Millionen Menschen feiern in Schwarz-Rot-Gold. Doch die Regierung will mit der deutschen Flagge ihre unsoziale Politik verhüllen.
Schals und T-Shirts, Fahnen am Auto und Balkon oder die Mütze des Gartenzwergs: Seit Beginn der Fußballweltmeisterschaft wehen überall in der Republik die Nationalfarben.
Ganz Deutschland jubelt schwarz-rot-gold und Freunde aus aller Welt feiern fröhlich mit, begrüßt Grünen-Fraktionschefin Renate Künast die neue Stimmung. Jetzt erscheint uns das alles so normal, macht viel Spaß und ist ganz ohne Krampf.
Der Historiker Paul Nolte wertet den deutschen Nationalstolz sogar als Zeichen gegen Rassismus: Wo Schwarz-Rot-Gold weht, bleibt kein Platz für rechte Dumpfbacken und deren Symbole. Schwarz-Rot-Gold steht für demokratisches, weltoffenes Deutschland und nicht für ein fremdenfeindliches, aggressives. Diese Botschaft geht auch von den Bildern aus, die von Deutschland nun in alle Welt gehen.
In Wirklichkeit fühlen sich durch den nationalen Trubel gerade Rassisten und Nazis ermutigt, ausländerfeindliche und faschistische Parolen zu brüllen. Die Berliner Zeitung berichtet vom Dortmunder Bahnhof nach dem Spiel Deutschland gegen Polen: Auf dem Bahnsteig trottet ein polnischer Fan entlang, müde und enttäuscht.
Aus der wartenden S-Bahn grölen drei deutsche Fans, kurze Haare, euphorisch, aggressiv, Deutschland-Fahnen um die Hüften: Du kannst nach Hause fahr’n, du kannst nach Hause fahr’n. Der Mann bleibt ungerührt. Da grölen die Deutschen: Da ist ein Zug, der nach Auschwitz fährt.
Wann immer die Deutschland-Fans im Stadion zu Zehntausenden wie aus einer Kehle Sieg brüllen, gibt es einige, die mit erhobener rechter Hand ein Heil hintendran hängen. Als beim letzten Vorbereitungsspiel der Deutschen gegen Kolumbien Gerald Asamoah eingewechselt wurde, zeigten einige Dutzend Zuschauer auf den schwarzen Spieler und riefen: Asamoah, du bist gar kein Deutscher!
Auch Jürgen Gansel, Ideologe der Nazi-Partei NPD, freut sich über die Deutschland-Fahnen: Die Herrschenden in Politik und Kultur müssen feststellen, dass über 60 Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter moralische Quarantäne gestellt werden kann.
Neben Rassisten und Nazis versucht auch die Regierung, die Begeisterung für die deutsche Mannschaft zu missbrauchen. Der Spiegel zitiert einen Abgeordneten der großen Koalition, der nicht genannt werden wollte: Die WM ist ein günstiger Zeitpunkt, um schmerzhafte Reformen zu beschließen. Es gibt wenig Platz in den Zeitungen für politische Themen.
Tatsächlich begann die Regierung mit Beginn der WM, die Gesundheitsreform voranzutreiben, die weniger Leistungen für mehr Geld bedeuten wird. Vor kurzem wurde die Erhöhung der Mehrwertsteuer endgültig beschlossen.
Auch viele Konzerne freuen sich über die Patriotismus-Welle. Adidas hat bis jetzt 1 Million Deutschland-Trikots für 65 Euro pro Stück verkauft, vier mal mehr als bei der letzten WM. Doch auch Unternehmen, die am Fußball nichts verdienen, haben schon einige Monate vor dem Turnier eine bisher einmalige Marketing-Kampagne gestartet, um das Nationalgefühl zu stärken. 30 Millionen Euro ließen es sich 25 Konzerne kosten, dass uns von Plakatwänden, aus Zeitungen und im Fernsehen immer wieder die Botschaft erreichte: Du bist Deutschland.
In ihrem Manifest appellieren die Initiatoren: Behandle dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an.
Auch Ex-Kanzler Schröder und die CDU unterstützten die Kampagne, damit nicht so viele Leute über deutschen Sozialabbau und deutsche Steuererhöhungen meckern.
Deutlicher wird Henrik Müller, geschäftsführender Redakteur des Manager-Magazins in seinem im März erschienenen Buch Wirtschaftsfaktor Patriotismus Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung. Darin klagt der Autor: Statt sich auf den ökonomischen Wettbewerb einzustellen und mitzuspielen, verlangen viele in Deutschland nach internationalen Lösungen: zum Beispiel nach einer Harmonisierung der Steuer- und Sozialsysteme innerhalb der EU, mit dem Ziel, den Standortwettbewerb zu begrenzen.
Es liegt auf der Hand, welche Reformen in Deutschland anstehen: ein grundlegender Umbau der Sozialsysteme, die weitere Öffnung des Arbeitsmarkts und der Märkte für Dienstleistungen.
Neidisch blickt der Journalist auf die erfolgreiche Konkurrenz: Andere Länder haben es vorgemacht in den 80er Jahren die Niederlande, Großbritannien, die USA, Neuseeland, in den 90er Jahren Schweden, Finnland, Dänemark; erst recht die vormals sozialistischen osteuropäischen Staaten. Sie alle haben sich in kollektiven Kraftakten auf die neuen Realitäten eingestellt, haben grundlegende Reformen durchgesetzt.
Müller wirbt deshalb für die entsprechende Ideologie, um diesen kollektiven Kraftakt auch im Interesse der deutschen Konzerne durchzusetzen: Das Bindemittel des Patriotismus das Zugehörigkeitsgefühls zu dem und die Opferbereitschaft für das nationale Kollektiv wird offenkundig benötigt als emotionaler Gegenpol zu einer ökonomischen Globalisierung.
Politiker, Manager und Medien werben für den angeblich unverkrampften Patriotismus, weil sie hoffen, hinter der Fassade des neuen Wir-Gefühls Politik gegen alle Menschen in Deutschland machen zu können egal, ob sie Deutsche, Türken, Italiener oder Serben sind. Jedoch sollten weder Deutsche noch Ausländer der Regierung dabei helfen, indem sie das Bild ihrer Städte mit Fahnen in Schwarz-Rot-Gold prägen.
Besser ist es, Flagge zu setzen für Bevölkerungsgruppen, die mit Hilfe der deutschen Regierung unterdrückt werden: zum Beispiel die Palästinenser und die Kurden. Oder aber man hisst die bunt gestreifte Fahne der internationalen Antikriegsbewegung als Zeichen gegen die Kriege des US-Präsidenten Bush, den Kanzlerin Merkel im Juli nach Deutschland einlädt.