Soziologische Theorien über das Ende der Arbeiterklasse sind nicht neu. Sie erfreuen sich aber schwankender Popularität. Sucht man nach den Ursachen für die Schwankungen dieser Popularitätskurve, dann ist zuerst natürlich das Auf und Ab der Klassenkämpfe selbst zu nennen. Die 50er Jahre waren eine solche Zeit des Niedergangs der Klassenkämpfe. Die Thesen des konservativen Soziologen Schelsky von der Auflösung der Arbeiterklasse in eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ erfreuten sich großer Popularität. Ganz im Trend dieses konservativen Zeitgeistes machte die SPD 1959 auf dem Godesberger Parteitag ihre programmatische Wende von einer „Klassenpartei alten Zuschnitts“ hin zu einer „modernen Volkspartei“.
Als 1962 ein kleines Bändchen von H.P. Bahrdt und W. Dirks unter der Frage Gibt es noch ein Proletariat? erschien, steckte schon im Titel eine Provokation. 1980 fand dann unter dem Titel Abschied vom Proletariat ein Broschüre des französischen Sozialisten André Gorz unerwarteten Absatz. Es kündigte sich eine neue Popularitätswelle von Auflösungstheorien an. Gewissermaßen den Scheitelpunkt dieser Welle bildete Ulrich Becks Risikogesellschaft (1986), in dem wieder einmal das „Ende der Klassengesellschaft“ eingeläutet wurde. Nach Beck stehen sich in der Gesellschaft nur noch Individuen, aber keine Klassen mehr gegenüber. Auf günstigen Nährboden fielen die Theorien von Gorz und Beck vor allem bei den Grünen. In Von grüner Kraft und Herrlichkeit (1984) folgt Joschka Fischer den Spuren von Gorz und kehrt der Arbeiterklasse und dem Sozialismus den Rücken („Lebt wohl, Verdammte dieser Erde“). Acht Jahre später sehen wir ihn in den Spuren Schelskys wandeln. In Die Linke nach dem Sozialismus (1992) spricht er vom „Aufstieg der Arbeiterschaft in die Mittelschicht“: „Die modernen westlichen Industriegesellschaften sind alle Mittelschichtsgesellschaften geworden.“
Auch die SPD wurde von der neuen Welle der „Antiproletarität“ erfaßt, wenngleich in der abgeschwächten, gemäßigten Version vom Schwund statt des völligen Verschwindens der Arbeitermilieus. Ein vom Parteivorstand 1984 in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt Planungsdaten für die Mehrheitsfähigkeit der SPD entdeckte das „aufstiegsorientierte Milieu“ und das „technokratisch-liberale Milieu“ (Personen mit höherer Bildung) mit insgesamt „30% der Wählerstimmen“ als Schlüsselgruppen für die „Wiedergewinnung der politisch-kulturellen Hegemonie“ der Sozialdemokratie. Die Wahlstrategen in der Bonner SPD-Zentrale gingen davon aus, daß ihnen die Stimmen der SPD-Stammwähler aus dem „Arbeitermilieu“ ohnehin sicher seien, die Wahlen aber im Ringen um die neuen Mittelschichten entschieden würden. [1] Der Abschied von der „Traditionskompanie“ wurde zum Lieblingstherna der „Modernisierer“, auch Toscana-Fraktion genannt. Die Wahlkampagnen der Modernisierer, von Oskar Lafontaine über Engholm, Schröder und Scharping waren mehr oder weniger dadurch geprägt, daß sie den Niedergang der alten Arbeitermilieus durch ein Bündnis mit den neuen Mittelschichten auszugleichen versuchten.
Auch in den Gewerkschaften melden sich „Modernisierer“ zu Wort, die die zahlenmäßige Gewichtsverschiebung zugunsten der Angestellten und zu Lasten der Arheiter zum Anlaß nehmen, den Charakter der Gewerkschaften als Klassenorganisationen in Frage zu stellen. So etwa schreibt Siegfried Bleicher, für Angestellte zuständiges Vorstandsmitglied der IG Metall: „Die Gewinnung höherqualifizierter Angestellter“ in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Disposition sei „entscheidend, wenn es um die Einlösung des Anspruchs auf eine qualitative. sozial fortschrittliche Neuorganisation der Arbeit, der Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten geht.“ [2]
Grüne Politiker wie Fischer und die „Modernisierer“ in SPD und Gewerkschaften haben eines gemeinsam: Sie gehen davon aus, daß den neuen Mittelschichten eine zentrale Rolle im Ringen um den gesellschaftlichen Fortschritt zukommt. Die Argumente der „Modernisierer“ werden von Sozialforschern unterstützt, die von einer wachsenden „Segmentierung“ und „Differenzierung“ der abhängig Beschäftigen ausgehen, die es immer schwerer mache, eine solidarische Klassenpolitik im traditionellen gewerkschaftlichen Sinn zu entwickeln. [3]
Die Aussichten auf eine Wiederbelebung einer kämpferischen, klassenorientierten Basisbewegung würden infolge technischer und sozialer Umwälzungen immer ungünstiger. Natürlich hat es wichtige Veränderungen der Arbeiterklasse gegeben und es ist wichtig, daß Sozialisten diese Veränderungen wahrnehmen, da sie zeigen, daß dieses Argument nicht zutrifft.
Ein Blick auf die Entwicklung und Veränderung der Erwerbstätigkeitsstruktur seit 1950 zeigt, welch gewaltige strukturelle Veränderungen in der Erwerbstätigkeit stattgefunden haben. 1950 waren 71% aller Erwerbstätigen „abhängig Beschäftigten“ und 29% waren Selbständige (mithelfende Familienangehörige mitgezählt). der größte Teil davon in der Landwirtschaft. 1994 waren 89,2% abhängig Beschäftigte und nur noch 10,2% Selbständige (alte BRD). Der Anteil der Selbständigen hat sich um mehr als zwei Drittel reduziert, der der Angestellten hat sich dafür verdreifacht. 1994 waren mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen (17,4 Mill.) in den Dienstleistungsberufen tätig, davon waren wiederum mehr als die Hälfte Frauen (54% West und 61% Ost).
