Revolution!

In nur wenigen Wochen fiel 1989/90 ein Regime, das über Jahrzehnte unangreifbar schien. Millionen einfache Menschen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand.

Hintergrund: Montagsdemos

Die Montagsdemonstrationen entstanden oft als spontane Protestaktionen. Im thüringischen Arnstadt klebte zum Beispiel ein junger, vom Armeedienst zurückgekehrter Mann nachts heimlich Flugblätter. Die Polizei entfernte den Großteil wieder. Aber der Aufruf zum öffentlichen Protest verbreitete sich durch Mundpropaganda schnell weiter. Am 30. September kamen 200 Arnstädter auf den „Holzmarkt“. Eine Frau fasste sich ein Herz, begann über ihre niedrige Rente zu sprechen. Andere folgten ihrem Beispiel. Am Ende vereinbarten die Demonstranten für nächste Woche: „Jeder bringt einen mit.“
Die Bezeichnung „Montagsdemonstration“ stammt aus Leipzig, wo die wöchentlichen Proteste immer montags stattfanden. Schon 1993 belebten die Ostdeutschen die Montagsdemonstrationen im Protest gegen die Kahlschlagspolitik der Kohl-Regierung wieder, ähnlich wie in Antikriegsbewegungen 1999 und 2003.

11. September 1989: Ungarn öffnet die Grenze nach Österreich. In drei Tagen flüchten 15.000 DDR-Bürger in den Westen. In Prag und Warschau besetzen tausende Flüchtlinge die westdeutsche Botschaft und erzwingen ihre Ausreise. Es sind vor allem junge Arbeiter, die dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR keine Chance mehr geben.
Die Ausreisebewegung erschüttert das SED-Regime in seinen Grundfesten. Stacheldraht und Mauer werden durchlässig. Während jeder Ostdeutsche Verwandte, Bekannte und Kollegen hat, die fliehen, reagiert die Parteiführung mit Lügen und Verachtung. Die staatlichen Zeitungen berichten von angeblichem Kidnapping. Parteichef Honecker verkündet, er trauere den Geflüchteten „keine Träne“ nach.
Immer mehr Menschen wollen Freiheiten. Nachdem Anfang September 1.000 Menschen zur Montagsdemonstration in Leipzig kommen, sind es Ende des Monats bereits 10.000. Neben der Forderung „Wir wollen raus“ rufen immer mehr Demonstranten die trotzige Losung „Wir bleiben hier“ und fordern, die neu gegründete Oppositionsgruppe „Neues Forum“ zuzulassen.

In der Parteiführung werden Erinnerungen an den Arbeiteraufstand vom Juni 1953 wach, als nur noch sowjetische Panzer das SED-Regime retteten. Der Chef des Staatssicherheitsdienstes Mielke fragt seine Generäle nach der Stimmung in den Betrieben: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“
Die SED-Spitze reagiert auf die Bewegung mit Unterdrückung und lässt den Protest gewaltsam auflösen. Anfang Oktober liefern sich Demonstranten in Dresden und anderen Städten Straßenschlachten mit der Polizei, als eine Menschenmenge versucht, auf die durchfahrenden Züge der Botschaftsflüchtlinge aufzuspringen. Als am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag der DDR, in 18 Städten protestiert wird, gehen Soldaten und Polizisten mit Wasserwerfern, Gummiknüppeln und Massenverhaftungen brutal gegen Demonstranten und unbeteiligte Personen vor.

Nach dieser Woche der Gewalt steht in Leipzig am 9. Oktober die nächste Montagsdemonstration bevor. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Von dort war der Funke der Revolution ausgegangen. Hier will die SED sie ersticken. In Medien und Betrieben wird vor dem Einsatz der Armee gewarnt. Krankenhäuser stellen Blutkonserven bereit.
Aber die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Am Abend ziehen 80.000 Menschen durch die Innenstadt und trotzen mutig der Staatsgewalt. Soldaten verweigern wie bereits in den Tagen zuvor ihre Befehle. Die Parteiführung vor Ort schreckt vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Die Bewegung feiert ihren ersten großen Sieg über das SED-Regime.

Nach dem Durchbruch in Leipzig ist die Revolution nicht mehr aufzuhalten. In kleinen Städten prügelt die Polizei noch Proteste nieder. Aber von Süden breiten sich die Demonstrationen aus und erreichen in Großstädten hunderttausende Teilnehmer. Anfang November gehen allein in Berlin und Leipzig zusammen 1 Millionen Menschen auf die Straße.
Nach jahrzehntelanger Unterdrückung wird mit den Massendemonstrationen das Gefühl der Machtlosigkeit überwunden. „Wir sind das Volk“ wird zum Slogan einer Bewegung, die die Gesellschaft grundlegend verändern wird. Überall organisieren Aktivisten Diskussionen. Allein zwischen 30. Oktober und 5. November meldet die Staatssicherheit 230 „politisch geprägte Veranstaltungen mit fast 300.000 Teilnehmern“.
In den Betrieben erheben Arbeiter die Forderung nach Demokratie und einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. In einem Berliner Elektronikwerk erreicht eine Wandzeitung mit Diskussionsbeiträgen eine Länge von mehreren hundert Metern. In einigen Kasernen wählen Rekruten Soldatenräte.

