstreitkräfte)]-übergreifende Führung der eingesetzten Truppenteile durch den Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt sicherzustellen. Das bedeutet: Zur Planung, Führung und Koordination von Einsätzen im Frieden außerhalb der Bündnisstrukturen ist ein zentrales, TSK-übergreifendes Führungselement unterhalb des verteidigungsministeriums zu errichten.“ [8] – ein neues Oberkommando? Willy Wimmer, Ex-Verteidigungs-Staatssekretär und CDU-Mitglied, warnte bereits davor, daß sich „der Apparat [der Bundeswehr] verselbständigt“ habe. [9]
Ein Platz an der Sonne?
Rühes Papier nennt zudem zehn „vitale Sicherheitsinteressen“ der deutschen Politik, zu denen auch die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“ [10] gehört. Weist diese Zielvorgabe bereits den Weg zu einem militärischen Imperialismus Deutschlands? Träumt Rühe gar von einen Platz an der sonne? Georg Leber, früherer SPD-Verteidigungsminister, greift jedenfalls in aller Öffentlichkeit entsprechendes Vokabular auf, wenn er von der „einfache[n] Einsicht“ spricht, „daß die Würde einer großen Nation eine Schwester ihrer Bürde ist.“ [11] Und Helmut Kohl kündigte vor kurzem an, daß der „Sparkurs“ bei der Bundeswehr nun zu Ende sei.
Das Symbolische darf bei einem solchen Unterfangen natürlich nicht fehlen, und so hat Rühe Ende 1992 beschlossen, das „Militärgeschichtliche Forschungsamt“ 1994 ins vor allem militärisch traditionsreiche Potsdam zu verlegen. Auch einige andere wissenschaftliche Einrichtungen sollen im Großraum Berlin-Potsdam zu einem „Geistigen Zentrum“ zusammengefaßt werden. [12] Und auch die Kritik am angeblichen Sonderweg des geteilten Deutschland – und an den Politikern, die sich nicht von ihm lösen wollen, darf nicht fehlen. So wirft Rühe 1993 der deutschen Außenpolitik vor, daß sie „in dieser Situation zwischen 1990 und 1992 reflexartig nach dem vorprogrammierten Denk- und verhaltensmuster reagierte und die Alternative einer systematischen Infragestellung ihrer eigenen Grundlage in der Perspektive weiterer veränderung der europäischen Situation von vornherein ausschloß“. [13]
Die Klage der FDP
Der „Neugestaltung“ der Bundeswehr stand nun nur noch der verfassungskonsens entgegen, wonach die Bundeswehr nur zur verteidigung dienen dürfe. Sieht man sich an, wie dieser von seiten der Regierungsparteien aufgekündigt wurde, so liegt die vermutung nahe, daß es auch um andere Dinge ging als um den Status der Bundeswehr. Während CDU und CSU, allen voran verteidigungsminister Rühe, die Interpretation der verfassung auf kaltem Wege – mittels vollendeter Tatsachen – durchsetzen wollte, bevorzugte die FDP den formalen Weg und machte dies durch ihre Klage vor dem Bundesverfassungsgericht auch deutlich. Zeigen sich hier die Unterschiede zwischen einer Klientelpartei des – zunächst rechtlich geschützten – Kapitals gegenüber einer „Volks“partei, die auch von den staatlichen Eliten (Beamte, Militär, Polizei) getragen wird, oder ist hier auf eine wahltaktische Differenzierung des konservativen Lagers, wie sie sich auch bei anderen gegenüber der Wirtschafts- und Militärpolitik nachrangigen Fragen zeigt, wie beim Großen Lauschangriff oder beim Paragraph 218, zu schließen?