Die Industriearbeiter
Die wichtigste Veränderung ist der relative und absolute Rückgang der Zahl der Arbeiter im sogenannten produzierenden Gewerbe. [4] Die Zahl aller im produzierenden Gewerbe Beschäftigten fiel allein von 1991 bis 94 (1. Hbj.) von 14,4 Mill. auf 12,5 Mill., also um fast 2 Mill. Anteilmäßig ging ihre Zahl von 39,5% auf 35,9% aller Erwerbstätigen zurück. Der Trend der relativen und absoluten Abnahme der Beschäftigten dieses Wirtschaftsbereichs („sekundärer Sektor“) ist nicht neu. 1970 hatte die Zahl der im prod. Gewerbe Beschäftigten in Westdeutschland noch über 13 Mill. (oder 48,8% der Erwerbstätigen) betragen, 1994 betrug ihre Zahl noch 10,3 Mill. (oder 36,2%). In den Zahlen von 1994 spiegelt sich einmal der Zusammenbruch der Industrie in Ostdeutschland wider, zum anderen die Massenentlassungen während der Rezession von 1993. Die Unternehmer nutzten ihre Chance, die Ausbeutungsrate zu steigern, d.h. von weniger Beschäftigten wurden gleich viele oder sogar mehr Güter und Werte als vor der Rezession hergestellt.
Aber der Beschäftigungsgrückgang im produktiven Sektor erscheint weniger dramatisch, wenn man einen Langzeitvergleich anstellt. In den letzten hundert Jahren hat sich die Zahl der im industriellen Sektor Beschäftigten foleendermaßen entwickelt (in Mill. und in Prozent aller Erwerbstätigen des jeweiligen Jahres. Für die Zeit von 1950 bis 1994 nur Westdeutschland):
Beschäftigte im industriellen Sektor |
||
---|---|---|
Mill. |
% |
|
1882 |
6,0 |
35,6 |
1913 |
10,8 |
40,5 |
1925 |
13,5 |
42,3 |
1933 |
13,1 |
40,5 |
1950 |
8,4 |
44,7 |
1960 |
12,5 |
48,1 |
1970 |
13,0 |
48,9 |
1994 |
10,3 |
36,2 |
Die Entwicklung der letzten 25 Jahre scheint auf den ersten Blick die weit verbreitete These zu bestätigten, daß die Industriearbeiterschaft bald nur noch eine Rand- gruppe sein wird und daß ein Prozeß der Deindustrialisierung eingeleitet ist. Das ist falsch, denn eine Abnahme der Beschäftigtenzahl ist nicht gleichbedeutend mit einem Schrumpfen der industriellen Produktion. Entlassungen und Stillegungen können durch dreierlei Faktoren bedingt sein: durch einen Rückgang der Produktion, durch Intensivierung der Arbeit bei stagnierender oder sogar langsam steigender Produktion, oder als Resultat von Investitionen, die die Arbeitsproduktivität rascher steigen lassen als die Produktion.
Nur die erste Form berechtigt, von einer Deindustrialisierung zu sprechen. Die anderen beiden sind mit stagnierender oder sogar steigender Produktion verbunden. Weniger Menschen produzieren gleich viel oder sogar mehr Güter. Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn im Fall der Deindustrialisierung verlieren Arbeiter Macht gegenüber ihren Kapitalisten, in den beiden anderen Fällen jedoch nicht. Eine kleinere Zahl von Arbeitern kann ebensoviel „Gegenmacht“ ausüben wie eine größere, weil sie eine größere Wertmasse herstellt. Das Beispiel der westdeutschen Elektrotechnik macht dies deutlich. Die Zahl der Beschäftigten dieser Branche fiel von 1992 = 1,111 Mill. um 168.000, d.h. um über 10% auf 0,943 Mill. (Sept. 94). Zugleich stieg jedoch der monatliche Umsatz der Elektroindustrie von 18,3 Milliarden DM (1992) auf 23,2 Mrd. (9/94).
Aber selbst in Branchen mit stagnierender oder abnehmender Produktion wächst u.U. die Macht der noch verbliebenen Arbeiter. So schrumpfte zwar die Produktion im Schiffbau von 1970 bis 1991 um die Hälfte und die Zahl der dort Beschäftigten ging sogar um 60% zurück. Weil aber die restlichen 40% auf noch weniger und größere Einheiten konzentriert wurden, wuchs zugleich die von ihnen hergestellte Wertmasse. Die Zahl der Industriearbeiter hat zwar seit 1970 abgenommen, aber jeder einzelne Arbeiter ist dafür wichtiger geworden als vor zwanzig Jahren.
Vom Ende des „Produktionsparadigmas“ kann jedenfalls nicht die Rede sein. Die Wertschöpfung des produzierenden Gewerbes ist von 1950 bis 1994 mit Ausnahme der Rezessionsjahre 1967, 1974, 1981 und 1993 ununterbrochen gestiegen, wenngleich seit Mitte der siebziger Jahre langsamer als zuvor. Von 1950 bis 1990 hat sie sich versechsfacht! Wenn der industrielle Anteil an der gesamten Wertschöpfung (Bruttoinlandsprodukt) trotzdem von 49,7% (1950) auf 39,7% (1990) zurückgegangen ist und weiter zurückgeht, dann nur deshalb, weil der Dienstleistungsbereich noch schneller gewachsen ist. Immerhin waren 1994 in ganz Deutschland mit 12,5 Millionen Beschäftigten fast immer noch so viele Menschen im industriellen Sektor tätig wie in der Weimarer Republik (13,5 Millionen).
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die industrielle Produktion nach wie vor der Motor der entwickelten deutschen Industriegesellschaft ist. „Deutschland bleibt“, wie Autoren des Statistischen Bundesamtes feststellen „auf absehbare Zeit ein Industrieland“.
Es wäre (jedoch) ein Irrtum, aus diesen Veränderungen (relatives Anwachsen des Dienstleistungssektors – VM) auf De-Industrialisierung … zu schließen. Die bei wachsender Komplexität und internationaler Verflechtung der Wirtschaft von der Industrie zunehmend benötigten Dienste werden von dafür spezialisierten Unternehmen hezo geil. Vielfach gliedern Industrieunternehmen ihre Dienstleistungsabteilungen aus (Stichwort „Outsourcing“). Es sind vor allem die wirtschaftshezogenen Dienste wie Rechts- und Wirtschaftsberatung Forschung, Entwicklung, Planung, Werbung etc., die innerhalb des Tertiären Sektors am stärksten wachsen. Diese Dienstleistungen stützen die Fertigung, sind gewissermaßen ein produktivitätssteigerndes „Schmiermittel“, vergleichbar mit dem Zuliefererverkehr. [5]
Postfordismus?
Nun ist seit einigen Jahren viel vom Ende des Fordismus die Rede, von einer Krise der industriellen Groß- und Massenproduktion. Ein Element dieser Krise sei der Rückgang des Großbetriebs und die Rückkehr der Klein- und Mittelbetriebe. Eine Folge dieser Entwicklung sei der Niedergang der an den Großbetrieb und die Großproduktion gebundenen Gewerkschaften.
