Antonio Negri in historischer Perspektive

Sollte es Zweifel daran gegeben haben, dass die antikapitalistische Bewegung ein
bedeutendes Revival der Linken im Weltmaßstab darstellt, so wurden diese durch die breite Demonstration
gegen den G8-Gipfel am 21. Juni 2001 in Genua ausgeräumt. Rund 300000 Menschen, die übergroße Mehrheit
aus Italien selbst, nahmen, trotz der extremen Gewaltausübung durch die Polizei, an den Protesten teil.
Die Jugend, das Selbstvertrauen und die Militanz der Demonstranten bewiesen eindeutig, dass sich die
italienische Linke nach einem Vierteljahrhundert der Niederlage und Demoralisierung im Prozess der
Erneuerung befindet.

Diese Wiederbelebung ist jedoch eine komplexe Angelegenheit. Man macht es sich
sehr einfach, wenn man denkt, eine neue Linke basiere notwendigerweise auf neuen Ideen. Die Rhetorik
einiger führender Persönlichkeiten der antikapitalistischen Bewegung legt das oft nahe. Naomi Klein
z. B. betont "die dezentralisierte, nichthierarchische Struktur der Bewegung" und
ihre "netzartige Struktur", um die Neuartigkeit der aktuellen
globalisierungskritischen Bewegung herauszustellen.1 Aber neue Kämpfe enthalten immer Elemente
von Kontinuität und Diskontinuität zur Vergangenheit. Gedanken, die in anderen Umständen formuliert
und danach marginalisiert wurden, können erneut auftauchen,
um bedeutenden Einfluss in neuen Bewegungen auszuüben.

Empire ist dafür ein Beispiel. Geschrieben von dem italienischen marxistischen
Philosophen Antonio Negri und dem amerikanischen Literaturkritiker Michael Hardt, hat es seit seinem
Erscheinen im letzten Jahr für ein beträchtliches Medieninteresse gesorgt. Immerhin handelt es sich
dabei um ein abstruses theoretisches Werk, das von der Harvard University Press als gebundene Ausgabe
herausgegeben wurde und als Schlussfolgerung "die unwiderstehliche Leichtigkeit und Freude des
Kommunist-Seins beschwört
".2

Amerikanische Akademiker mit dem radikalen Chic sind bekannt dafür, Modeströmungen
anzuhängen. Aber die Theorien von Empire haben praktische Auswirkungen. Eine der Hauptströmungen in der
antikapitalistischen Bewegung ist der "Autonomismus" [der Theorie und Praxis der Autonomen].
Er besteht aus zwei politischen Charakteristika: zum ersten aus der Ablehnung des leninistischen Organisationskonzepts;
und zum zweiten aus der Adoption von substitutionistischer Aktionsformen, mittels derer eine politisch aufgeklärte Elite stellvertretend für die Massen handelt.
Autonomismus materialisiert sich in unterschiedlichen politischen Formationen. Die bekannteste Version wird durch den anarchistischen "Schwarzen Block" repräsentiert,
der durch seine Strategie der gewaltsamen Konfrontation mit dem Staat der Polizei in die Hände spielt.

Attraktiver ist die italienische autonome Vereinigung Ya Basta!, die die
kompromisslose Ablehnung des politischen Establishments – unter Einschluss der Parteien der reformistischen
Linken – einerseits mit der Praxis fantasievoller Formen der gewaltfreien direkten Aktion und andererseits
der Teilnahme an Kommunalwahlen, manchmal mit Erfolg, verbindet. Ya Basta!, die sich als Dachorganisation
verschiedener Einstellungen und Schwerpunkte verstehen, überlappt sich mit jenen durch ihre weißen Demonstrationsoveralls bekannt gewordenen
Tute Bianche – sehr wirkungsvoll während der Proteste in Prag im September. Naomi Klein
(The Guardian, 8.6.2001) nennt die Sozialzentren, die Ya Basta! als Hauptaktionsbasis dienen,
"Fenster – nicht nur in Bezug auf eine vom Staat abgekoppelte andere Lebensweise, sondern
auch bezüglich eines neuen politischen Engagements
". Die Statements der Tute Bianche
sprechen die Sprache von Empire.3 Dieser Nachweis des politischen Einflusses von Empire
sollte niemanden überraschen. Denn Toni Negri ist der Philosoph des italienischen Autonomismus.

1936 geboren, sitzt er zurzeit eine 20-jährige Gefängnisstrafe in Italien ab, weil
er in den 70er Jahren angeblich am bewaffneten Kampf der Roten Brigaden teilgenommen haben soll. Sein
Schicksal verdeutlicht jenen spezifischen historischen Kontext der 70er Jahre, als die autonome Politik
in der krisengeschüttelten italienischen Gesellschaft erstmals Gestalt annahm. Jede Bewertung von Empire
setzt daher das Verständnis dieses Kontextes und der Entwicklung von Negris Denken voraus.

Das italienische Erdbeben und das Entstehen des Autonomismus

Mit der wichtigen Ausnahme der portugiesischen Revolution, wurde der Höhepunkt der
Arbeiterkämpfe, die in den späten 60er und der ersten Hälfte der 70er Jahre durch Westeuropa fegten,
in Italien erreicht.4 Die Studentenrevolte von 1967/68 und die Explosion von Streiks
im "Heißen Herbst" von 1969 markierten das Vorspiel zu einer massiven Welle von
Arbeiterkämpfen. Die dadurch initiierte breitere soziale Radikalisierung drückte sich z.B. in der
Niederlage der herrschenden Oligarchie der Christdemokraten (DC) anlässlich des 1974 durchgeführten
Referendums zur Ehescheidung aus. Dieses Klima begünstigte das Auftauchen einer gesellschaftlich
relevanten radikalen Linken, die hauptsächlich von drei Organisationen dominiert wurde -Avanguardia
Operaia, Lotta Continua und PdUP (Partei der proletarischen Einheit für den Kommunismus).
Die radikale Linke verfügte über beträchtlichen Einfluss in den militantesten Sektoren der Arbeiterklasse.
In der Mitte der 70er Jahre konnte sie allein in Mailand 20000-30000 Menschen mobilisieren. Zu dieser
Zeit befand
sich Italien allerdings in einer massiven ökonomischen, sozialen und politischen Krise. In Washington
und Bonn wurde das Land als der kranke Mann des westlichen Kapitalismus betrachtet. Das korrupte und
autoritäre DC-Regime war offensichtlich in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Bei den Regional-
und Kommunalwahlen im Juni 1975 gewann die Linke 47% der Stimmen, während der Anteil der DC auf 35% fiel.
Innerhalb von 5 Jahren jedoch musste die italienische Arbeiterbewegung eine Serie deprimierender
Niederlagen hinnehmen, von denen sie sich erst heute langsam erholt.

Zwei Hauptfaktoren waren für dieses Desaster verantwortlich.5 Der
erste und wichtigste war die Hilfe der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) für die DC:
"Trotz ihres Widerstands gegenüber dem rebellischen Verhalten der Arbeiter und Studenten
in den Jahren 1967-1969 und ihrer zweideutigen Einstellung zum Referendum über die Ehescheidung 1974,
profitierte die PCI davon paradoxerweise an den Urnen.
"6 Parallel dazu absorbierte
die von der PCI dominierte Gewerkschaft CGIL einen großen Teil der Militanz der Basis in den Betrieben,
die in den späten 60er Jahren z. B. durch die Gründung von Fabrikräten zum Ausdruck gekommen war. Die
Wiederherstellung des Einflusses der PCI wurde begünstigt durch die wachsende Arbeitslosigkeit in der
Mitte der 70er Jahre, durch die die Kämpfe in den Betrieben vereinzelter und defensiver wurden –
verglichen mit denjenigen im Heißen Herbst.

Bei den Parlamentswahlen im Juni 1976 erreichte der Stimmenanteil der PCI mit 34,4%
seinen Höhepunkt. Doch PCI-Führer Enrico Berlinguer verstand das als Aufforderung, dem
italienischen Kapitalismus beizustehen. Nach dem Staatsstreich in Chile 1973 bot er der DC
den "historischen Kompromiss" an. Obwohl die PCI aufgrund der Intervention der
US-Regierung an der Regierungsbeteiligung gehindert wurde, unterstützte die Partei zwischen 1976
und 1979 eine Reihe von "Regierungen der nationalen Solidarität" unter der Führung
des ultramachiavellistischen DC-Politikers und Vatikan-Verbündeten Giulio Andreotti. Die PCI benutzte
ihre Dominanz innerhalb der Arbeiterbewegung, um den Widerstand gegen die Austeritätspolitik der
Regierung zu überwinden. Auf diese Weise half sie dabei, den italienischen Kapitalismus zu stabilisieren.

Ein zweiter Faktor dieser Krise war die Schwäche der revolutionären Linken. Das
vorherrschende Marxismusverständnis der italienischen radikalen Linken war in den 60er Jahre war der
Maoismus. Die Vorstellung, dass Bauernguerillas in China den Kapitalismus überwunden hatten, beförderte
den Glauben, man könne unter Vermeidung der langwierigen und schwierigen Aufgabe, die Unterstützung der
Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen, rasch die Revolution erreichen. Im heißen Klima der
Radikalisierung Ende der 60er Jahre führte dies zum Aufbau von Fabrikkomitees außerhalb der Gewerkschaften.
Mitte der 70er Jahre machten die drei bedeutendsten Organisationen der radikalen Linken eine
scharfe Rechtswendung. Sie entwickelten eine Strategie unter der Annahme, dass die Wahlen 1976 zu
einer Linksregierung unter Beteiligung der radikalen Linken führen würden, die dann ein weitreichendes
Reformprogramm durchführen könnte. Tatsächlich stieg der Anteil der DC-Stimmen, die revolutionäre Linke
gewann nur 1,5% und die PCI zog es vor, mit der Rechten zu koalieren. In der Folge gerieten Avanguardia
Operaia, Lotta Continua und PdUP in die Krise und ihre Organisationen zerfielen erstaunlich schnell.

Das Ende der Massenkämpfe war jedoch noch nicht erreicht. Anfang 1977 entwickelte
sich eine neue Studentenbewegung, die rasch auf die Erwerbslosen übergriff. Autonomia Operaia, eine lose
Vereinigung revolutionärer Kollektive, übte hier einen wachsenden Einfluss aus. Trotz vieler attraktiver
Eigenschaften und demonstrativer Wut neigte die Bewegung von 1977, so wie sie sich im Kontext der
wachsenden Massenerwerbslosigkeit gerade unter Jugendlichen entwickelte, dazu, mit der organisierten
Arbeiterklasse in Widerspruch zu geraten. Diese Tendenz wurde real wegen des politischen Einflusses
des Autonomismus. Autonomia Operaia, die im März 1973 entstand, war eine heterogene Formation, auf die
die Schriften von Negri einen teilweise starken Einfluss ausübten.7 Sein intellektueller
Hintergrund lag im Operaismo, einer besonderen italienischen marxistischen Strömung, deren wichtigster
Vertreter Mario Tronti war. Dessen Marxismus rückte den direkten Konflikt zwischen Kapital und Arbeit
im unmittelbaren Produktionsprozess in den Mittelpunkt.