und wie die SPD-Führung ihre Partei nasführte …
Auch die SPD-Führung arbeitete lange, aber wirkungsvoll an der Durchsetzung ihres Standpunktes: So forderte Fraktionschef Klose, unterstützt von Hans de With, Carsten Voigt und Brigitte Schulte im Juni 1993, die bisher auf Blauhelm-Einsätze festgelegte Beschlußlage der Partei müsse erweitert, die Beteiligung an Kampfeinsätzen der UNO ermöglicht werden. [14] Scharping hielt sich noch bedeckt: Die SPD müsse darauf achten, daß sie sich in der Außenpolitik nicht „juristisch einmauert“. [15] Aber die Gleichsetzung von politischem Ziel und verfassungsrechtlicher Möglichkeit deutet bereits die Richtung an. Im Februar 94 gibt Scharping bekannt, es gebe „kaum wirkliche Differenzen“ mit der Bundesregierung über außenpolitische Grundfragen. [16]
„Es ist zu fragen, ob wir nicht den Gedanken an Krieg, Tod und Verwundung zu weit in den Hintergrund geschoben haben.“ (Dieter Wellershoff, früherer Generalinspekteur, FR 12.3.91) |
Nachdem das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung getroffen und Einsätze jeglicher Art im Rahmen von Bündnissen bei einfacher Mehrheit des Bundestages für verfassungsgemäß erklärte, spricht die SPD-Führung davon, sie habe vor allem Rechtssicherheit für die deutschen Soldaten schaffen wollen. Zudem argumentiert die SPD-Spitze, daß etwaige Einsätze nach dem BVerfG-Urteil ohnehin nur eine Beteiligung an Einsätzen der UNO möglich seien. Diese Ansicht geht davon aus, daß der NATO-Vertrag, der sich auf die Verteidigung des Bündnisses beschränkt, von den NATO-Staaten auch weiterhin so ausgelegt wird. Die Bundesregierung, die den Vertrag „dynamisch“ auslegt, die Möglichkeiten der NATO also ohne eine Ratifizierung des de facto geänderten Vertrages durch das Parlament ausdehnen will, widerspricht der Darstellung der SPD energisch, und erklärt, daß nun alle Einsätze der Bundeswehr im Rahmen kollektiver Sicherheitssystem verfassungsgemäß seien. Bahnt sich hier die nächste Verfassungsklage an – eine Verfassungsklage, die einen Präzedenzfall für die Machtverteilung von Parlament und Regierung in Fragen der Außenpolitik schaffen könnte?
Bis zum Wahltermin wird die SPD- Führung wohl keinen Konflikt mit der Basis riskieren und das Thema vorerst hintanstellen. Doch Scharping hat mit der Berufung Kloses als Schattenverteidigungsminister bereits die Weichen gestellt.
Eine Chance für den Antimilitarismus
Das abwartende verhalten der SPD-Führung zeigt aber, wie auch die Beschwichtigungsversuche der Bundesregierung, die von äußerster Zurückhaltung bei militärischen Einsätzen spricht, daß der Kampf um die Öffentlichkeit noch längst nicht entschieden ist. Zurecht sitzt die Angst vor dem Krieg tief in der deutschen Gesellschaft, und kein anderes Thema hat die Bevölkerung in der Nachkriegszeit emotional so berührt und politisch mobilisiert. Hunderttausende demonstrierten gegen den Vietnamkrieg, gegen die Pershing II-Raketen und gegen den Golfkrieg – ein Protest, der in wirtschaftlichen Krisenzeiten auch auf andere Themen übergreifen kann. Hier liegt das Risiko der Militaristen in der Regierung und der SPD und die Chance für eine antimilitaristische Bewegung. Eine Chance, die gerade auch Sozialisten nutzen sollten.
Anmerkungen
1. Dr. Albrecht Randelzhofer, in: Maunz, Dürig et al.: Grundgesetz, C.H. Beck, 1993, Bd.2, 24II, S.31f. (65.)
2. vgl. Süddeutsche Zeitung, 19.8.94, S.4
3. Der Spiegel 30/1994, 25.7.94, S.4
4. vgl. Jörg Huffschmid, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/94, S.1011f.,
5. Wolfram Wette, in: Blätter 8/94, S.985f., dort nach: J. A. Graf von Kielmannsegg: Der Krieg ist der Ernstfall, in: Truppenpraxis 3/91
6. a.a.O., dort nach: Dr. Günther Pöschel: Der Krieg, das Vaterland und der Donner schweren Geschützes in: Truppenpraxis 3/92
7. nach: Wolfram Wette, in: Die Zeit, 30.7.93, S.4
8. nach: Wolfgang Hoffmann, in: Die Zeit, 12.8.94, S.4
9. nach: Wolfram Wette, in: Blätter 8/94, S.984
10. Wolfram Wette, in: Die Zeit, 30.7.93, S.4
11. Journal für Deutschland, August/September 94, S.17
12. vgl. Wolfram Wette, in: Blätter 8/94, S.988f.
13. nach: Helmut Hugler, in: PROKLA, Heft 95, Juni 94, S.266
14. vgl. FAZ, 1.7.93
15. vgl. a.a.O.
16. vgl. FAZ, 9.2.94