Tatsächlich ist von 1970 bis 1987 in Westdeutschland die Zahl der Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten von 1,86 auf 2,06 Mill. gestiegen und die Zahl der dort Arbeitenden von rd. 8,1 Mill. auf 9,6 Mill. Dagegen sank die Zahl der Unternehmen mit 50 und mehr Beschäftigten von 43.452 auf 21.021 und der hier Arbeitenden von rd. 13,2 Mill. auf 12,3 Mill.
Dieser Trend hielt auch in den 90er Jahren an. In der Rezession 92/93 haben sich die Arbeitsplatzverluste vor allem auf Industriebranchen (Investitionsgüter, Grundstoffverarbeitung, Bergbau, Energie) und hier wiederum auf die Großbetriebe konzentriert. Beschäftigungsgewinne sind dagegen bei den Dienstleistungen zu finden. (z. B. Wirtschaftswerbung, Rechts- und Wirtschaftsberatung, Architektur- und Ingenieurbüros, Laboratorien, Vermögensverwaltung). Das Arbeitsamt faßte die Entwicklung Anfang 1994 so zusammen: „Derzeit wachsen tendenziell kleine Betriebe, während große Betriebe eher schrumpfen.“
Daraus jedoch auf eine allgemeine Krise der industriellen Großproduktion zu schließen, wäre verfehlt.
Von 1950 bis 1977 stieg die Durchschnittsgröße je Unternehmen von 6,8 auf 14,6 Beschäftigte an, um von 1977 bis 1986 wieder leicht auf 13,8 Beschäftigte je Betrieb zurückzugehen. Und immerhin gab es 1992 im produzierenden Gewerbe noch über 1000 Großbetriebe (!) mit je über 1000 Beschäftigen in Westdeutschland. Im Vergleich dazu: 1925 gab es in ganz Deutschland nur 892 Betriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten.
Vieles spricht zudem dafür, daß es sich hei der Trendwende seit Mitte der siebziger Jahre um eine „Dezentralisierung der Betriebsstrukuren“ bei „gleichzeitiger Zentralisierung der ökonomischen Macht“ handelt. [6] Unternehmen spalten ihre eigenen Betriebsstätten in mehrere nur zum Schein voneinander unabhängige Betriebe auf, so daß so uar räumlich zusammenhängende Betriebsstätten rechtlich voneinander verselbständigt werden. Zum anderen wurden Tätigkeiten (Dienste) an Kleinbetriebe vergehen und damit ausgelagert. Das gilt insbesondere für den industriellen Bereich. Solche Dezentralisierungsstrategien verfolgen in der Regel eine Kostensenkung durch Lohnkürzungen und gleichzeitige Schwächung der Arbeiterorganisationen (keine gewerkschaftliche Interessenvertretung, kein Betriebsrat).
Aber es gab auch Gegenbewegungen zu mehr Konzentration. Im Einzelhandel stieg die Zahl def Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten von ?t970 bis 1987 von 195 auf 275. Das entsprach einem Anteil von 0,7% aller Einzelhandelsunternehmen, in denen aber 20,2% aller im Einzelhandel Beschäftigten gezählt wurden. Selbst im Handwerksbereich war ein Trend zur Zentralisation und Konzentration zu beobachten. [7]
Der Zwang zur Größe wird solange an- halten, wie es Konkurrenz zwischen unabhängigen Kapitalien gibt, und dieser Zwang wird auch vor den neu entstandenen Dienstleistungszweigen nicht haltmachen, so wenig wie er vor der Landwirtschaft haltgemacht hat, die jahrzehntelang als Domäne des Kleinbetriebs galt. Dies ist wichtig, wenn es um den Stand der Arbeiterorganisationen und des Arbeiterbewußtseins geht. Denn die Gewerkschaften sind stärker in mittleren und großen Betrieben verankert als in kleinen. Trotzdem wäre es falsch, aus dein relativen Rückgang der Beschäftigung in Großbetrieben und dem Aufstieg von neuen Kleinbetriehen im Dienstleistungssektor abzuleiten, daß sich die gewerkschaftliche Organisation damit zwangsweise schwächen muß.
Eine Untersuchung von Infas über die Struktur und Entwicklung der weiblichen Gewerkschaftsmitglieder von 1971 bis 1983 hatte ergeben, daß die Mitgliedszahlen weiblicher Erwerbstätiger in solchen Bereichen überdurchschnittlich angestiegen waren, in denen die Gewerkschaften traditionell schwach vertreten sind“: In kleineren Betrieben (bis 100 Beschäftige) stieg der Organisationsgrad von 9 auf 16%, im Handels- und Dienstleistungsbereich von 7 auf 16 und bei den jüngeren Frauen (bis 35 Jahre) von 13 auf 21. [8] Was die Studie nicht deutlich machte, war, daß es einen engen Zusammenhang zwischen der Politik der Gewerkschaften gegenüber den Frauen (Niedrigverdienern) und dem Anstieg des Organisationsgrads unter diesen Lohnarbeitern gab. Gerade in den siebziger Jahren gab es eine Bewegung für die Anhebung der untersten Lohngruppen, d.h. für eine solidarische Lohnpolitik, von der die Masse der weiblichen Beschäftigten profitierte.
Das Beispiel demonstriert auch, wie falsch die bei Gewerkschaftsführern heute weit verbreitete These ist, daß die Beschäftigten in den neuen Dienstleistungsbetrieben, speziell die Frauen in ungesicherten Arbeitsverhältnissen, nicht organisierbar seien und daß sich Angestelltenpolitik auch deshalb heute auf die „Höherqualifizierten“, das heißt, vor allem auf die Männer, konzentrieren müsse. [9]
Arbeiter im Dienstleistungsbereich
Oft wird der Arbeiter mit der Arbeiterschaft im produzierenden Gewerbe (sekundärer Sektor) und der Angestellte mit dem Dienstleistungssektor (tertiärer Sektor) gleichgesetzt. Daraus wird dann geschlossen, daß das Wachstum der Dienstleistungsbeschäftigung im Vergleich zu den Beschäftigten im industriellen Sektor einen Rückgang der Arbeiterklasse anzeige. Aber diese Gleichsetzung ist falsch.
Einige der Dienstleistungsbranchen beschäftigen überwiegend Arbeiter. So z.B. die Müllabfuhr, Reinigungsdienste, Hafen- betriebe, Fuhrparks, Speditionen usw. Sie gehören alle zum „tertiären Sektor“, in dem Ende 1993 16,7 Mill. sozialversicherungspflichtige Beschäftigte (Abhängige) gezählt wurden. Davon waren über eine Million im Hotel- und Gaststättengewerbe, über eine halbe Million in Reinigungsdiensten, 642.000 bei der Post, 434.000 bei der Bahn, über 2,0 Mill. in kommunalen Diensten und 2,5 Mill. bei den Ländern.