Der Operaismo war nur eine der marxistischen theoretischen Strömungen, die sich zwischen 1960 und 1970
auf den, wie sie es nannten, kapitalistischen Arbeitsprozess konzentrierten – die
deutsche "Kapitallogik"-Schule ein anderes. Diese Politik machte Sinn in Zeiten
intensiver betrieblicher Konflikte, in denen starke Betriebsorganisationen gleichermaßen die Bosse
wie die Gewerkschaftsbürokraten herausforderten. 1974 konnte Negri noch schreiben, dass die Fabrik

"die entscheidende Stelle sowohl der Verweigerung der Arbeitskraft als auch des Angriffs auf
die Profitrate ist
"8. Aber als in den späten 70er Jahren die Militanz der Basis
angesichts der ökonomischen Krise und des historischen Kompromisses zerbröckelte, beharrte er auf den
theoretischen Kategorien des Operaismo, indem er, wie Abse bemerkt, "ihn buchstäblich ins
Gegenteil seines früheren ideologischen Selbst
" verkehrte.9 Sein entscheidender
theoretischer Schritt ersetzte das Konzept des "Industriearbeiters" durch den
"gesellschaftlichen Arbeiter".

Negri argumentiert, dass der Prozess der kapitalistischen
Ausbeutung nun auf gesamtgesellschaftlicher Basis stattfindet.
Demzufolge müssten sozial und ökonomisch marginalisierte Gruppen
wie Studenten, Erwerbslose und Jobber zu den Kernabteilungen des Proletariats gezählt werden.
Tatsächlich erscheint im Vergleich mit diesen Gruppen der alte "Industriearbeiter"
in den großen Fabriken Norditaliens wie der Angehörige einer privilegierten Arbeiteraristokratie.
Nimmt man die folgende Passage, so macht allein der Erhalt eines Lohns einen Arbeiter zu einem dem
Management gleichrangigen Ausbeuter: "Einige Gruppen von Arbeitern, einige Abteilungen der
Arbeiterklasse, bleiben in den Dimensionen des Lohns befangen, in den mystifizierten Bedingungen
desselben. Anders ausgedrückt, sie leben vom Einkommen als einer Rendite. Insoweit stehlen und
enteignen sie proletarischen Mehrwert. Sie partizipieren vom Diebstahl gesellschaftlicher Arbeit –
zu den gleichen Bedingungen wie ihr Management. Diese Stellungen – wie die sie unterstützende
Gewerkschaftspraxis – müssen bekämpft werden, notfalls mit Gewalt. Es wäre nicht das erste Mal,
dass ein Marsch von Erwerbslosen eine Fabrik besetzte, um die Arroganz der Lohnempfänger zu zerstören.
"10

Solche Spitzfindigkeit war mehr als nur theoretischer Nonsens.
Sie lieferte eine scheinbar "marxistische" Legitimation für die gewalttätigen Zusammenstöße,
die sich zwischen den Autonomen und Gewerkschaften entwickelten.11

Die Absicht, angestellte Arbeiter anzugreifen, war Teil eines allgemeinen Kults der Gewalt.
Negri: "Proletarische Gewalt, so weit sie einen positiven Bezug auf den Kommunismus hat,
ist ein essenzielles Element kommunistischer Dynamik. Die Gewalt dieses Prozesses zu unterdrücken,
würde nur bedeuten, sie an Hand und Fuß gefesselt dem Kapital auszuliefern. Gewalt ist eine erste,
unmittelbare und schlagkräftige Bestätigung der Notwendigkeit des Kommunismus. Sie liefert nicht
die Lösung, ist aber grundlegend.
"12

Währenddessen führten andere diesen Kult der Gewalt zu seinem logischen
Abschluss. Die Roten Brigaden gründeten sich bereits in den frühen 70er Jahren. Doch erst das Klima
der Gewalt und Verzweiflung 1977-1978 ermutigte dazu, ihren bewaffneten Kampf gegen den italienischen
Staat eskalieren zu lassen. Ihre spektakulärste Aktion war dabei die Entführung und Ermordung des
früheren Premierministers und führenden Christdemokraten Aldo Moro im Frühjahr 1978. Die Roten Brigaden
nahmen nicht nur Beamte des Staates, sondern auch Gewerkschafter ins Visier, die sie der Kollaboration
mit dem Staat bezichtigten. Diese Taktik wurde fragwürdig legitimiert mit der Unterstützung, die die
PCI den antidemokratischen Regierungsmaßnahmen gewährte. Doch ihre Auswirkungen führten zur Isolation
der gesamten radikalen Linken und eröffneten eine Welle der Repression, die die Roten Brigaden zerstörte
und viele ins Gefängnis brachte.

Angesichts einer zersplitterten und geschwächten Linken
und unterstützt von der Komplizenschaft der PCI, gingen die Unternehmer
zur Offensive über. Im Oktober
1979 gelang es Fiat, 61 Aktivisten
seiner Mirafori-Fabrik in Turin unter der Anschuldigung rauszuschmeißen,
in gewalttätige Aktionen verwickelt gewesen zu sein. Im folgenden September
sollten weitere 14 000 Arbeiter der militantesten Sektoren entlassen werden. Selbst
die PCI-Führung erkannte, dass dieser Angriff auch sie schwächen würde. Berlinguer
kam vor die Fabriktore und erklärte seine Unterstützung für eine Besetzung. Aber der
Mohr hatte bereits seine Schuldigkeit getan. Durch die Spaltung der Turiner
Arbeiterschaft hatte Fiat einen überwältigen Sieg errungen. Insgesamt 23 000
Arbeiter, darunter viele Aktivisten, wurden entlassen. Indem er den Konflikt
mit dem großen britischen Bergarbeiterstreik 1984/85 vergleicht, schreibt Abse:
"Fiats eigentliches Ziel war die Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Fabrik
und die Wiedergewinnung der Kontrolle der Arbeiterschaft und des Produktionsprozesses, den sie
1969 verloren
hatten.
"13 Das erfolgreiche Erreichen dieses Ziels bereitete den Boden für die Wiederauferstehung des italienischen Kapitalismus in den 80er Jahren, dessen deutlichstes Symbol der Aufstieg von Silvio Berlusconi darstellt.

Negri schreibt Marx neu – als Foucault

Negri war eines der Opfer dieser Niederlage. Im April 1979 wurde er in Padua aufgrund
konstruierter Beschuldigungen, er wäre der Kopf der Roten Brigaden und stecke hinter der Entführung von
Moro, verhaftet. Nach vier Jahren Haft ohne Verurteilung, kam er 1983 frei. Er war als Abgeordneter für
die libertäre Radikale Partei ins Parlament gewählt worden und floh dann ins Exil nach Frankreich. Seine
Gefängnisstrafe wurde 1984 in Abwesenheit verkündet.14

Im gleichen Jahr erschien auf Englisch Marx beyond Marx, vielleicht sein
wichtigstes Buch. Es basiert auf Seminarvorlesungen, die Negri auf Einladung von Louis Althusser an der
Ecole Normale Superieure in Paris 1978 gehalten hatte, exakt zum Zeitpunkt des Desasters für die
italienische Linke. Der Herausgeber der englischen Ausgabe von Marx beyond Marx nannte es "eines der bedeutendsten Dokumente des europäischen Marxismus seit… nun, vielleicht überhaupt". Diese enthusiastische Beschreibung gibt zumindest die ehrgeizige Absicht des Buches wieder. Denn Negri versucht tatsächlich den Marxismus als Theorie historischen und sozialen Wandels auf eine reine Theorie der Macht zu reduzieren. Er beruft sich dabei auf seine Lektüre der Marxschen Grundrisse- eines Textes, der 1857/58 geschrieben wurde und der das erste einer Reihe von umfangreichen Manuskripten ist, die zehn Jahre später im ersten Band des Kapitals gipfeln. Negri betrachtet das Kapital allerdings als ein fehlerhaftes Werk, das "dazu dient, Kritik auf ökonomische Theorie zu reduzieren, Subjektivität in Objektivität aufzulösen, die subversive Fähigkeit des Proletariats der reorganisierenden und repressiven Intelligenz der kapitalistischen Macht zu unterwerfen". "Subjektivität" ist hier das Schlüsselwort. Für Negri reduziert sich Geschichte auf kollektive Zwangsbeziehungen, auf den Kampf zwischen Kapital und Arbeit als rivalisierender Klassensubjektivitäten: "Die Grundrisse zielen auf eine Theorie der Subjektivität der Arbeiterklasse gegen die profitorientierte Theorie der kapitalistischen Subjektivität."

Negris Marx-Lektüre enthält tatsächlich eine systematische Neuschreibung einiger Marx’scher Schlüsselthesen. Drei Beispiele sollen genügen:

1. Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate: Diese Theorie bildet natürlich die Grundlage der Marxschen Theorie der kapitalistischen Krise. Doch getreu seiner Operaismo-Vergangenheit reduziert sich für Negri die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf den direkten Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. So behauptet er, dass "der tendenzielle Fall der Profitrate die Revolte der lebendigen Arbeit gegen die Macht des Profits verrät". Negri weiß sehr wohl, dass Marx im dritten Band des Kapital diese Tendenz zur Folge der Konkurrenz bei der Akkumulation von Kapital erklärt, die die Kapitalisten zwingt, wesentlich mehr in die Produktionsmittel zu investieren als in die Arbeitskraft. Da die Arbeit die Quelle des Mehrwerts ist, wird auf diesem Wege der Fall der Profitrate veranlasst. Er aber argumentiert, dass bei einer solchen Begriffsfassung "die vollständige Beziehung auf eine ökonomistische Ebene verlagert und unzulässig objektiviert wird"15.

2. Die Lohntheorie: Jede Theorie, die Krisen als direkte Konsequenz aus dem unmittelbaren Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ableitet, wird den Löhnen eine große Bedeutung zumessen. Dies traf z. B. auf die Aussagen zu den Lohnsteigerungen oder Profitminderungen in der ersten größeren Nachkriegskrise während der 70er Jahre zu. Diese wurden der Tatsache zugeschrieben, dass eine gut organisierte Arbeiterschaft die Vollbeschäftigung nutzte, um die Löhne zu erhöhen und damit die Profitrate zu mindern. Diese Erklärung impliziert, dass die Löhne als autonomer Faktor begriffen werden. Negri stimmt dem zu und sagt, dass, wenn "der Lohn konkret im ersten Band des Kapital auftaucht und eine Anzahl von Thesen, die in den Grundrissen explizit eingeführt wurden, übernimmt, erscheint er als .unabhängige Variable‘. Seine Gesetze verwandeln sich aus dem Kondensat in ein Subjekt der Revolte gegen die Arbeit, die in der kapitalistischen Entwicklung enthalten ist."16

Das ist eine erstaunliche Passage. Was Marx im ersten Band des Kapital sagt, ist das genaue Gegenteil: "Um mathematischen Ausdruck anzuwenden: die Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt."17 Löhne sind die abhängige Variable im Verhältnis zur Akkumulation des Kapitals, weil die Kapitalisten durch ihre Kontrolle der Investitionsrate auch die Rate der Arbeitslosigkeit bestimmen. Wenn sie mit militanten Arbeitern konfrontiert werden, können sie das Kräfteverhältnis der Klassen dadurch zu ihren Gunsten beeinflussen, dass sie einen Investitionsstreik durchführen und somit die Arbeitslosigkeit verschärfen. Die Arbeiter, die damit konfrontiert werden, geraten unter den Druck, niedrigere Löhne und einen Anstieg der Ausbeutungsrate zu akzeptieren. Dies ist genau das, was seit der Mitte der 70er Jahre in Italien (und ebenfalls in Großbritannien, dem anderen schwachen Teil des europäischen Kapitalismus) geschehen ist.

