Lafontaine: Von den Bossen gestürzt

Vor fünf Jahren trat Oskar Lafontaine scheinbar freiwillig als Finanzminister und SPD-Vorsitzender zurück. In Wirklichkeit wurde er von Konzernchefs dazu gezwungen. Stefan Bornost schildert die Ereignisse.

 

Standpunkt: Nur wer kämpft, kann gewinnen

Oskar Lafontaine glaubte 1999, er sei an der Macht. Tatsächlich war er nur in der Regierung.
Der damalige Finanzminister konnte nicht durchsetzen, dass die größten deutschen Energie- und Versicherungskonzerne genauso Steuern zahlen wie arbeitende Menschen auch. Die Steuerschlupflöcher für RWE und den Veba-Nachfolger E.ON bestehen noch immer. Lafontaine wollte mehr Gerechtigkeit und verlor alles.
Nur wenige Wochen vor seinem Rücktritt gelang es der Gewerkschaft IG Metall, die Konzerne zu einer Lohnerhöhung von 3,2 Prozent und einer Einmalzahlung von 1 Prozent des Lohnes zu zwingen. Eine Million Arbeiter beteiligten sich an den Warnstreiks. Sie waren erfolgreich, weil streikende Arbeiter gegen ihre Bosse ein Druckmittel einsetzen, über das keine Regierung verfügt: Sie verringern die Profite.
Damals hielten in Deutschland nur 14 Prozent den Lohnabschluss für zu hoch. Lafontaine hätte zusammen mit den Gewerkschaftern und der Unterstützung von Millionen Menschen eine Chance gehabt, seine Steuerreform durchzukämpfen.
Doch der Finanzminister hoffte, dass Vorstandsvorsitzende die Entscheidung einer demokratisch gewählten Regierung anerkennen. Deshalb musste er scheitern.

 