In allen diesen Bereichen besteht ein hoher Anteil der Beschäftigten aus „traditionellen“ Arbeitern. So waren 1992 bei den Beschäftigten der Länder 283.000 Arbeiter (11,2%), bei den Gemeinden 642.000 (32,6%), bei der Post 236.000 (36,8%), bei der Bahn 172.000 (39,8%) und beim Bund 122.000 (32,3%). Insgesamt waren 1,5 Mill. Arbeiter im Öffentlichen Dienst beschäftigt, das war knapp ein Viertel aller Staatsbediensteten. Von den 11,6 Mill. Arbeitern, die es 1991 in Westdeutschland gab, waren 63,9% (7,4 Mill.) im produzierenden Gewerbe, also in der Industrie beschäftigt, über ein Drittel (34,5%) waren im tertiären Sektor“ tätig.
Die Entwicklungstrends für Arbeiter des nichtindustriellen, tertiären Sektors sind keineswegs einheitlich gewesen. Es gab Bereiche wie die Hafenbetriebe oder die Bundesbahn, die insgesamt schrumpfte und damit auch die Zahl der Arbeiter in diesen Bereichen. Und es gab andere Dienstleistungsbereiche mit wachsenden Arbeiterzahlen. Darauf verweist die Berufsstatistik, die 1991 über 1 Mill. Kfz-Fahrer und mehr als 800.000 „Reiniger“ verzeichnet, Berufe also, die beide traditionell dem Arbeiterbereich zugehörten.
Einige Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes wie die ÖTV, die DPG und die GdED bestehen bis heute mehrheitlich aus Arbeitern, auch wenn der Anteil der Angestellten ständig gewachsen ist. Die Kampfkraft der ÖTV und der DPG ist dabei ungebrochen, wie die erfolgreichen Abwehrstreiks der ÖTV (1992) und der DPG (1994) gezeigt haben.
Offizielle Statistiken weisen für Ende 1993 etwa 13,2 Millionen Arbeiter in ganz Deutschland aus, das waren 38,5% von allen Erwerbstätigen, einschließlich der Selbständigen. Zwar ist ihre Zahl in Westdeutschland seit Mitte der siebziger Jahre um etwa 3 Mill. von 13 auf 10 Mill. zurückgegangen, und ihr relatives Gewicht hat schon seit Beginn der dreißiger Jahre abgenommen. 1925 waren 46% oder 14,7 Mill. aller Erwerbstätigen Arbeiter, 1882 waren es sogar 57% (9,6 Mill.) gewesen.
Der Rückzug der Arbeiter erscheint jedenfalls im Langzeitvergleich viel weniger spektakulär als die Legionen von Sozialwissenschafter es glauben machen wollen, die in Anschluß an Gorz vom Verschwinden der traditionellen Arbeiterklasse sprechen. Deshalb kann auch von einer „Auflösung“ des traditionellen gewerkschaftlichen (und sozialdemokratischen) Arbeitermilieus keine Rede sein. [10] Zwar „läuteten seit den zwanziger Jahren“ diverse Sozialforschungsinstitute „den Milieus das Sterbeglöckchen“, schreiben Peter Lösche und Franz Walter in ihrer Studie über die SPD, aber das Wählerprofil der SPD sei „in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kaum anders als zu den Zeiten Kaiser Wilhelrns oder Eberts und Hindenburg. Nach wie vor stützt sich die SPD bei den Wahlen in erster Linie auf die gewerkschaftlich organisierte Facharbeiterschaft …“ [11]
Neue Dienstleistungsklasse?
Eine der wichtigsten Argumente für den Niedergang der „traditionellen“ Arbeiterklasse ist der seit einem Jahrhundert ununterbrochene Anstieg der Angestelltenschaft. Nach der rohesten Form des Arguments gehören die Angestellten insgesamt zur Mittelklasse und nur die Industriearbeiter bilden die Arbeiterklasse. Dann würde allerdings die Mittelklasse kein höheres Einkommen als die Arbeiterklasse mehr haben, denn das Anwachsen der Angestelltenzahl ist von einer Angleichung der Arbeiter- und Angestelltenlöhne begleitet gewesen.
Das Lohnniveau der Arbeiter auf der einen und der Tarifangestellten auf der anderen Seite unterscheiden sich heute kaum noch. 1960 lag der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst eines kaufmännischen Angestellten bei 723 DM, der eines techn. Angestellten bei 862 DM, während ein Industriearbeiter 473 DM verdiente. Die entsprechenden Zahlen für 1993 lagen bei 3.612 (k.A.), 3.982 (t.A.) und 3.413 (ind.A.). Damit war der Vorsprung der kaufmännischen Angestellten gegenüber den Industriearbeitern von 53 auf 5% zusammengeschmolzen, der der techn. Angestellten von 82 auf 17%. Mehr als die Hälfte (52,1%) aller Angestellten Westdeutschlands verdienten 1992 weniger als 2.500 DM netto monatlich. 28,5% der Arbeiter verdienten immerhin mehr als 2500 netto und damit mehr als die Mehrheit der Angestellten. [12]
Aber die Angleichung der Verdienste verbirgt einen anderen, gleichzeitig verlaufenden Prozeß. Es gab eine zunehmende Differenzierung innerhalb der Angestellten zwischen einer Schicht hoch- bis gutbezahlter „leitender“ Kräfte auf der einen Seite und einer großen Masse niedrig bezahlter Routinearbeiten auf der anderen. Dieser Prozeß wurde bereits Anfang der sechziger Jahre vom Frankfurter Institut für Sozialforschung in einer Studie über die sozialen Folgen der Automation analysiert. Die Studie sprach von einer „Polarisierung der Büroangestellten …, am einen Pol die privilegierten Fachleute der Automation, am anderen die leicht ersetzbare Menge der Angelernten.“ [13]
Parallel zur Differenzierung und Polarisierung stieg der Zustrom von Frauen in den Angestelltenhereich. 1925 waren 26,6% der Angestellten weiblich, 1971 waren es bereits 43,7% und Ende 1993 57,7%. Die Frauen strömten in die durch Mechanisierung und Automatisierung entstehenden Arbeitsplätze, sie bildeten gewissermaßen das Gros des neu entstehenden Angestelltenproletariats. Sie dominieren in Berufen wie Verkäuferinnen, Bürofach- und -hilfskräften, Krankenschwestern, Arzt- und Apothekenhelferinnen, Kindergärtnerinnen, Putzpersonal usw.