3. Die Arbeit als absolutes Subjekt: Negris eklatante Fehlverständnis der Marx’schen Lohntheorie ist symptomatisch für eine tiefergehende Konzeptionsverschiebung. Obwohl er den Kapitalismus definiert als antagonistisches Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital, gibt er innerhalb dieses Verhältnisses "der Arbeit als Subjektivität, als Quelle, als Potenzial alles Reichtums" den Vorrang.18 Abermals wird Marx direkt widersprochen, vor allem dessen in der Kritik des Gothaer Programms vorgenommenen Angriff auf die Idee, Arbeit sei die alleinige Quelle alles Reichtums: "Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Naturist ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft."l9

Negris Transformation der Arbeit in eine Art absoluten Subjekts wird in seiner Krisentheorie reflektiert. Er behauptet, dass "das Gesetz vom Fall der Profitrate daher rührte, dass die notwendige Arbeit eine feste Quantität darstellt". Das heißt, wenn die Kapitalisten versuchen, den Anteil der für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Arbeit zu reduzieren und dafür die Ausbeutungsrate erhöhen, treffen sie "auf eine Macht, die immer weniger bereit ist, sich zu unterwerfen oder zur Auspressung zur Verfügung zu stehen". Dieser hartnäckige Widerstand zeige "die Autonomie der Arbeiterklasse gegenüber der Entwicklung des Kapitals"20.

Sicherlich ist Marx kein Gott. Seine Theorien haben nichts Heiliges und daher ist es kein Vergehen, sie zu verändern. Die interessanten Fragen betreffen jedoch die Richtung der Negri‘-schen Änderungen, die Frage, ob diese es erlauben, uns in der heutigen Welt effektiver zu orientieren. Negri versucht, den Marxismus in eine Theorie der Macht zu transformieren. So argumentiert er, dass "kapitalistische Verhältnisse unmittelbar Machtverhältnisse sind". Er misst der Tatsache besondere Bedeutung zu, dass die Grundrisse mit einer längeren Erörterung des Geldes beginnen. Hier gehe Marx über "von der Kritik des Geldes zur Kritik der Macht"21.

Besser könnte man davon sprechen, dass Marx durch die Konzentration auf das Geld sich direkt mit dem Kapital als einer Form der Macht beschäftigt. Die Entwicklung des Geldes im Kapitalismus, die ihren Höhepunkt im Kreditsystem (heutzutage Finanzmärkte genannt) erreicht, repräsentiert in einer stark verzerrten und antagonistischen Form die Sozialisierung der Produktion. Indem er in den Grundrissen mit dem Geld beginnt, arbeitet Marx "tendenziell mit einem Entwurf des sozialen Kapitals". So kann er die weitere Entwicklung des Kapitalismus antizipieren als "eine Form der Produktion, die ständig sozialer wird, innerhalb derer die moderne Funktion des Wertes überführt wird in eine Funktion der Verwaltung und Kontrolle, der Einwirkung auf die sozialen Antipoden von notwendiger Arbeit und Akkumulation". Der Staat ist hier die "Synthese der zivilen Gesellschaft"22

Nach Negris Auffassung antizipiert Marx in den Grundrissen das Auftauchen des Keynesianischen Wohlfahrtstaats: "Marx bemerkt besonders in den Grundrissen, häufig an, dass Staat nur ein anderes Wort für Kapital sei. Die Entwicklung der Produktionsweise führt uns dazu anzuerkennen, dass Staat der einzige Weg ist, Kapital zu sagen; ein sozialisiertes Kapital, ein Kapital, dessen Akkumulation sich nach den Vorgaben der Macht vollzieht, eine Transformation der Theorie der Herrschaft; das In-Gang-Setzen und Entwickeln des Staates vieler Nationalitäten."23

Hier schließt sich Negri wieder der klassischen Beschäftigung des Operaismo mit den Strategien des "kollektiven Kapitalisten" an, die zunehmend vom Staat durchgeführt werden, um den "Industriearbeiter" der fordistischen Fließbandproduktion in Schach zu halten und zu beherrschen. Aber Negri gibt dieser Analyse eine radikal neue Wendung, indem er den "Industriearbeiter" durch den "gesellschaftlichen Arbeiter" ersetzt: "Die kapitalistische Ersetzung der Wertform – die Marx den Prozess der realen Subsumtion nennt – verlagert die Produktionsbeziehungen im ganzen. Sie transformiert die Ausbeutung in ein globales gesellschaftliches Verhältnis. Das Gefängnis gleicht der Fabrik. In der Realität schafft der Vorgang der realen Subsumtion nicht

den (Klassen-)Antagonismus ab, sondern verlagert ihn nur auf die gesellschaftliche Ebene. Der Klassenkampf verschwindet nicht. Er wird eher in alle Aspekte des Alltagslebens transformiert. Das tägliche Leben des Proletariers wird im ganzen der Herrschaft des Kapitals gegenübergestellt."

Demzufolge ist der Klassenkampf überall und ebenso das Proletariat.
Jeder der in seinen Lebensbedingungen die Herrschaft des Kapitals erfährt, ist Teil der
Arbeiterklasse. Die Logik des Klassenkampfs innerhalb des Produktionsprozesses impliziert
die "Arbeitsverweigerung" – die Rebellion der Arbeiter gegen die Lohnarbeit.
Dies sei implizit kommunistisch, weil der Kommunismus nichts anderes als die
"Abschaffung der Arbeit" bedeute. Indem sie sich in den produktiven Abläufen
durchsetzen, erobern sie einen Raum in eigener Regie. Sie "werten sich selbst
auf
", wie Negri das nennt, und zertrennen den Zusammenhang zwischen Lohnarbeit
und Bedürfnisbefriedigung. Die Konfrontation zwischen dieser Arbeitsverweigerung
und "gesellschaftlichem Kapital" wird zunehmend auf eine Beziehung der Gewalt
reduziert: "Zu dem Zeitpunkt, an dem das Kapital und die globale Arbeitskraft
vollständig zu gesellschaftlichen Klassen geworden sind – jede unabhängig und
fähig zur selbstaufwertenden Aktivität -, kann das Wertgesetz nur das Potenzial
und die Gewalt dieses Verhältnisses repräsentieren. Es ist die Synthese dieser
Kräfteverhältnisse.
"24

Diese wachsende gewalttätige Konfrontation rindet überall
statt: "Der Kampf gegen die kapitalistische Organisation der Produktion, des Arbeitsmarkts,
des Arbeitstags, der Neustruktu-rierung der Energie, des Familienlebens etc. erfasst die
Menschen, die Gemeinschaft, die Wahl des Lebensstils. Heute bedeutet Kommunist zu sein, als
Kommunist zu leben.
"25 Paradoxerweise transformiert sich der auf den Produktionskampf fixierte
Marxismus in sein Gegenteil und steht einer postmarxistischen Fixierung auf die Pluralität von
Machtbeziehungen und sozialen Bewegungen näher.

In der Tat verbindet Negri seine Version des Marxismus mit dem
Poststrukturalismus: "Die Mehrwerttheorie zerbricht den (Klassen-)Antagonismus in eine
Mikrophysik der Macht.
"26 Michel Foucault entwickelte in den 70er Jahren in einer Reihe
von Schlüsseltexten eine Kritik des Marasmus, die auf der Vorstellung basierte, dass Herrschaft
aus einer Pluralität von Machtbeziehungen bestehe, die nicht durch eine umfassende soziale
Transformation ersetzt werden könne. Dies würde, wie im stalinistischen Russland, nur einen
neuen Machtapparat installieren. Man könne stattdessen nur auf dezentraler und lokaler Basis
widerstehen.27 Negri übernimmt hier die Foucault’sche Auflösung sozialer Totalität in eine
Multiplizität von Mikropraktiken und behauptet, dass dies der Marx’schen Praxis, zumindest
in den Grundrissen entspreche.

Der Bezug auf Foucault macht das Ausmaß deutlich, in dem Negri den historischen
Materialismus in eine Theorie der Macht und Subjektivität transformiert. Sie macht es ihm möglich,
den zunehmend verhängnisvollen Verlauf des Klassenkampfs, den er in jenen späten 70er Jahren in
Italien nimmt, mit gelassener Indifferenz zu beobachten. So schrieb er 1977: "Das Kräfteverhältnis
hat sich umgekehrt… die Arbeiterklasse, ihre Sabotageaktionen, ist die stärkere Macht – vor allem
ist sie die einzige Quelle von Rationalität und Wert. Von jetzt an wird es unmöglich sein, auch in
der Theorie, dieses in den Kämpfen entstandene Paradoxon zu vergessen: Je mehr die Herrschaftsform
sich perfektioniert, desto leerer wird sie werden; je mehr die Arbeiterklasse widersteht, desto mehr
wird sie an Rationalität und Wert zunehmen… Wir sind da, wir sind unzerstörbar und wir sind die
Mehrheit.
"28

Wenn man mag, kann man etwas Bewundernswertes an diesem herausfordernden Optimismus
finden. Aber wenn die marxistische Theorie zur politischen Orientierung und verantwortungsvollen Führung
dienen soll, dann muss sie danach streben, die Schwankungen des Klassenkampfs zu erfassen. Die Weigerung
Negris, den Fakten ins Auge zu sehen, wurde auch in Italien, selbst von Seiten der autonomen Bewegung,
scharf attackiert, bspw. von Sergio Bologna.

Diese Fehler sind Symptome eines tieferen theoretischen Mangels. Negri ist ein
Bewunderer des großen modernen Philosophen der Neuzeit, Spinoza. Er schrieb ein wichtiges Buch über ihn,
The Savage Anomaly, als er zum ersten Mal Ende der 70er Jahre im Gefängnis saß. Spinoza war
ausgesprochen
kritisch gegenüber Behauptungen, die Ereignisse als Resultate einer Willenserklärung ansahen,
egal ob es sich um einen göttlichen oder menschlichen Willen handelt. Spinoza sagte, diese Sichtweise
liefe darauf hinaus, "zur Bequemlichkeit der Unwissenheit Zuflucht zu nehmen"29.
Aber genau diese Kritik kann auf Negris Neufassung von Marx angewandt werden. Die Reduzierung der
Geschichte auf den Zusammenstoß von Willenserklärungen rivalisierender Klassen- des "kollektiven
Kapitalisten
" gegenüber dem "gesellschaftlichen Arbeiter" – erklärt nichts. Das
Wesen und die Entwicklung
der Kämpfe kann nur vollständig begriffen werden, wenn ihr objektiver Kontext rekonstruiert wird.