Am 10. März 1999 verlassen zwei kurze Briefe das Finanzministerium. Einer ist für Gerhard Schröder: „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, hiermit trete ich vom meinem Amt als Bundesminister der Finanzen zurück. Mit freundlichen Grüßen, Oskar Lafontaine“. Der andere geht an den Vorstand der SPD: „Liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde, hiermit erkläre ich meinen Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei. Euer Oskar Lafontaine“.
Es war noch kein halbes Jahr her, dass 20 Millionen Menschen Lafontaines SPD an die Regierung gewählt hatten, um mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Sein „Rücktritt“ war ein Putsch des Kapitals gegen eine gewählte Regierung. Im Februar und März 1999 haben einige Konzernchefs, Wirtschaftslobbyisten und Chefredakteure rechter Zeitungen mit Unterstützung des rechten Flügels der SPD Lafontaine aus dem Amt gedrängt.
Die Bosse begannen ihre Kampagne gegen Lafontaine, nachdem er eine Steuerreform entworfen hatte. Dabei ging es nicht um Umverteilung von oben nach unten. Die Reform sah vor, die Spitzensteuersätze für die Wirtschaft zu senken. Doch gleichzeitig sollten einige Abschreibungsmöglichkeiten aus 16 Jahren CDU-Regierung gestrichen werden. Die Abschreibungen ermöglichten vielen Konzernen, gar keine Steuern zu zahlen.
Weltweit machen die Bosse gegen Lafontaine mobil. Die amerikanische Zeitung Detroit News berichtet, wie der Vorstandsvorsitzende von DaimlerChrysler Jürgen Schrempp Kanzler Schröder zur Seite nahm. Schrempp warnte Schröder: „Wenn Sie die Sache mit Lafontaine nicht bereinigen, werden Sie einige ihrer stärksten Unterstützer verlieren.“ Kurz danach schreibt der Finanzchef von DaimlerChrysler Manfred Gentz einen Brief an Schröder, in dem er mit der Verlegung des Firmensitzes von Stuttgart nach Detroit droht, wenn die Abschreibungsmöglichkeiten nicht erhalten blieben.
Anfang März schreiben 22 Spitzenmanager einen so genannten „Brandbrief“ an die Regierung, in dem sie die Rücknahme der Steuerreform fordern. Zu den Unterzeichnern gehören neben ThyssenKrupp-Chef Cromme auch der Deutsche-Bank-Aufsichtsrat Kopper. Ein ungenannter Vorstandsvorsitzender eines großen Unternehmens sagt dem Handelsblatt: „Noch nie gab es eine Revolution des Kapitals. Jetzt hat sie begonnen.“
Der Vorstandsvorsitzende des Versicherungskonzerns Gerling Jürgen Zech erklärt auf einer Pressekonferenz, er lasse Modelle prüfen, wie Gesellschaften des Unternehmens ins Ausland verlagert werden könnten. Die Energiekonzerne kündigen einen Boykott der so genannten Konsensgespräche mit der Regierung an. Dabei sollte die Entwicklung der Energiewirtschaft besprochen werden, nachdem die Betreiber bereits einen Ausstieg aus der Kernenergie blockiert hatten. Versicherungen und Energiekonzerne haben besondere Steuervorteile. Sie müssen Milliarden Euro an Risikorücklagen nicht versteuern.
Die Energiewirtschaft konnte durch diesen Vorteil in den damals neu eröffneten Markt der Telefonanbieter einsteigen. RWE und Veba schufen Otelo, während Viag die Gesellschaft Interkom aufbaute. Die Forderung des Finanzministeriums, einen Teil der Rücklagen zu versteuern, lehnen die Konzernvorstände ab. Sie behaupten, sie würden umgerechnet mit 20 Milliarden Euro belastet, während die Regierung von 3 bis 7 Milliarden ausging.
Obwohl auch unabhängige Experten die Unternehmensangaben als völlig überhöht bezeichnen, greifen die Bosse weiter an. Am 3. März kommen Provinzial-Chef Michaels, Allianz-Chef Schulte-Noelle und dessen Finanzvorstand Perlet persönlich ins Kanzleramt und verlangen endgültig, die steuerfreien Rücklagen aufrecht zu erhalten. Lafontaines Reformpläne beantworten sie mit der Drohung, Standorte zu schließen und tausende Menschen zu entlassen.
Die Spitzen der Wirtschaft sind fassungslos, weil Lafontaine nicht genau das tut, was sie verlangen. „Das ist ein echter Überzeugungstäter“, schimpft Deutsche-Bank-Chef Breuer nach einem Treffen mit Lafontaine. Angeblich hätte er kaum zugehört: „Ich habe das mit noch keinem Politiker erlebt.“
Unterstützung erhalten die Bosse ausgerechnet von SPD-Politikern. Die SPD-Ministerpräsidenten Clement (Nordrhein-Westfalen), Glogowski (Niedersachsen) und Beck (Rheinland-Pfalz) verlangen, die Steuerreform abzublasen.
Besonders der heutige Wirtschaftsminister Clement spielt in der Kampagne gegen Lafontaine eine wichtige Rolle. Die Stromkonzerne RWE und VEBA, die sich zum Wortführer gegen Lafontaine aufgeschwungen hatten, gehörten damals dem Land Nordrhein-Westfalen standen damit unter Kontrolle Clements. Im Vorstand der VEBA sitzen neben Kanzleramtsminister Hombach auch Schröders Regierungssprecher Anda. Hombach, ein enger Vertrauter Schröders, hatte schon vor der Regierungsübernahme der SPD massiven Sozialabbau gefordert. SPD-Vorstandsmitglieder berichteten, Hombach habe bei der ersten Sitzung ohne Lafontaine pausenlos gegrinst.
Die Jagd auf Lafontaine wird immer heftiger und als er schließlich zurücktritt, knallen in den Chefetagen die Sektkorken. Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbands der Versicherungsunternehmen Schreiber erklärte, der Sturz Lafontaines sei „der schönste Tag meines beruflichen Lebens“. Gegenüber der Deutschen Presseagentur fügte er hinzu: „Meine spontane Reaktion ist Begeisterung. Lafontaine war ein Kapital- und Arbeitsplatzvernichter.“
Wenige Stunden nach Lafontaines Rücktritt steigt der Deutsche Aktienindex um 6 Prozent. Besonders Versicherungs- und Energiekonzerne legten stark zu: Allianz 14 Prozent, Münchener Rück 13 Prozent, RWE 12 Prozent, Veba 10 Prozent und Viag 7 Prozent.
Die Wirtschaft hatte wochenlang behauptet, Lafontaine treibe Banken und Konzerne in die Pleite. Eine Woche nach seinem Rücktritt gibt die Deutsche Bank einen Rekordgewinn bekannt. Nach Steuern hat sich der Gewinn im abgelaufenen Jahr auf umgerechnet 1,7 Milliarden Euro mehr als verdreifacht.
Auch die Behauptung, die hohen Steuern in Deutschland verhinderten Investitionen und neue Arbeitsplätze, erwies sich eine Woche später als Lüge. Nach einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) war der Anteil der Unternehmen am gesamten Steueraufkommen in Deutschland seit 1980 von 5,5 auf 3,8 Prozent gesunken.
Der Durchschnitt in Europa lag bei 7,5 Prozent, in allen Industriestaaten bei 8,2 Prozent. Während die großen Unternehmen in Deutschland durchschnittlich Steuern in Höhe von 8 Prozent ihres Umsatzes zahlten, war die Belastung der Konzerne in Großbritannien und Japan mit 48 Prozent oder in den USA mit 24 Prozent wesentlich größer.
Lafontaine verfolgte das richtige Ziel, als er Steuerschlupflöcher für Unternehmen streichen wollte. Der Putsch der Bosse hat diesen Plan durchkreuzt. Der Chefredakteur der rechten Welt, Döpfer, zieht erfreut Bilanz: „Die Einmischung, die außerparlamentarische Opposition des Kapitals hat sich gelohnt.“
Drei Tage nach Lafontaines Rücktritt fasste der Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Barbier die vergangenen Wochen zusammen: „Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat die Wirtschaft eine Regierung gekippt.“ Dem kann niemand widersprechen.

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