Von den weiblichen Angestellten hatten 1990 knapp neun Zehntel nur eine Haupt- und Realschule abgeschlossen, davon hatten wiederum acht Zehntel eine Lehre gemacht. [14] Während nur 3% der weiblichen Angestellten einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluß besaßen, waren es bei den männlichen Angestellten 18%. Der Verdienstabstand zwischen allen männlichen und allen weiblichen Angestellten betrug im Oktober 1990 62%. Immerhin verdienten 1992 im Westen 38,3% aller männlichen Angestellten monatlich mehr als 3.500 DM netto, bei den Frauen waren es lediglich 5,7% (ohne Teilzeitbeschäftigte).
Die männlichen Angestellten blieben so bis heute von dem Prozeß der Proletarisierung des Angestelltenbereichs zumindest teilweise verschont. Aber nur teilweise: 31,1% aller männlichen Angestellten verdienten 1992 weniger als 2.500 DM netto monatlich und waren schon allein dadurch nicht aus der Masse der männlichen Arbeiter hervorgehoben, von denen immerhin noch über ein Viertel zwischen 3.000 und 4.000 DM netto verdient hatten.
Auch der wachsende gewerkschaftliche Organisationsgrad der Angestellten ist ein Indikator für die Proletarisierungstendenz, wenngleich durchaus nicht alle Gewerkschaftsmitglieder den eher proletarisierten Bereichen zuzurechnen sind. 1950 betrug der Anteil der Angestellten an der DGB-Mitgliedschaft 10,5%, 1985 bereits 22,3%, 1990 waren es 26,3%. Allerdings ist der Organisationsgrad der Angestellten nicht angewachsen. 1990 waren in der alten BRD 45% aller Arbeitnehmer Angestellte, aber stellten nur 23% der DGB- Mitglieder. Die Arbeiter stellten ebenfalls 45% aller Arbeitnehmer (10% waren Beamte), aber 67% aller DGB-Mitglieder.
Nun ist nicht damit zu rechnen, daß die gut verdienenden oberen Angestelltenbereiche sich zuerst organisieren lassen. Eine Studie über Gewerkschaftliche Organisierung der Arbeitnehmer in Bremen kommt zu folgendem Ergebnis: „Für die höheren Angestellten in den Industriebetrieben ist eine Gewerkschaftszugehörigkeit i.d.R. der Karriere abträglich, ihre eigenen Interessen können sie auch individuell bei ihren Vorgesetzten durchsetzen und deshalb erscheint den höheren Angestellten die Mitgliedschaft in einer Industriegewerkschaft als unvereinbar“ mit ihrer betrieblichen Selbstverortung auf Seiten des Management.“ [15]
Karrieristen
Nun wäre die „Selbstverortung“ auf Seiten des Management für sich genommen sicher ein unzuverlässiges Kriterium der Zuordnung, denn ein Teil der männlichen und sogar weiblichen unteren Angestellten bildet sich ein Leben lang ein, auf dem Weg nach oben zu sein, ohne je eine Chance zu haben, dort anzukommen. Wie groß der Teil des Angestelltensektors ist, der nicht nur in der Einbildung zum Kreis der „höheren Angestellten“ gehört, kann nur anhand des Einkommens grob eingeschätzt werden. Denn i.d.R. honoriert die Geschäftsleitung die Loyalität seiner Vollzugsorgane gegenüber der Masse der Belegschaft so, wie eine Armeeführung ihr Offizierskorps bis hin zu den Unteroffizieren auch materiell privilegiert.
Ein knappes Viertel der Angestellten (23,8%) verfügte 1992 über ein monatliches Nettogehalt von mindestens 4.000 DM. Nicht alle, die Teil der manageriellen Hierarchie waren, hatten ein so hohes Gehalt, und nicht alle, die ein so hohes Gehalt hatten, waren Teil der manageriellen Hierarchie. Selbst wenn aber ein Viertel der Angestellten auf Grund ihrer herausgehobenen Stellung im Produktionsprozeß nicht zur Arbeiterklasse gehört und daher auch nur schwer gewerkschaftlich organisierbar ist, und man dieses Viertel von den 12,0 Mill. Angestellten abzieht, die es 1992 in der alten BRD gab, so bleiben noch 9 Millionen Angestellte, die für eine gewerkschaftliche Organisation nach ihrer Klassenlage offen sein müßten.
Da aber 1990 im DGB und in der DAG nur 2,4 Mill. Angestellte organisiert waren, ergäbe sich auch nach Abzug des oberen Viertels nur ein Organisationsgrad von 26,7% im Vergleich zu einem Organisationsgrad von 46,8% bei den Arbeitern. Die Frage stellt sich, warum der gewerkschaftliche Organisationsgrad auch bei der großen Masse der Angestellten in den eher proletarisierten Schichten um so viel niedriger liegt als bei den Arbeitern.
Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle. Der wichtigste Unterschied zwischen dem Arbeiter- und Angestelltenbereich ist, daß die Verwaltung in ihrer typischen Form hierarchisch aufgebaut ist, wobei die unteren Angestellten hoffen können, daß sie in höhere Dienststufen befördert werden, wenn sie verschiedene betriebliche und außerbetriebliche Fortbildungskurse bestehen und den Gefallen ihrer Vorgesetzten finden.
Hierarchien
Die Hierarchie in Gestalt einer Pyramide mit sehr viel weniger Jobs an der Spitze als an der Basis bedeutet, daß nur eine kleine Zahl der Angestellten wirklich aufsteigen kann. Die Frauen, die die große Mehrheit im unteren Bereich der Angestelltenpyramide besetzen, haben nur geringe Aufstiegschancen – aufgrund von Vorurteilen der männlichen Vorgesetzten, aber noch mehr auf Grund der Unterbrechung der Berufskarriere durch Heirat, Schwangerschaft und Kindererziehung. Diese Aufspaltung der Angestelltenpyramide nach Geschlecht hat die Bestrebungen gewerkschaftlicher Organisierung geschwächt.
Obwohl es längst nicht so ist, daß alle unteren männlichen Angestellten in die oberen Bereiche aufsteigen können und es zumeist sehr lange dauert, bis ein Aufstieg erfolgt, orientieren sich doch die meisten männlichen Angestellten am individuellen Aufstieg, und dies ist eine Alternative zur kollektiven Organisation und Aktion der Arbeiter. Der französische Soziologe Crozier schrieb: „Der Angestellte befindet sich auf der untersten Sprosse der Leiter, aber er steht immerhin auf der Leiter“ Die Haltung der männlichen Angestellten beeinflußt wiederum die der weiblichen.