So nimmt Marx seine Bewertung des Klassenkampfs – sowohl innerhalb des
unmittelbaren Produktionsprozesses als auch innerhalb der Gesellschaft – auf in die Theorie der
kapitalistischen Produktionsweise als einer Totalität. Die Zusammenstöße rivalisierender Klassen
sind nur vor dem Hintergrund übergreifender Tendenzen innerhalb der Produktionsweise zu verstehen.
Negri billigt den Kapitalisten keine andere Motivation als einen abstrakten Drang zur Herrschaft zu.
Im Kontrast dazu betrachtet Marx die Bourgeoisie als eine intern gespaltene Klasse, die in
Konkurrenzkämpfen untereinander gefangen ist. Dies ist der Zusammenhang, in dem Marx- in den Grundrissen
(Negri ignoriert diese Passagen) – von "vielen Kapitalien" spricht. Der tendenzielle Fall der Profitrate
ist kein alleiniges Produkt des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital im unmittelbaren Produktionsprozess,
sondern auch ein Produkt jenes Konkurrenzkampfs, der die Kapitalisten zwingt, in Arbeit ersetzende
Produktionsmittel zu investieren.30

Negris voluntaristische Krisentheorie war auf den ersten Blick attraktiv in den
70er Jahren, als die erste größere Nachkriegskrise sich vor dem Hintergrund wachsender Arbeiterkämpfe
entwickelte. Doch auch damals bot sie nur eine unzulängliche Erklärung der Krise; sie sprach von einem
generellen Fall der Profitrate ohne Berücksichtung des Standes der Kämpfe in den jeweiligen Staaten.
Westdeutschland und die USA waren ebenso betroffen wie Italien und Großbritannien, obwohl das Niveau
des Klassenkampfs in den ersten beiden Ländern um einiges geringer war als in den
anderen.31 Auf jeden
Fall kann Negris Theorie die aktuelle globale Rezession nicht erklären, die zu einer Zeit kommt, in der
die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse verhältnismäßig gering ist.

Mehr noch, ist es Marx bewusst, dass – solange die kapitalistischen
Produktionsverhältnisse vorherrschen – die Kapitalisten die Oberhand behalten. Wie sie es in
den späten 70er Jahren und 80er Jahren durchführten, können sie ihre Herrschaft über die
Produktionsmittel dazu nutzen, die Arbeiter durch Werkschließungen und Entlassungen zu schwächen.
Daher reicht es nicht aus, an der Produktionsstätte zu rebellieren – die Arbeiter brauchen eine
allgemeine politische Bewegung, die auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene die Macht
ergreifen und die Kapitalisten enteignen kann.

Das bedeutet nicht, sich des Vorwurfs des "Objektivismus"
schuldig zu bekennen, mit dem Negri ständig um sich wirft. Der Marxismus hält an der dialektischen
Beziehung zwischen Objektivität und Subjektivität fest, ohne die eine gegenüber der anderen Kategorie
zu reduzieren. Weder das Subjekt gegenüber dem Objekt, wie in der Anmerkung Althussers über die
Geschichte "als Prozess ohne Subjekt", noch das Objekt gegenüber

dem Subjekt, wie es Negri in seiner voluntaristischen neuen Schreibweise des Marxismus macht.
Soziale Strukturen – insbesondere die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse – setzen den
menschlichen Akteuren Grenzen dessen, was sie erreichen können, aber sie schaffen ebenfalls die
Kapazitäten, die von den Akteuren genutzt werden, wenn sie sich ihre Welt schaffen.32

Von der "konstituierenden Macht" zum Empire

Marx beyond Marx stellt eine Sackgasse im Negri’schen Denken dar,
da dieses Buch theoretisch die Leitsätze einer politischen Bewegung auszudrücken versuchte,
die Ende der 70er Jahre in einer schweren Niederlage endete. In seinen Schriften der 80er
und 90er Jahre mit Empire als Höhepunkt versuchte Negri den auch die Themen von
Marx beyond Marx neu zu verorten und zu entwickeln. Viele dieser Texte
widmen sich der Geschichte des modernen politischen Denkens und haben an sich
damit schon einen eigenen Wert. Sie dienen aber auch dazu, Negris System neu
aufzubauen. Dieser kurze Überblick kann hier nur einige der wichtigsten Punkte herausgreifen.

Schon in Marx beyond Marx legt Negri großen Wert auf das von ihm
so genannte "Konstitutionsprinzip", womit er die Fähigkeit meint,
durch Kämpfe schöpferisch eine qualitativ neue Struktur zu erzeugen, die ihrerseits zum
Gegenstand neuer Kämpfe wird, was wiederum zu neuer Wandlung führt.33 In seinen späteren
Schriften entwickelt Negri diesen Gedanken ausführlich weiter. Er verfolgt die Entwicklung
der Idee der "konstituierenden Macht" – die bestimmten konstituierten Formen zugrunde liegende
kollektive Fähigkeit, soziale und politische Strukturen zu schaffen und umzubilden – von ihren
Ursprüngen im Renaissancehumanismus über das frühe moderne politische Denken (im Wesentlichen
Machiavelli und Spinoza) bis zum Zeitalter der Revolutionen, in dem diese Idee zunehmend klareren
Ausdruck gewinnt, mit dem Höhepunkt Marx. Dabei ist ein Konflikt zwischen zwei Arten von Macht im
Spiel – italienisch: potenzaund potere, französisch: puissance und pouvoir-, das heißt die
schöpferische Macht der Massen einerseits (was Negri zunehmend als "Multitudo" bezeichnet)
und die Kapitalherrschaft andererseits.34

Der von Negri vorgelegte Begriff der konstituierenden Macht ist
ausgesprochen abstrakt. Sie sei "eine schöpferische Macht [puissance] des Seins, in anderen Worten von
konkreten Personen, von Werten, von Institutionen und Ordnungen des Wirklichen. Konstituierende Macht
[pouvoir] konstituiert Gesellschaft, indem sie das Soziale und Politische ausfindig macht, indem sie
beides zu einer ontologischen Verbindung vereint.
" Laut Negri sah Marx beim Kapital konstituierende
Macht am Werke in der Art und Weise, wie dieses im Zeitalter der ursprünglichen Akkumulation gewaltsam
eine neue Form der Gesellschaft schuf, aber gleichzeitig auch die schöpferischen Fähigkeiten der
Kooperation anzapfte, die der Multitudo innewohnen. Negri schreibt:

"Kooperation ist tatsächlich das lebendige und produktive
Pulsieren der ‚Multitudo’… Kooperation ist Innovation und Reichtum, sie ist so die Grundlage für
den schöpferischen Überschuss, der bestimmt, wie sich die ‚Multitudo‘ zum Ausdruck bringt.
Die Multitudo wird der Abstraktion unterworfen, entfremdet und in der Produktion enteignet –
dies ist der Grundstein, auf dem das Gebäude von Befehl und Gehorsam errichtet wird."35

Bei Marx ist die kooperative Arbeit, die vom Kapital angeeignet und ausgebeutet
wird, natürlich die der Arbeiterklasse. Indem Negri marxistische Themen mit Hilfe eines ziemlich abstrakten
philosophischen Wortschatzes neu entwickelt, kann er deren Resonanzen ausnutzen (etwa den Gedanken, dass
das Kapital ein Schmarotzer der schöpferischen Macht anderer ist) und gleichzeitig jede geradlinige
Klassenanalyse beiseite lassen. Doch hier findet sich die gleiche Neigung, die Subjektivität der
Massen zu verabsolutieren, die wir bereits in Negris Schriften der 70er Jahre gesehen haben:

"Was immer die konstituierende Macht in ihrer Praxis tut, von Anfang bis Ende, an ihrem Ursprung wie
in ihrer Krise, offenbart den Druck der Multitudo, die danach strebt, sich zum absoluten Subjekt der
Prozesse ihrer Macht zu machen [puissance].
"36

Negri geht jedoch über den Subjektivismus seiner früheren Schriften hinaus, wenn
er die Frage stellt, wie ein Subjekt, das dem "absoluten Vorgehen" der konstituierenden Macht "adäquat"
ist, ermittelt werden kann. Er glaubt, dass die Antwort in den Schriften des "zweiten Foucault" zu finden
ist, insbesondere in seinem Buch Sexualität und Wahrheit. "Der Mensch, so wie ihn Foucault beschreibt,
erscheint als eine Totalität von Widerständen, die zu absoluter Befreiung befähigen, jenseits jeglichen
Finalismus, der nicht Ausdruck des Lebens selbst und seiner Reproduktion ist. Es ist das Leben, das sich
selbst im Menschen befreit, das sich allem Eingrenzenden und Einsperrenden entgegenstellt.
"37

In der Multitudo, wenn sie danach strebt, das absolute Subjekt der Geschichte zu werden,
drückt sich so das Leben aus. Negri versucht so, seinen Subjektivismus auf eine Form von Lebensphilosophie
zu gründen – das heißt, auf einer metaphysischen Lehre, die die physische und soziale Welt in ihrer
Gesamtheit als Ausdrucksformen einer zu Grunde liegenden Lebenskraft ansieht. Negri ist hier weniger
Foucault verpflichtet, der ausweichend, wenn nicht sogar verwirrt reagierte, wenn ihm die philosophischen
Implikationen seiner Machttheorie vorgehalten werden, als vielmehr Gilles Deleuze, einer anderen
Schlüsselfigur des französischen Poststrukturalismus.38 Insbesondere in Tausend Plateaus, dem zweiten
Band seines großen Gemeinschaftswerkes mit Felix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, fasst Deleuze
das Begehren als einen Ausdruck des Lebens, das zwar ständig innerhalb besonderer geschichtlicher
Machtkonstellationen eingegrenzt und hierarchisch strukturiert ist, ebenso ständig diese aber untergräbt
und umgeht.

Deleuze gibt offen zu, dass er Henri Bergson, dem französischen Lebensphilosophen des frühen 20. Jahrhunderts, verpflichtet ist. Er ist jedoch ein "materialistischer Vitalist", denn es gibt ein "der Materie eigenes Leben", in dem Materie sich verflüssigt und fließt. Die Materie hat in der Tat die gleiche Struktur wie das Begehren, das ständig über die Grenzen der pyramidalen Machthierarchien hinaus fließt. Daher sieht Deleuze den Nomaden als das Musterbeispiel jeglichen Widerstands gegen Macht. Der Trieb des Staates ist es zu "territorialisieren", das Begehren innerhalb der Konstellationen der Macht einzuschließen, es innerhalb eines bestimmten Territoriums niederzuhalten. Der Trieb des Nomaden dagegen ist es zu "deterritorialisieren", Grenzen zu überschreiten, und den Hierarchien zu entwischen."In erster Linie ist es in der Tat die Bestimmung des Nomaden, einen glatten Raum [espace lisse] zu besetzen und zu halten." Die moderne kapitalistische Welt jedoch ist ebenfalls durch die gleiche Tendenz zur Deterritorialisierung gekennzeichnet: "Die Welt wird wieder zu einem glatten Raum (Meer, Luft, Atmosphäre)."39

Dieser glatte Raum ist der Raum des Empire. Hardt und Negri sagen ausdrücklich, dass sie Tausend Plateaus verpflichtet sind. Allgemeiner gesprochen stützt sich Negri auf Deleuzes Vitalismus, um seiner Version des Marxismus die fehlende philosophische Grundlage zu verschaffen. Dafür muss er jedoch einen hohen Preis bezahlen, denn was Deleuze zu bieten hat, ist eine hochspekulative Form von Metaphysik. Negris spätere Schriften offenbaren daher einen "seltsamen Mystizismus ohne Transzendenz", wie es Daniel Bensaid nannte.40 Für keines der jüngeren Werke Negris gilt dies so sehr wie für Empire. Auf seine Art ist
es ein feines Buch – wunderschön geschrieben, voller lyrischer Passagen und interessanter Einsichten. Aber Empire ist nichtsdestoweniger zutiefst fehlerhaft.