Der Druck der Straße zwingt die SED zu Zugeständnissen. Das Staatsfernsehen beginnt, über die Demonstrationen zu berichten. Parteichef Honecker tritt am 18. Oktober zurück. Doch die Menschen misstrauen auch der neuen Regierung und fordern einen freien Reiseverkehr. Erste Forderungen nach Rücktritt der SED werden laut.
Als am Abend des 9. November der SED-Funktionär Schabowski im Fernsehen die vorgesehene Öffnung der Grenze erwähnt, versammeln sich sofort zehntausende an den Grenzübergängen in Berlin und drücken die Absperrungen buchstäblich ein. Der Fall der Mauer nimmt der SED einen großen Teil ihrer Kontrolle über die Menschen.
Die Enthüllungen über Privilegien der SED-Oberen und ihre Versuche, den Machtapparat schön zu reden und Reformen zu verschleppen, heizen die Unzufriedenheit weiter an. Anfang Dezember stürmen Demonstranten in Erfurt und anderen Bezirksstädten die Stasizentralen.

In diesen Tagen liegt die Macht „auf der Straße“. Der Unterdrückungsapparat der SED ist angeschlagen. Am 3. Dezember tritt die komplette Parteiführung zurück. Auf der Straße fordern Demonstrationen: „SED – raus aus den Betrieben“. An einigen Stellen diskutieren Arbeiter über einen Generalstreik. So geschehen in Plauen oder dem Magdeburger Großbetrieb Schwermaschinenbaukombinat „Ernst Thälmann“ mit 20.000 Kollegen.
Aber die einzige landesweit einflussreiche Widerstandsgruppe Neues Forum schreckt davor zurück, die SED zu stürzen und eine Gegenregierung zu bilden. Führende Personen des Neuen Forums lehnen die Forderung als „verfrüht“ ab und nehmen stattdessen am „Runden Tisch“ mit den Vertretern der alten Macht Platz, um die DDR zu erhalten.

Das Neue Forum lehnt den aus Plauen stammenden Aufruf zum Generalstreik ab, weil er auch die Wiedervereinigung fordert. Die Bürgerrechtsgruppen hoffen auf einen „Dritten Weg“ einer eigenständigen DDR. Die meisten Menschen wollen hingegen die Vereinigung mit dem Westen. Sie wollen damit die Angleichung ihrer Lebensverhältnisse erreichen. Bereits am 20. November fordert der Werkzeugmacher Hans Teschnau auf der Montagsdemonstration in Leipzig: „Wir sind keine Versuchskaninchen. Wir sind ein Volk. Nötig ist ein Volksentscheid über die Einheit Deutschlands.“ Die Wiedervereinigung erscheint als der beste Weg, die Diktatur zu stürzen und politische und soziale Reformen durchzusetzen. Vor allem die Arbeiter aus den armen Industriestädten des Südens fordern die Einheit.
Die Kluft zwischen den Bürgerrechtlern und der Mehrheit der Demonstranten ist nicht zu überbrücken. Das Neue Forum verliert die politische Führung der Bewegung. Stattdessen benutzt der westdeutsche Kanzler Kohl die Hoffnungen der Menschen und verspricht „Wohlstand für alle“ für den Fall der Wiedervereinigung.

In den ersten Wochen 1990 erreicht die Bewegung noch einmal einen Höhepunkt. In Dutzenden Betrieben legen Arbeiter gegen den drohenden Machterhalt der SED die Arbeit nieder. In Berlin stürmen am 15. Januar Demonstranten die Stasizentrale und rufen „Nieder mit der SED“ und fordern den Rücktritt des neuen Regierungschefs Modrow.
Mit dem Rücken zur Wand lädt dieser die Bürgerrechtsgruppen, deren Mitbestimmung er zuvor noch abgelehnt hatte, zum Eintritt in eine Übergangsregierung ein. Sie sollte bis zu den ersten freien Wahlen amtieren. Die Bürgerrechtler nehmen das Angebot an, um den Sturz der Regierung zu verhindern.
Die Wahlen am 18. März 1990 gewinnt die CDU-geführte „Allianz für Deutschland“ mit 48 Prozent der Stimmen. Die Bürgerrechtler bekommen weniger als 5 Prozent. Das Kohl-Kabinett im Westen und seine Helfer in der DDR organisieren anschließend den Ausverkauf der ostdeutschen Wirtschaft.

Was bleibt 15 Jahre nach der Revolution? Es ist die Erfahrung, dass die Gesellschaft von unten verändert werden kann. Das Ziel, die SED zu stürzen und demokratische Freiheiten zu erlangen, wurde erreicht. Soziale Gerechtigkeit steht noch aus.

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