Dies wird auch dadurch begünstigt, daß Angestellte häufig in kleinen Gruppen arbeiten, auch wenn sie in großen Konzernen beschäftigt sind. In diesen Gruppen sind die verschiedenen Schichten, obere, mittlere und untere, vertreten und die oberen beeinflussen in gewöhnlichen Zeiten die unteren. In Zeiten des Kampfes und Streiks kann sich das jedoch rasch ändern.
Schließlich beeinflußt die Unterdrückung der Frauen außerhalb des Betriebs auch deren Verhalten innerhalb des Betriebs. Dies gilt für Arbeiterinnen und weibliche Angestellte gleichermaßen. Von jüngeren unverheirateten Frauen wird nicht erwartet, daß sie den Job länger als ein paar Jahre bis zur Heirat und Schwangerschaft machen, und ältere Frauen sind, wenn sie in den Betrieb zurückkehren, wegen ihrer Verantwortung für die Kindererziehung und den Haushalt häufig in Teilzeitjobs und haben deshalb „keine Zeit“ für gewerkschaftliche oder politische Betätigung.
Das alles bedeutet nicht, daß weibliche und ein großer Teil der männlichen Angestellten nicht für Klassenorganisation und Klassenkampf zu gewinnen sind. Die große Mehrheit der Angestellten sind ein wichtiger Teil der Arbeiterklasse. Aber sie werden den Kämpfen der Arbeiter eher folgen als selbst die Initiative zu ergreifen.
Zwar können gerade in „normalen Zeiten“ einzelne Angestellte in höheren Teilen der Hierarchie die Initiative ergreifen und untergebene Angestellte für die Gewerkschaft gewinnen. Es wäre aber fatal, wenn die Gewerkschaften ihre Tarifpolitik an den Bedürfnissen der oberen Angestellten orientieren würden, wie dies in den achtziger Jahren selbst in linken Gewerkschaften Mode wurde. [16] Das oben angeführte Beispiel der siebziger Jahre zeigt, daß eine egalitäre, solidarische Lohnpolitik, die offensiv die Rechte der unteren, vor allem der weiblichen Angestellten vertritt, noch am ehesten in der Lage ist, das gewerkschaftliche Kollektivbewußtsein gegen illusionäres individuelles Aufstiegsstreben zu stärken.
Segmentierung
Die Theorien vom angeblichen Verschwinden oder vom Schwund der Arbeiterklasse leben auch davon, daß sie ein rosarotes Bild vergangener Tage der Arbeiterklasse malen und dies ihrer eigenen Schwarzmalerei von heute gegenüberstellen. Da sind auf der einen Seite die guten alten Tage, das „goldene Zeitalter“ der Arbeiterklasse, wo diese groß, einheitlich, wachsend und politisiert war, wobei sich die Theoretiker selten auf einen genauen Zeitpunkt festlegen lassen. Dagegen halten sie das Bild der heutigen Arbeiterklasse: klein, schrumpfend. atomisiert, apathisch, unpolitisch und vor allem „segmentiert“, d.h. auseinanderstrebend durch wachsende Unterschiede der objektiven Lagen ihrer verschiedenen Teile.
Eine solche „Segmentierungstheorie“ ist die von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ wonach zwei Drittel „Besitzende“ (Kapital oder Arbeitsplätze) einem Drittel „Besitzlosen“ gegenüberstehen. Diese Theorie wurde 1975 vom CDU-Theoretiker Prof. Kurt Biedenkopf als „neue soziale Frage“ erfunden, um von den wirklichen sozialen Spannungen zwischen den Klassen abzulenken. Nach Biedenkopf war die Gesellschaft nicht mehr in Kapital und Arbeit, sondern in „Besitzende“ und „Ausgegrenzte“ getrennt: „An die Stelle des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit tritt der Konflikt zwischen Proudzenten und Nichtproduzenten.“ In den achtziger Jahren haben Theorien der Segmentierung der Arbeiterklasse auch bei linken Soziologen und Politikern Anklang gefunden.
Zunächst ist dagegen festzuhalten, daß es immer „Segmentierungen“ der Arbeiterklasse gegeben hat. So gab es überall in der Frühphase des Kapitalismus weitverbreitet Frauen- und Kinderarbeit. Frauenlöhne lagen bei einem Drittel der Männerlöhne und Kinderlöhne bei 10 bis 15%. Die Lohndifferenzen zwischen Facharbeitern und Ungelernten und, parallel dazu, zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern, waren vor dem ersten Weltkrieg riesig. Ein gelernter Dreher verdiente 1906 42 Pfennig im Zeitlohn, eine Arbeiterin im gleichen Metallbetrieb kam auf 18,8 Pfennig die Stunde. Die Spaltung zwischen den Facharbeitern und Ungelernten war wesentlich schärfer als heute und auch die regionale „Segmentierung“ war größer als heute (wenn man von der neuerlichen Ost-West-Segmentmerung absieht.) Der durchschnittliche Stundenlohn eines Metallarbeiters betrug in Hamburg 55 Pfennig, in Emden dagegen nur 29,8 Pfennig. Sogar die täglichen Arbeitszeiten waren unterschiedlich. [17]
Vergleicht man die heutigen regionalen und beruflichen Lohndifferenzen mit den damaligen, so sind heute die Lohndifferenzen nach Geschlecht, Beruf oder Region innerhalb der Arbeiterschaft wesentlich geringer als damals. Eine angelernte Arbeiterin in einer Montagefabrik der Metallindustrie verdiente 1994 85% (2.639 DM) des Ecklohnes (unterster Facharbeiterlohn = 3.103 DM). Auch die regionalen Differenzen sind innerhalb der alten BRD wesentlich niedriger: eine kaufmännische Angestellte verdiente in München 3.600 DM, in Dörfern und Kleinstädten dagegen 2.500 DM.
Auch damals gab es Segmentierungstheorien, z. B. die von der „Arbeiteraristokratie“, wonach die bestbezahlten Facharbeiter von den Kapitalisten ausgehalten und bestochen wären. In der Tat bildeten die Facharbeiter in der politischen und in der Gewerkschaftsbewegung vor dem ersten Weltkrieg ein konservatives Element, was sie nicht davon abhielt, 1918/19 in der Revolution an der Spitze der Rätebewegung zu stehen.