Umfang und Komplexität von Empire bringen es mit sich, dass ich mich hier nur
auf die Hauptthemen konzentrieren kann. Insbesondere drei ragen heraus. Zum ersten folgen Hardt und
Negri der manchmal so genannten Hyperglobalisie-rungsthese: die wirtschaftliche Globalisierung habe
den Nationalstaat zu einem bloßen Werkzeug des globalen Kapitals gemacht. So schreiben sie über die
multinationalen Konzerne, "sie strukturieren und verbinden die Territorien und die Bevölkerungen
unmittelbar. Sie streben danach, aus Nationalstaaten bloße Werkzeuge zur statistischen Erfassung
der von ihnen in Gang gesetzten Waren-, Geld- und Menschenströme zu machen. Die transnationalen
Konzerne verteilen unmittelbar Arbeitskraft auf die verschiedenen Märkte, weisen funktionsgerecht
Ressourcen zu und organisieren hierarchisch die verschiedenen Produktionsbereiche der Welt. Dieser
komplexe Apparat, der die Investitionsprojekte auswählt und die Finanz- und Geldgeschäfte leitet,
bestimmt die neue Geografie des Weltmarkts oder in der Tat das neue biopolitische Weltgefüge.
"41

Der Niedergang des Nationalstaats bedeutet jedoch nicht das Verschwinden politischer Macht. Vielmehr
entsteht eine neue politische Souveränität, die Hardt und Negri Empire nennen: "Im Gegensatz zum
Imperialismus schafft das Empire kein örtliches Machtzentrum und stützt sich nicht auf feste Grenzen
oder Schranken. Es ist ein dezentrierter und deterritorialisierter Regelungsapparat, der fortschreitend
die ganze Welt seinen offenen, sich ausdehnenden Machtbereichen einverleibt. Durch die Steuerung mit
Hilfe vernetzter Befehlsstrukturen dirigiert das Empire hybride Identitäten, flexible Hierarchien und
plurale Austauschprozesse. Die unterschiedlichen nationalen Farben der imperialistischen Weltkarte
sind ineinander geflossen und haben sich zum imperialen Weltregenbogen vermischt.
"42

Die hier von Hardt und Negri verwendete Sprache – "Hybridität", "Pluralität", "Flexibilität" usw. – ist zum großen
Teil die von Postmodernisten, für die diese Begriffe die Idee ausdrücken sollen, dass wir
inzwischen über den Kapitalismus mit seiner starken Polarisierung in Ausbeuter und
Ausgebeutete hinaus sind. Das Bild vom Netzwerk ist in mehr oder weniger apologetischen
Darstellungen des heutigen Kapitalismus weitverbreitet und dient dort dazu, das Verschwinden von
Hierarchie und Machtkonzentration herbei zu beschwören. Hardt und Negri geben dem allerdings eine
andere Wendung, indem sie diese Sprache kritisch verwenden und die These aufstellen, dieser Zustand
stelle eine neue Phase kapitalistischer Herrschaft dar, die nicht so sehr trotz, als vielmehr mittels
Hybridität und Multikultur funktioniere, also mittels Phänomenen, die oft als typische Merkmale
heutiger liberaler Gesellschaften gefeiert werden: "Das Ende der Dialektik der Moderne führte nicht
zum Ende der Dialektik der Ausbeutung. Heutzutage ist fast die ganze Menschheit bis zu einem gewissen
Grad den Netzwerken kapitalistischer Ausbeutung einverleibt oder untergeordnet.
"43

Hardt und Negri entlehnen von Foucault den Begriff "Biopolitik",
um Herrschaftsformen zu bezeichnen, die von innen heraus arbeiten, indem sie Individuen zu Untertanen
formen und sie mit den geeigneten Beweggründen ausstatten: "Macht wird nun durch Maschinen ausgeübt,
die unmittelbar die Gehirne (in Kommunikationssystemen, Informationsnetzwerken usw.) und die Körper
(in Wohlfahrtssystemen, kameraüberwachten Tätigkeiten usw.) auf einen Zustand autonomer Entfremdung vom
Sinn des Lebens und vom Wunsch nach Kreativität hin organisieren.
"44 Aus dieser
Sicht ist der Big Brother
von RTL gefährlicher als der von George Orwell, weil ersterer uns glauben lässt, es handle sich bei extrem
standardisierten und manipulierten Verhaltensformen um echt angenehme, freiwillig ausgeführte Tätigkeiten.

Doch ältere Begriffe und Modelle sind nötig, um das Wesen des heutigen Kapitalismus
zu begreifen. Der zunehmende Gewalteinsatz, um nationalstaatliche Souveränität im Namen universaler Werte
wie z. B. Menschenrechte zu brechen, zeigt das Entstehen einer imperialen Souveränität oder besser ihr
Wiedererstehen. Schon die alten Griechen und Römer wussten, dass das Imperium keine Grenzen kennt. Es
ist das Eigentum keines einzigen Einzelstaats, nicht einmal der USA. Im Golfkrieg griffen die USA
"nicht infolge nationaler Beweggründe ein, sondern im Namen universalen Rechts". Die dreigliedrige
transnationale Machtstruktur entspricht dem von dem griechischen Historiker Polybius gezeichneten
Bild vom Römischen Reich als einer Verbindung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Oben sind
die "monarchischen" Körperschaften – die USA, die G7 und andere internationale Einrichtungen wie
NATO, IWF und Weltbank; dann kommt eine Oberschicht von "aristokratischen" Akteuren – transnationale
Konzerne und Nationalstaaten; schließlich gibt es die "demokratischen" Organe, die das Volk zu
vertreten vorgeben – die UNO, die NGOs usw.

Zweitens: Wie ordnen Hardt und Negri diese karikaturhafte Struktur historisch ein?
Sie "legen Wert auf die Feststellung, dass das Empire einen Schritt nach vorn darstellt, um mit jeglicher
Sehnsucht nach früheren Machtstrukturen aufzuräumen, und lehnen jede politische Strategie ab, die eine
Rückkehr zum alten Arrangement beinhaltet, etwa zum Versuch, den Nationalstaat als Schutz gegen das globale
Kapital wieder zu errichten
". Zwar ziehen sie den Vergleich zu Marx‘ Betonung der
geschichtlich progressiven Rolle des Kapitalismus, aber es geht hier um mehr:
"Die Multitudo rief das Empire ins Leben." Was Hardt und Negri "die Disziplinargesellschaft"
nennen (wieder Foucault folgend), geschaffen vom New Deal, in der Kapital und Staat die
Gesellschaft als ganzes reguliert haben, geriet in den späten 60er Jahren "als Ergebnis des
Zusammenspiels und der Zusammenballung proletarischer und antikapitalistischer Angriffe gegen
das internationale kapitalistische System
" in die Krise.45

Diese Behauptung über die Ursprünge des Empires enthält einen noch stärkeren
Voluntarismus als er bereits jener Krisentheorie zu eigen war, die, wie wir gesehen haben, Negri in
den 70er Jahren vertreten hat.
"Die Macht des Proletariats legt dem Kapital Schranken auf, diktiert aber auch die Bedingungen und die Art und Weise der Veränderung. Tatsächlich erfindet das Proletariat die gesellschaftlichen und produktiven Formen, die das Kapital in Zukunft anzunehmen gezwungen ist."
Im Falle des Empires spielte die US-Arbeiterklasse die Rolle der Avantgarde: "Jetzt, was den Paradigmenwechsel der internationalen kapitalistischen Befehlsgewalt betrifft, erscheint das US-Proletariat als das Subjekt, das am vollkommensten die Wünsche und Bedürfnisse der internationalen oder multinationalen Arbeiter zum Ausdruck brachte."46

Diese allgemeine These spiegelt alte Schwerpunkte des Operaismus wider. Dreißig Jahre
vor dem Erscheinen von Empire hat schon Tronti die These vertreten, dass das
Kapital dank der von der Arbeiterseite herrührenden Initiativen ein Verständnis
für seine Probleme entwickelt, und dass "die europäischen Arbeiter für ihre derzeitigen
Bedürfnisse einfach das Verhalten der amerikanischen Arbeiter zum Vorbild nehmen können,
die in den 30er Jahren vorgemacht haben, wie man gewinnt oder den Gegner besiegt
"47.
Aber der keynesianische Wohlfahrtskapitalismus, den Tronti als Produkt proletarischer Macht
während des New Deal ansieht, ist laut Hardt und Negri das, was die Gegenwehr der Arbeiterklasse
in den 60er und 70er Jahren zerstört hat, so dass der Weg für das Empire frei wurde.

Wie ist schließlich, drittens, die Lage der arbeitenden Klasse
in dieser neuen Phase der kapitalistischen Entwicklung? Hardt und Negri weisen den Gedanken von
sich, Ausbeutung und Unterdrückung hätten heute ein Ende gefunden. Die Disziplinargesellschaft
sei jetzt von der "Kontrollgesellschaft" ersetzt worden. Individuen werden nicht
mehr von bestimmten Institutionen wie Schule oder Fabrik geformt, sondern sehen sich einem die ganze
Gesellschaft umfassenden Druck zur Selbstdisziplin ausgesetzt. Gleichzeitig haben die neuen
Informationstechniken die Arbeit "immateriell" gemacht. Die Arbeiterklasse
müsse deshalb anhand jener sehr vagen Begriffe theoretisch erschlossen werden, die Negri
schon in den 70er Jahren entwickelt hat: "Unter Proletariat verstehen wir eine weit gefasste
Kategorie, die all die umfasst, deren Arbeit mittelbar und unmittelbar in kapitalistischen
Produktions- und Reproduktionsweisen ausgebeutet und diesen unterworfen wird.
"48

Empire behält so die theoretischen Kategorien der Negri‘-schen Version des
Marxismus bei, auch wenn ihr Inhalt inzwischen ein anderer ist. Aus dem gesellschaftlichen Arbeiter
bspw, den Negri noch in den 70er Jahren als das Ergebnis der für den keynesianischen
Wohlfahrtskapitalismus charakteristischen staatlichen Regulierung begriff – er würde dies
jetzt "Disziplinargesellschaft" nennen -, ist inzwischen ein Erzeugnis des neuen
"Informationskapitalismus" geworden. "Heute, in der zu den postfordistischen,
informationalen Produktionsregimen passenden Phase der Arbeitermilitanz erscheint
der Typ des gesellschaftlichen Arbeiters.
"49 Alles in allem bedienen sich Hardt und Negri jedoch
lieber des Spinoza’schen Begriffs der Multitudo, wenn sie die Widersprüche des Empire zu
analysieren versuchen.