Die These von der „wachsenden Segmentierung“ trifft auf keinen Fall generell auf die Arbeiterbereiche zu, sehr wohl aber auf die Angestelltenbereiche, wo es auseinanderstrebende Tendenzen sowohl der Angleichung an die Arbeiter in den unteren Bereichen als auch des Drifts ins Milieu der neuen Mittelklasse gab. Hier sind die Differenzen im Einkommen eher vergleichbar mit denen innerhalb der Arbeiterschaft vor dem ersten Weltkrieg.
Die neue Mittelklasse
Klar ist aber auch, daß ein wachsender Teil der vom statistischen Bundesamt als „abhängig Beschäftigte“ Klassifizierten aus Angestellten (und Beamten) der oberen Schichten besteht, die sowohl von ihrer Stellung in der Produktion und Verwaltung wie auch von ihrem Einkommen nicht zur Arbeiterklasse gehören, sondern zu einer neuen Mittelklasse.
Wer gehört zu der neuen Mittelklasse (NMK), und wie unterscheidet sie sich von den Kapitalisten einerseits und von der Arbeiterklasse andererseits?
In den achtziger Jahren haben solche Theorien an Gewicht gewonnen, die in Anlehnung an den deutschen Soziologen Max Weber Klassenzugehörigkeit aus den durch Marktchancen vermittelten „Lebensstilen“ ableiten, nicht aber aus der unterschiedlichen Stellung zu den Produktionsmitteln. Diese Tendenz zum „Subjektivismus“, d.h. die Ausblendung objektiver ökonomischer Strukturen zugunsten ideologischer Momente der Selbsteinschätzung und der persönlichen Qualifikation läßt weder die Unterscheidung von einer Klasse „an sich“ und „für sich“ zu, wie sie bei Marx zu finden ist, noch erlaubt sie, zwischen falschem und richtigem, d.h. der objektiven Lage angemessenem Bewußtsein zu unterscheiden. In den praktischen Schlußfolgerungen führt diese Tendenz dazu, diejenigen Angestellten, die sich nur einbilden, „etwas Besseres zu sein“, es aber gar nicht sind, in einen Topf zu werfen mit denjenigen, die wirklich eine gegenüber der Masse der Lohnarbeiter herausgehobene Stellung einnehmen. In den Debatten über die Angestelltenpolmtik der Gewerkschaften führt diese Verwischung tatsächlicher Klassendifferenzen zu dem Versuch, standesbewußten höheren Angestellten Positionen in den Betriebsräten und in gewerkschaftlichen Strukturen auf einem silbernen Tablett anzubieten und die gewerkschaftliche Angestelltenpolitik an deren „individualistischen“ Bedürfnissen auszurichten.
Die neue Mittelklasse nenne ich die Schichten höhergestellter und gutbezahlter abhängig Beschäftigter, die die mittleren Positionen der bürokratischen Strukturen besetzen, die für den reifen Kapitalismus typisch geworden sind. Sie unterscheiden sich von den Spitzenbürokraten, die diese Strukturen anführen.
Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder und Direktoren von Großkonzernen zählen nicht zur NMK. Diese „Top-Manager“ sind praktisch nicht unterscheidbar von den Kapitalisten selbst, sind ebenso wie diese fest auf die Ausbeutung der Arbeitskräfte orientiert und daher, wie Marx es ausdrückte, „personifiziertes Kapital“.
Unterhalb der eigentlichen Führungsebene von Vorständen und Geschäftsführern beginnt die Ebene der NMK, zu der die Masse der „leitenden Angestellten“ und der AT-Angestellten (Außertariflich Eingestufte) zählen, darüber hinaus aber auch ein Teil der obersten Gehaltsgruppen der Angestelltentarife. [18]
Die Gehaltsabstufung zwischen Vorstandsmitglied, leitenden Angestellten und Tarifangestellten stellt sich im Zahlenverhältnis von etwa 9:3:1 dar. Das heißt: Top-Manager haben ein Jahresgehalt von
300.000 bis 550.000 DM, Leitende Angestellte (obere Position der NMK) 90.000 bis 180.000 DM und „Durchschnittsangestellte“ 30 bis 60.000 DM. [19]
Die Einkommensunterschiede zwischen (kapitalistischer) Führung, leitenden Angestellten und Durchschnittsangestellten von 9:3:1 lassen sich nicht durch unterschiedliche Qualifikationen erklären. Für den Zugang zu einer der drei Klassengruppen von Angestellten ist nicht die Qualifikation entscheidend. 6% der leitenden Angestellten verfügten nur über Haupt- und Realschulabschluß und umgekehrt übten 22% der Angestellten mit Hochschulabschluß nur „Sachbearbeitertätigkeit“ aus, d.h. gehörten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zur neuen Mittelklasse. [20]
Die neue Mittelklasse unterscheidet sich auch von der Klasse der Lohnarbeiter, seien es Angestellte oder Arbeiter. Lohnarbeiter erhalten nicht mehr als den Wert ihrer Arbeitskraft als Bezahlung, während die Mitglieder der NMK ein wesentlich höheres Einkommen erhalten als es dem Wert ihrer Arbeitskraft entspräche oder sogar als den Wert, den ihre Arbeitskraft schaffen würde, wenn sie im produktiven Bereich der verarbeitenden Industrie eingesetzt würden. So können sie sogar an der Ausbeutung der Lohnarbeit teilhaben.
Neue Mittelklasse und Kleinbürgertum
Das bedeutet nicht, daß die NMK sich automatisch mit dem Kapital identifiziert. Wie das alte Kleinbürgertum von Kleinbesitzern und selbständigen Professionen befindet sich die NMK in einer widersprüchlichen Lage. Sie nimmt eine untergeordnete, abhängige Stellung im System ein. Besonders in Krisenzeiten besteht für die Mitglieder der NMK das Risiko, vom Kapital ins soziale Nichts gestürzt zu werden. (Das alte, „besitzende“ Kleinbürgertum riskierte den Bankrott, die NMK die Entlassung und in der Folge Arbeitslosigkeit).
Zugleich gewinnt sie beträchtliche Privilegien, indem sie der herrschenden Klasse beisteht, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und auszubeuten. (Das Kleinbürgertum beutete teilweise seine eigenen Beschäftigten aus, die NMK, indem sie hohe Gehälter dadurch „verdient“, daß sie die Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation gegenüber den Lohnarbeitern durchsetzen hilft.)
Die Grenzen der NMK können weder nach oben noch nach unten scharf gezogen werden. Nach oben geht sie in die Klasse der Kapitalisten über, nach unten in die der Lohnarbeiter. Insofern ist sie wie das alte Kleinbürgertum keine unabhängige Klasse, sondern eine, die sich hin- und hergedrückt sieht, je nachdem, woher der Druck kommt.