Hier, wo Kapital echt global ist, stößt es
(wie Rosa Luxemburg voraussah) auf seine Grenze. Unter dem Empire

"werden die Mächte der Arbeit von den Mächten von Wissenschaft,
Kommunikation und Sprache durchdrungen
", und "es ist das Leben,
das alle Produktion durchdringt und beherrscht
". Gesellschaftliche
Tätigkeit ist jetzt die Quelle des ökonomischen Überschusses: "Ausbeutung ist die Enteignung der
Kooperation und die Auslöschung von Bedeutungen linguistischer Produktion.
" Das Empire ist eine
schmarotzende Gesellschaftsformation, eine Korruptionsform ohne jede positive Realität verglichen
mit der "fundamentalen Produktivität des Seins", die in der Multitudo zum Ausdruck gebracht wird.50

Einmal mehr sehen wir, wie Negri marxistische Begriffe anhand recht lockerer,
bildhafter Ausdrücke neu interpretiert, so dass ihnen Deleuze’sche Metaphysik eingeflößt werden kann. So versuchen Hardt und Negri den negativen und parasitären Charakter des Empire folgendermaßen deutlich zu machen:
"Die Wirksamkeit der Tätigkeit des Empire beruht nicht auf eigener Kraft, sondern auf der Tatsache, dass der Widerstand der Multitudo gegen die imperiale Macht das Empire zurückprallen lässt und es so antreibt. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Widerstand tatsächlich vor Macht kommt." Wie die beiden einräumen, ist diese These von der "Priorität des Widerstands gegenüber der Macht" unmittelbar von Deleuze hergeleitet, für den sie aus der "fundamentalen Produktivität" des Lebens folgt.51 Empire ist also ebenso sehr ein Werk angewandter poststrukturalistischer Philosophie wie ein Stück konkreter historischer Analyse.

Die Grenzen von Empire

Natürlich kann viel über ein so vielfältiges und anregendes Buch wie Empire gesagt werden. Ich konzentriere mich hier auf drei meiner Meinung nach zentrale Schwächen.

Die von dem Buch vorgelegte Untersuchung des heutigen Kapitalismus ist sowohl allgemein vage gehalten als auch in gewisser, besonderer Hinsicht sehr irreführend. Hardt und Negri sehen sich selbst in der Tradition der marxistischen Werke zum Imperialismus und stützen sich auf Luxemburgs These, dass der Kapitalismus ein nichtkapitalistisches "Außen" für den Absatz der Waren braucht, die die Arbeiter nicht konsumieren können. Aber außer, dass sie feststellen, dass das Empire dieses Außen
abschafft und die ganze Welt der Kapitalherrschaft einverleibt, sagen sie wenig über die für diese
Phase der kapitalistischen Entwicklung besonderen Krisentendenzen, es sei denn die oben zitierten
philosophischen Allgemeinplätze sollen eine solche Darstellung dieser Tendenzen sein. Negri würde
zweifellos die gewaltige Debatte, die unter marxistischen Ökonomen Robert Brenners Theorie des
Nachkriegskapitalismus ausgelöst hat, als "Objektivismus" zurückweisen. Empire

jedoch bietet selbst sehr wenig Anleitung für jene, die wissen wollen, in welchem Ausmaß die kapitalistischen Krisenmechanismen heute noch wirken.52

Darüber hinaus führt das Buch in einer Hinsicht wirklich in die Irre.
Hardt und Negri streiten ab, dass Konflikte zwischen den Imperialisten noch für den heutigen
Kapitalismus typisch sind. "Was Konflikt oder Konkurrenz zwischen verschiedenen imperialistischen
Mächten zu sein pflegte, ist in wichtigen Aspekten durch die Idee einer Einzelmacht ersetzt worden,
die alle anderen überdeterminiert, sie einheitlich strukturiert und sie alle unter derselben –
entschieden postkolonialen und postimperialistischen – Rechtsvorstellung abhandelt.
" Anstelle von
Imperialismus, mit seinen rivalisierenden Machtzentren, haben wir ein unpersönliches, dezentriertes
Machtnetzwerk, Deleuzes espace lisse: "In diesem glatten Raum des Empire gibt es keinen Ort der Macht –
Macht ist überall und nirgends.
"53

In dieser metaphysischen Wolke, wie es wohl Ludwig Wittgenstein nennen würde,
steckt ein kleines Körnchen Wahrheit. Hardt und Negri neigen dazu, das Empire als eine Souveränitätsform
zu definieren. Das Problem von Souveränität ist die Frage, wie Machtausübung in Form von Recht und Moral
zu legitimieren ist. Damit ist Souveränität eine ideologische Erscheinung, auch wenn sie natürlich wie
alle ideologischen Instanzen praktische Folgen hat. Es hat zweifellos eine ideologische Verschiebung
gegeben – so wird neuerdings mit der Idee eines humanitären Interventionismus darauf bestanden, dass
die Rechte anderer Staaten verletzt werden dürfen, nicht aus nationalem Interesse heraus, sondern zur
Verteidigung der Menschenrechte und der humanitären Bedürfnisse der dortigen Staatsbürger. Breiter
betrachtet deutet die Entwicklung der sog. "Institutionen der Global Governance" wie G7, NATO, EU
und WTO darauf hin, dass Souveränität Mischformen annimmt, und staatliche Handlungen oft nicht
mehr (allein) im Wege der jeweiligen nationalen Verfassungen legitimiert werden, sondern durch die
Autorität einer internationalen Einrichtung.

Diese ideologische Verschiebung bestimmt jedoch nicht, wie sich Macht
geopolitisch tatsächlich verteilt. So spiegeln die vorhandenen internationalen Einrichtungen nicht
nur den hierarchischen Aufbau globaler Macht wider, insoweit sie von den führenden westlichen
kapitalistischen Mächten beherrscht werden. Sie werden auch durch die Konflikte zwischen diesen
Mächten geformt. Insbesondere stehen dabei die USA, Japan und der EU gegenüber (letztere ist
selbst alles andere als homogen). Diesen primären ökonomischen und politischen Konflikten
überlagert sich ein geopolitischer Konflikt, der die USA gegen China als auch Russland stellt.
Diese tiefen Gegensätze zwischen rivalisierenden kapitalistischen Machtzentren nicht zu erkennen,
heißt die heutige Welt böse misszuverstehen.54

Es kommt auch einer apologetischen Sicht dieser Welt gefährlich nahe. Diese Neigung
ist in der Tat die zweite große Schwäche von Empire. Das Empire zu begreifen als einen "glatten Raum",
ein dezentriertes Netzwerk, in dem Macht "überall und nirgends" ist, ist gar nicht so
weit von der Lieblingsidee einiger Theoretiker des Dritten Weges, wie zum Beispiel Anthony Giddens,
entfernt, wonach "politische Globalisierung" mit wirtschaftlicher Globalisierung einhergeht und den
Weltmarkt demokratischen Formen der Global Governance unterordnet. Hardt und Negri kritisieren diesen
Gedanken, doch einige ihrer Formulierungen laden dazu ein, für ganz andere politische Zwecke vereinnahmt
zu werden. So veröffentlichte Mark Leonard, ein besonders krasser Fall blairscher Weltanschauung,
begeistert ein Interview mit Negri (New Statesman, 28.5.2001), worin er diesen für die These pries,
Globalisierung wäre eine Chance für "eine linke Politik, die sich um Freiheit und Lebensqualität
kümmert, aber keine Chance für eine engstirnige Suche nach Gleichheit zwischen Gruppen
" – das
klingt mehr nach Tony Blair als nach Toni Negri.

Negri kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wie andere seine Worte
verdrehen. Aber er kann dafür kritisiert werden, was er selbst zu Leonard sagte: "Was sich deutlich
verschoben hat, ist, dass Krieg zwischen zivilisierten Staaten nicht mehr möglich ist. Aber das haben
nicht die Industriellen hervorgebracht. Das kommt von der Emanzipation von Arbeiterklassen, die nicht
länger in den Krieg ziehen wollten.
" Ein Krieg ist sicherlich innerhalb des westlichen kapitalistischen
Blocks sehr unwahrscheinlich, die komplizierten Gründe dafür können hier nicht erforscht werden. Aber
die Krise um das Spionageflugzeug, die im April 2001 China und die USA im südchinesischen Meer
zusammenstoßen ließ, deutet auf ein militärisches Hochrüsten und auf sich entwickelnde geopolitische
Spannungen in Ostasien, die sich sehr wohl zu einer bewaffneten Auseinandersetzung entwickeln könnten.
Zwei amerikanische Sicherheitsfachleute schrieben kürzlich (Foreign Affairs, Juli/August 2001) über die
Spannungen zwischen USA und China wegen Taiwan: "Vielleicht nirgendwo sonst auf dem Erdball ist die
Lage scheinbar so wenig gestaltbar und die Aussicht auf einen großen Krieg mit Einbeziehung der USA so
real.
" Das wäre dann wohl auch nach Meinung Negris ein Krieg zwischen zwei "zivilisierten Staaten"

(man darf sich wohl darauf verlassen, dass diese Bezeichnung ironisch gemeint ist). Außerhalb der
entwickelten kapitalistischen Welt ist kein Verschwinden von Krieg zu erkennen – so hat allein der
Krieg in der Demokratischen Republik Kongo seit 1998 schätzungsweise zweieinhalb Millionen Tote
gekostet.

Hardt und Negri wissen zweifellos um diese empörenden Leiden.
Ihr Punkt ist, dass das, was bisher an Fortschritt erreicht wurde, ein Sieg der
"Multitudo" ist. Aber sogar diese These hat einen apologetischen Beigeschmack,
der in gewisser Hinsicht für Negris eigene Geschichte von Bedeutung ist. Niemand
kann bestreiten, dass der Kapitalismus in den 70er und 80er Jahren eine große
Umstrukturierung durchgemacht hat; eine Hauptkomponente davon war die größere
globale Integration des Kapitals. Aber ist es wirklich richtig, diese Veränderungen
gewissermaßen als eine Errungenschaft der "Multitudo" anzusehen? Eine solche Sichtweise
blendet die wirklichen Niederlagen, die die Reorganisation des Kapitalismus erst möglich
gemacht haben, aus der Geschichte aus: die Katastrophe bei Fiat 1979/80, den großen
Bergarbeiterstreik in Großbritannien 1984/85 und all die anderen Kämpfe, bei denen das
Kapital es geschafft hat, bestehende Organisationsformen der Arbeiterklasse zu zerschlagen,
Aktivisten heraus zu drängen und die Herrschaft über Bereiche wiederzuerlangen, in denen es
unter Druck geraten war.

Auch wenn wir die historische Bedeutung dieser Ereignisse erkennen, können wir
trotzdem Hardt und Negri zustimmen, dass "die Globalisierung, insoweit sie eine wirkliche
Deterritorialisierung der früheren Ausbeutungs- und Kontrollstrukturen bewirkt, wirklich eine
Bedingung der Befreiung der Multitudo ist.
"55 In gewisser Hinsicht ist dies
schlichtes marxistisches
Grundwissen – der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Gestalt schafft die Rahmenbedingungen,
unter denen der Kampf der Arbeiterklasse sich entwickelt. Aber das bedeutet nicht, dass wir vergessen
müssen, dass die Prozesse, durch die der Kapitalismus sich neu gestaltete, schwere Niederlagen für
die Arbeiterklasse mit sich brachten. Die Verdrängung dieser Niederlagen aus der Geschichte mag
bequem sein, weil sie Negri erlaubt, einer Auseinandersetzung darüber auszuweichen, wie stark seine
eigene Theorie und Politik in der entscheidenden Probe der späten 70er Jahre sich als mangelhaft erwiesen
haben, aber ein wahrer Marxismus kann eine solch beschränkte Wahrnehmung nicht dulden.