Trotzdem ist es wichtig, Grenzen zu ziehen. Es macht keinen Sinn, eine Krankenschwester mit einem Bruttomonatsgehalt von 3.800 DM (nach fünf Jahren!) zur NMK zu zählen, nur weil sie eine Berufsausbildung („Profession“) besitzt und „Angestellte“ ist. Das gleiche gilt für den Fachlehrer einer allgemeinbildenden Schule, der mit einem Monatsgehalt von 4.391 DM (6. Dienstaltersstufe) 1994 nur knapp 1.000 DM mehr als den Durchschnittslohn eines Industriearbeiters (3.400 DM) verdiente.
Eine Reihe von Indizien – Einkommen ist dabei das wichtigste – zeigen, daß die NMK etwa ein knappes Viertel der Angestellten und etwa zwei Fünftel der Beamten ausmachen. Das waren etwa drei Millionen von 27 Mill. oder ca. 11% aller Erwerbstätigen (alte Bundesländer). Die dabei zugrunde gelegte Grenze eines Mindesteinkommens von 4.000 DM netto im Monat erlaubt natürlich nur eine grobe Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse und beansprucht keine Exaktheit der Zuordnung. [21]
Das bedeutet umgekehrt, daß die Arbeiterklasse sich zwar in den letzten zwanzig Jahren beträchtlich verändert hat, aber ihr Anteil an der gesamten Bevölkerung heute mit etwa drei Viertel aller Erwerbstätigen eher größer ist als damals.
Die Geschichte der Arbeiterklasse ist eine Geschichte des ständigen Wandels. Alte Industriezweige gehen unter, neue entstehen, neue Produktivkräfte wälzen die Arbeitsorganisation um, neue Herrschaftsstrukturen entstehen.
Worüber im Rahmen dieses Artikels nicht gesprochen wurde, sind die Veränderungen und Prozesse des Klassenbewußtseins. Das Bewußtsein der Klassen ändert sich natürlich beständig. Es sind vor allem die Erfahrungen in Kämpfen (und „Nicht-Kämpfen“!), die das Bewußtsein der Arbeiterklasse bestimmen. Nur durch Kämpfe können sie zu eigenem Bewußtsein kommen.
Der hohe Grad an Solidarität, der sich in den jüngsten Streiks der Metaller und der Holzarbeiter gezeigt hat, ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß sich die Propheten des Verschwindens und des Schwundes der Arbeiterklasse wieder einmal irren. Wir sollten eine Phase des Rückzugs und des Niedergangs der Arbeiterkämpfe und des Klassenbewußtseins, wie es die achtziger Jahre geprägt hat, nicht mit einer Auflösung der Klasse verwechseln, sowenig, wie das Bewußtsein einer Klasse „für sich“ identisch ist mit dem Bestehen dieser Klasse „an sich“.
Anmerkungen
1. Peter Lösche, Franz Walter, Die SPD, Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei, Darmstadt 1992, S.101
2. In Autonomie und Organisation, Hamburg 1992, Siegfried Bleicher/Eberhard Fehrmann (Hrsg.)
3. „Die Vorzeichen, unter denen gegenwärtig die Veränderungen der sozialen Basis gewerkschaftlicher Organisierung diskutiert werden, sind insbesondere Individualisierung, Wertewandel, Auflösung traditioneller sozialer Milieus bzw. Klassenstrukturen sowie Interessendifferenzierung.“ Mario Helfert, Sozialer Fortschritt und der Fortschritt der Individualisierung, WSI-Studien, Köln 1991.
4. Dazu zählen Energie, Wasser, Bergbau, verarbeitendes Gewerbe (Industrie und Handwerk), Baugewerbe.
5. Wirtschaftsstruktur und Arbeitsplätze im Wandel der Zeit, Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden 1994, S.64
6. Vgl. Der Trend zum Klein- und Mittelbetrieb, in Gewerkschaftsjahrbuch 1988, Michael Kittner (Hrsg.), Köln 1988.
7. Vgl. Wirtschaftsstruktur und Arbeitsplätze, a.a.O., S.53.
8. Gewerkschaftsjahrbuch 1986, S.45, Michael Kittner (Hrsg.), Köln 1986.
9. Vgl. etwa den Beitrag von Ulrich Heise in Autonomie und Organisation, a.a.O., S.127. Heise vertritt die These, daß sich eine aktive gewerkschaftliche Angestelltenpolitik nicht mehr auf den Kreis der „gering qualifizierten KollegInnen“ stützen dürfe.
10. Daß Politiker und Sozialforscher das anders wahrnehmen, mag mit dadurch bedingt sein, daß ein beträchtlicher Teil der Arbeiter in den Großstädten aus Ausländern besteht und damit als „Nichtwähler“ uninteressant ist. In einer Stadt wie Frankfurt a.M. ist fast jeder zweite Arbeiter Ausländer und damit nicht wahlberechtigt.
11. Die SPD. Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei, Darmstadt 1992, S.89f.
12. Dr. R. Kraus, R. Groß, Wer verdient wieviel, Stuttgart 1995, S.204
13. Friedrich Pollock, Automation, Frankfurt 1964, S.261.
14. Wirtschaft und Statistik, 5/94, S.382
15. Heinz Stück, Arbeiter, Angestellte und Gewerkschaften, in S.Bleicher/E.Fehrmann: Autonomie und Organisation, Hamburg 1992, S.108.
16. Vgl. Autonomie und Organisation, a.a.O., darin den Beitrag von Joachim Denkinger, Berufsprobleme und Interessenorientierung hochqualifizierter Angestellter oder: Sind die Gewerkschaften nur für „Schwache“ da?“
17. nach Löhne und Arbeitszeiten der Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1907
18. der von Statistikern zu fünf Leistungsgruppen zusammengefaßten Angestelltenhierachie gehören die Angestellten der Gruppe Ib („Angestellte mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnissen“ und weniger als 17.000 DM Gehalt) sowie der LG II („Tätigkeiten mit eingeschränkten Dispositionsbefugnissen und Verantwortung für den Einsatz von anderen Angestellten“) zur NMK. Bei den anderen drei Leistungsgruppen fehlen die Merkmale „Dispositionsbefugnis“, d.h. Verfügung über Geldmittel, und Aufsichtsbefugnisse, d.h. Anweisungsrechte gegenüber Untergebenen.
19. Wer verdient wieviel?, a.a.O., S.132 f.
20. Wirtschaft und Statistik, Nr. 5/94, S.379.
21. Eigene Berechnung nach Angaben des Statistischen Jahrbuchs über Verdienststreuung bei Arbeitern, Angestellten und allen übrigen Erwerbstätigen im Jahr 1994.