Die Geschichte vergangener Kämpfe zu studieren, ist vor allem deshalb wichtig,
weil dies zur Klärung der Frage beitragen kann, welche Strategie derzeit zu verfolgen ist. Die dritte große

Schwäche von Empire ist jedoch gerade, dass der Leserschaft keine strategische Orientierung geboten wird.
Das Buch schließt mit drei Forderungen für
"ein politisches Programm für die globale Multitudo", "globales Bürgerrecht" ,"Bürgergeld und garantiertes
Einkommen für alle
" und "Recht auf Wiederaneignung".56 Man kann über den Nutzen dieser Forderungen
streiten – die erste und die dritte sind, so wie sie formuliert sind, sehr vage, während die zweite
einen Allgemeinplatz der derzeitigen linksliberalen Politik darstellt. Viel schwerwiegender ist
jedoch, dass jegliche Diskussion darüber fehlt, wie eine Bewegung, die dieses Programm umsetzen
könnte, aufgebaut werden kann.

Die blinde Fleck der Strategie in Empire ist kein Detailfehler, sondern spiegelt
einige der tiefsten Überzeugungen von Hardt und Negri wider. In einem leicht bizarren Abschnitt vertreten
sie die These, dass "die radikalsten und kraftvollsten Kämpfe der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts" –
Platz des Himmlischen Friedens, die erste Intifada, die Los-Angeles-Aufstände, Chiapas, die Streiks in
Frankreich 1995 und in Südkorea 1996/97 -sich nicht "bewusst gegen einen gemeinsamen Feind" wandten und
dass ihnen eine "gemeinsame Sprache" fehlte.57 Unabhängig von den anderen Kämpfen: Sowohl der Aufstand
der Zapatisten als auch die französische Bewegung vom November/Dezember 1995 verfügten über Elemente
einer gemeinsamen politischen Sprache. In beiden Fällen wurde als Feind der Neoliberalismus ausgemacht.
Sie halfen daher, jenes antikapitalistisches Bewusstsein zu schaffen, das in Seattle sichtbar wurde.

Hardt und Negri (die Empire offensichtlich vor Seattle geschrieben haben) geben
sich mit folgender Überlegung zufrieden: "Dass die Kämpfe nicht miteinander vermittelt werden können, dass
gut strukturierte Kommunikationskanäle fehlen, ist vielleicht tatsächlich eher Stärke denn Schwäche –
Stärke, weil all die Bewegungen unmittelbar an sich subversiv sind und nicht zur Sicherstellung ihrer
Wirksamkeit auf irgendeine Art Hilfe von außen oder Ausweitung nach außen warten … die Struktur des
Empire und die Globalisierung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen bringen es mit sich,
dass das virtuelle Zentrum des Empires von jedem Punkt aus angegriffen werden kann. Zu den Taktiken der
alten revolutionären Schule kann somit überhaupt nicht mehr zurückgekehrt werden – für die Kämpfe bleibt
als einzige verfügbare Strategie die konstituierende Gegenmacht, die aus dem Empire selbst heraus
entsteht.
"58

An anderer Stelle erklärt Negri in Umdrehung von Lenins altem Spruch:
"Das schwächste Glied in der Kette des Kapitalismus ist sein stärkstes Glied."59 Wenn dies wörtlich
der Fall wäre, wenn der heutige Kapitalismus wirklich ein homogener "glatter Raum"
wäre, in dem sich
Macht gleichmäßig verteilt, gäbe es für Strategieüberlegungen in der Tat wenig Anwendungsfelder. Doch
das ist offensichtlich falsch. Die verschiedenen Teile der Welt haben für das Kapital unterschiedliche
Bedeutung. Solange der natürliche Reichtum in Afrika südlich der Sahara weiterhin durch faire oder faule
Methoden abgezogen wird, können große Teile dieses Weltteils getrost der wohlwollenden Fürsorge der vier
apokalyptischen Reiter überlassen bleiben. Der viel kleinere Teil der Erde, auf den sich die überwiegende
Masse des kapitalistischen Produktiwermögens konzentriert – immer noch in erster Linie Nordamerika,
Westeuropa, Japan und ein paar asiatische und lateinamerikanische Außenstellen – ist ein völlig anderer
Fall. Prozesse, die Trotzki "ungleiche und kombinierte Entwicklung" nannte, funktionieren weiterhin im
heutigen Kapitalismus und konzentrieren dabei Macht und Wohlstand in riesigem Ausmaß an bestimmten
Punkten des Systems. Diese ungleiche Entwicklung erfordert strategische Analysen und Diskussionen,
um festzustellen, wo der Feind verwundbar ist und wo unsere Hauptstärken liegen.

Strategisches Denken ist auch notwendig, um auf Lenins "scharfe Wendungen der
Geschichte
" antworten zu können,
d. h. auf die plötzlichen Krisen, die der revolutionären Bewegung unerwartete Chancen bieten, falls sie
schnell erkannt werden. Aber Negris ganzes Geschichtsbild ist merkwürdig abstrakt – auf ewig steht die
Multitudo dem Kapital gegenüber, ohne jede Berücksichtigung der besonderen Bedingungen, der aufgelaufenen
Widersprüche, der feinen Verschiebungen im Machtgleichgewicht, ohne all das, was die großen politischen
Werke der marxistischen Schule so meisterhaft nachzeichnen. Was bei Negri fehlt, ist das, was Daniel
Bensaid "strategische Vernunft" nennt: "Die Kunst der Entscheidung, der Wahl des richtigen Augenblicks,
des Erkennens der Alternativen, die der Hoffnung offen stehen, ist eine strategische Kunst des Möglichen.
Sie ist nicht der Traum von einer abstrakten Möglichkeit, wo alles, was nicht unmöglich ist, möglich
werden wird, sondern die Kunst des durch die konkrete Lage bestimmten Möglichen: da jede Situation
einmalig ist, steht der Augenblick der Entscheidung im Hinblick auf das zu erreichende Ziel immer in
Bezug zu dieser Situation.
"60

Diese Art strategischer Analyse ist nicht von dem Versuch zu trennen, die Subjekte
einer Veränderung ausfindig zu machen. Hierzu können Hardt und Negri nur wenig Hilfreiches sagen.
Vielleicht gehört es aus ihrer Sicht zu den Vorzügen ihres Konzepts der "Multitudo", dass es die
Unterdrückten und Ausgebeuteten als eine anonyme, formlose Masse ohne bestimmte soziale Einordnung
identifiziert. So feiern sie Immigranten und Flüchtlinge und erklären "Desertieren, Exodus und
Nomadentum
" zu einer demokratischen Kraft. "Ein Gespenst geht um in der Welt, das Gespenst der
Migranten.
" Indem sich die Multitudo über nationale Grenzen hinwegsetzt und alle festen Identitäten
durcheinander bringt, bildet sie einen neuen "weltlichen Staat" im Gegensatz zum verderbten imperialen
Staat.61

Migration ist zweifellos eine soziale und politische Realität von heutzutage großer
Bedeutung. Sie zu überhöhen ist jedoch nicht gerade besonders neu bei jenen von pseudoradikalen Professoren
wie
Gayatri Spivak und Homi Bhabha (beide werden von Hardt und Negri zustimmend zitiert) begleiteten
linksliberalen Akademikern, die während der letzten zehn Jahre Multikultur, Hybridität und Nomadentum
vergötterten. Dies ist nicht die einzige Stelle, wo Empire Gefahr läuft, der postmodernen Orthodoxie
gerade in dem Augenblick neues Leben einzuhauchen, in dem diese alle Zeichen von Altersschwäche zeigt.

Zusätzlich zu diesem allgemeinen Unvermögen, ernsthaft das Strategieproblem
anzugehen, gibt es auch beunruhigende Anzeichen dafür, dass Negri in einige seiner alten Fehler
zurückfällt. Er schreibt: "Diese Veränderung des Paradigmas kapitalistischer Macht auf die Bewegungen
der Arbeiterklasse und des Proletariats zurückzuführen, heißt, darauf zu bestehen, dass die Menschen
ihrer Befreiung von der kapitalistischen Produktionsweise näher kommen. Und man geht auf Abstand zu
denjenigen, die über das Ende der korporatistischen Absprachen des Nationalsozialismus und der
Gewerkschaften Krokodilstränen vergießen, und genauso zu denjenigen, die der guten alten Zeit
nachweinen und sich nach einem Sozialreformismus zurücksehnen, der gegenüber den Ausgebeuteten vor
Ressentiments trieft und vor Eifersucht, die nur allzu häufig unter der Utopie schwelt.
"62 Über diesen
Abschnitt kritisch befragt, beschrieb Negri Gewerkschafter als �Kulaken“ – jene reichen Bauern, die
Stalin mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft Ende der 20er Jahre zu �liquidieren“ versuchte
– und brachte seine Sehnsucht zurück nach 1977 zum Ausdruck, als arbeitslose Jugendliche gegen
Fabrikarbeiter kämpften.63 Die Feindschaft gegenüber der organisierten Arbeiterklasse scheint
sich also im Negri’sehen Denken während der letzten zwanzig Jahre erhalten zu haben.

1981 schrieb Negri: "Das proletarische Gedächtnis besteht nur aus Erinnerungen an
vergangene Entfremdung … Der Übergang zum Kommunismus ist die Abwesenheit eines Gedächtnisses.
"64 Warum er dies trotz seiner nicht zu bezweifelnden Fähigkeiten als Historiker aller
möglichen politischen Schulen sagen zu müssen glaubt, lässt sich erklären: Jeder Versuch, seine
Vergangenheit einer kritischen Prüfung zu unterziehen, würde aufdecken, wie er und allgemein die
Autonomen die italienische Linke in den 70er Jahren in die Irre geführt haben. Die Weigerung, sich
dieser Vergangenheit zu stellen, ist weniger ein persönlich-moralisches Versagen, als vielmehr
Ausdruck der seiner Version des Marxismus innewohnenden Grenzen.

Autonome Theorie und Praxis ist, wie ich zu Beginn dieses Artikels klar zu machen
versuche, eine lebendige politische Kraft. Glücklicherweise gibt es keine aktuellen Versionen der Roten
Brigaden. Aber der Gedanke, stellvertretend und beispielgebend im Interesse der Massen zu agieren,
bleibt einflussreich, sei es im Straßenkampfkult des Schwarzen Blocks oder bei den mehr friedlichen
Taktiken der Tute Bianche. Diese Aktionen dienen als Ersatz für Massenmobilisierung. In Analysen a la
Hardt und Negri wird die Arbeiterklasse entweder in eine amorphe Multitudo aufgelöst oder als eine
privilegierte Arbeiteraristokratie gebrandmarkt. Die Aktiven handeln im Namen der Ersteren und versuchen,
der Letzteren auszuweichen oder sich ihr entgegenzustellen.

Genua hat recht schmerzlich die Grenzen autonomer Politik aufgezeigt.
Mit all ihrem ganzen Sondertraining und ihrer Panzerung konnten die Tute Bianche der bewaffneten
italienischen Staatsmacht nicht das Wasser reichen. Tausende von Demonstranten, darunter Sektionen
der revolutionären Linken, die sich dem Marsch der Tute Bianche angeschlossen hatten, mussten
feststellen, dass ihnen nur die Rolle des tatenlosen Zuschauers bei der Schlacht übrig blieb.
Vor Genua hatten die Tute Bianche verkündet, die traditionelle Linke sei überholt: "Endlich lassen
die Zapatisten das 20. Jahrhundert hinter sich – dies ist ein unumkehrbarer, nicht verhandelbarer
Bruch mit den Hirngespinsten der europäischen Linken. Es lässt all die klassischen Gegensatzpaare
der politischen Tradition des 20. Jahrhunderts hinter sich: Reformismus/Revolution, Avantgarde/Bewegung,
Intellektuelle/Arbeiter, Machtergreifung/Exodus, Ge-walt/Gewaltlosigkeit.
"85

Nach Genua freilich warnte ein bescheiden gewordener
Casarini (La Republica, 3.8.2001)vor dem Wiederaufleben eines Terrorismus nach Art
der 70er Jahre. "Ich habe wirklich Angst davor. Es gibt Einzelpersonen und kleine Gruppen, die könnten in
Versuchung geraten, eine bewaffnete Avantgarde zu bilden… Dies ist der Abgrund, vor dem wir in den
kommenden Monaten womöglich stehen werden, wenn wir jetzt nicht unsere Richtung ändern.
" Casarini
räumte ein, dass die bisherige Erfahrung der Tute Bianche "angesichts der imperialistischen Logik,
vor der wir jetzt stehen, nicht ausreicht
", und er riet, vom "zivilen Ungehorsam" zum "sozialen
Ungehorsam
" zu wechseln (Il Manifeste, 8.8.2001). Sollte dies eine Wendung hin zur Beteiligung
an der Arbeiterbewegung sein, ist es ein Schritt voran. Genua hat sehr deutlich eine Wahrheit des
klassischen Marxismus offen gelegt, die die Tute Bianche überheblich zurückgewiesen hatten: nur die
Massenmobilisierung der organisierten Arbeiterklasse kann der geballten Macht des kapitalistischen
Staates begegnen. Indem sie ihre eigenen Zusammenstöße mit diesem Staat romantisierten, wichen die
Autonomen der wahren Aufgabe revolutionärer Politik aus: die Mehrheit der Arbeiterklasse politisch
zu gewinnen.

Anmerkungen

1. Naomi Klein, "ReclaimingtheCommons", New Left Review, Mai/Juni 2001, S. 86

2. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, Cambridge/Mass. 2000, S.413

3. Vgl. Interview mit Luca Casarini, Il Manifesto3.8.2001

4. Eine gute Zusammenfassung dieser Periode findet man in P. Ginsborg, A
History of Contempomry ltaly. Society and Politics 1943-1988, Harmondsworth
1990.

5. Eine scharfe Analyse des Versagens der italienischen Linken in dieser Zeit
bietet Tobias Abse: "Judging the PCI", New Left Review, September/Oktober
1985.

6. Ebd., S. 25

7. Eine nützliche Studie seiner Schriften dieser Zeit liefert S.Wright, "Negri’s Class Analysis: Italian Autonomist Theory in the Seventies", Reconstruction, Nr. 8, 1996. Negri war zuvor Mitglied bei Potere Operaia, die eine leninistische Linie vertrat. Eine Mehrheit der Mitglieder trat der neuen autonomen Bewegung bei.

8. Ebd.

9. Abse, a.a.O., S.30.

10. Nach J. Füller, "The New Workerism – the Politics of the Italian Autonomists", International Socialism, Nr. 8, Frühjahr 1980.

11. Eine klare Aufstellung der Unterschiede zwischen Ausbeutung und Unterdrückung, die z. B. Erwerbslose erleiden, liefert E. O. Wright, "The Class Analysis of Poverty", in: Interrogating Inequality, London 1994.

12. A.Negri, Marx beyondMarx, South Hadley/Mass. 1984, S. 173

13. Abse, a.a.O., S.35.

14. Negri kehrte 1997 nach Italien zurück, um seine Haftstrafe abzusitzen. Das geschieht unter halbwegs fairen Bedingungen. Er wohnt privat in Rom, aber unterliegt von 19 Uhr abends bis 7 Uhr morgens einem Ausgehverbot.

15. Negri, Marx beyond Marx, a.a.O., S. 91, 101

16. Ebd., S. 131.

17. Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, in: K.Marx/F.Engels, Werke [MEW], Bd.23, Berlin 1962, S. 648

18. Negri, Marx beyond Marx, a.a.O., S. 69

19. Karl Marx, �Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ [1875], in: MEW, Bd. 19, Berlin 1962, S. 15.

20. Negri, Marx beyond Marx, a.a.O., S.100-101

21. Ebd., S. 138, 140

22. Ebd., S. 27, 25

23. Ebd., S. 188

24. Ebd., S. 172

25. Ebd.,S.XVT

26. Ebd., S. 14

27. Vgl. Michel Foucault, Discipline and Punish, London 1977, und ders., Power/Knowledge, Brighton 1980.

28. Zitiert nach S. Wright, a. a. O.

29. Ethics in Works of Spinoza, Bd. II, New York 1955, Appendix I, S. 78.

30. Diese Argumentation wird weiter entwickelt in A. Callinicos, 7s there a Future for Marxism?, London 1982, das geschrieben wurde als Antwort auf "die Krise des Marxismus", wofür Negris Schriften der 70er Jahre symptomatisch sind.

31. Vgl. jene Kritiken, die Robert Brenner "angebotsorientierte" Krisentheorien nennt: "Uneven Development and the long Downturn", New Left Review, Mai/Juni 1998.

32. Vgl. A. Callinicos, Making History, Cambridge 1987.

33. Negri, Marx beyond Marx, a. a. O., S. 56-57.

34. Vgl. M. Hardt, "Translator’s Foreword", in: A. Negri, The Savage Anomaly, Minneapolis 1991 (dt. Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1992). Negri holt die Idee der "Multitudo" aus Spinozas politischen Schriften, wo sie eine erheblich zwiespältigere Rolle spielt, als Negri bereit ist zuzugeben. Vgl. Etienne Balibar, Spinoza and Politics, London 1998.

35. A. Negri, Le Pouvoir constituant, Paris 1997, S. 429, 435.

36. Ebd., S. 401.

37. Ebd., S. 37, 40. Bei der Berufung auf Foucaults Sexualität und Wahrheit nimmt Negri die erheblichen Unterschiede zwischen dem ersten Band, der 1976 erschien, und dem zweiten und dritten, die kurz vor dem Tod ihres Verfassers 1984 veröffentlicht wurden, nicht zur Kenntnis.

38. G. Deleuze, Foucault, Paris 1986, den Negri zur Unterstützung seiner Fou-cault-Interpretation zitiert, ist tatsächlich ein Umschrieb des Foucault’schen Denkens auf der Grundlage von Deleuzes eigener besonderer Ontotogie des Lebens und des Begehrens. Eine kritische Erörterung der Abhandlung von Deleuze und Foucault zu Widerstand findet sich bei A. Callinicos, Against Post-modernism, Cambridge 1989, S. 80-87.

39. G.Deleuze/F.Guattari, MillePlateaux, Paris 1980, S.512, 510, 583 (dt. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992). Deleuze und Guattari entwickeln im ersten Band von Kapitalismus und Schizophrenie eine hochkomplexe Theorie der sozialen und psychischen Dimensionen von Territorialisierung und Deterritorialisierung: Anti-Oedipus, Frankfurt am Main 1977. Deleuze ist auch der Verfasser einer wichtigen Studie über Spinoza: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993, die schwer Negris eigene Abhandlung zu dem gleichen Philosophen in Die wilde Anomalie beeinflusse hat. Antihegelianische Marxisten neigen zu Spinoza als alternativem Bezugspunkt. Diese schon bei Althusser offensichtliche Neigung wird bei seinem Schüler Pierre Macherey in Hegel ou Spinoza?, Paris 1979, auf die Spitze getrieben. Wenn auch keineswegs ein Althusserianer, so ist doch Ne-gri folgerichtig sowohl gegenüber Hegel als auch gegenüber der Dialektik feindlich eingestellt, diese Haltung teilt er auch mit Deleuze und Foucault.

40. Daniel Bensai’d, Resistance*, (Paris 2001, S. 212.

41. Hardt/Negri, Empire, a.a.O., S.Slf. Zur Hyperglobalisierungsthese vgl. D. Held u. a.: Global Transformations, Cambridge 1999, Kapitel 1.

42. Hardt/Negri, Empire, a.a.0., S.XlIf.

43. Ebd., S. 43.

44. Ebd., S. 23. Negris Begriff der Biopolitik wurde z. B. von Ya Basta! aufgegriffen, um ihre Verwendung von Körperpanzerung zu rechtfertigen: "Das Biopolitische ist eine Politikform, die aus dem Innern des postdisziplinären Paradigmas der Kontrolle heraus die Möglichkeit kollektiven Handelns wieder herstellt. Die Gefahr besteht darin, sich in der Epoche zu irren und zu der einzigen kollektiven Aktion zurückzukehren, die wir zu kennen glauben: die des Angesichts zu Angesicht, die direkte Konfrontation, die so eindeutig ein Teil der alten disziplinären Konfliktform ist. Die Polsterung der Körper der Genossen bedeutet dagegen den Übergang zu einer anderen politischen Grammatik." J. Revel, zitiert in "Changing The World (One Bridge At A Time) ? Ya Basta! After Prague" (www.geocities.com).

45. Hardt/Negri, Empire, a.a.O., S.43, 259. Vgl. auch zur Disziplinärgesell-schaft: ebd., Kapitel 3.2.

46. Ebd., S. 268-269.

47. Mario Tronti, "Workers and Capital", in: The Labour Process and Class Strategies, London 1976, S. 104.

48. Hardt/Negri, Empire, a. a. O., S. 52.

49. Ebd., S. 409.

50. Ebd., S. 364f., 385, 387. Vgl. auch Kapitel 4. l und 4.2.

51. Ebd., S.360, 469. Vgl. Deleuze, a.a.O., S.95, 98.

52. Vgl. das Symposium über Robert Brenner in Historical Materialism, Nr. 4 und 5, 1999.

53. Hardt/Negri, Empire, a. a. O., S. 9, 190.

54. Vgl. A. Callinicos et al., Marxism und the New Imperialism, London 1984; Gilbert Achcar, "The Strategie Triad: USA, China, Russia", in: Tariq Ali (Hg.), Masters of the Universe?, London 2000, und A. Callinicos, Against the Third Way, Cambridge 2001, Kapitel 3.

55. Hardt/Negri, Empire, a. a. O., S. 52.

56. Ebd., S. 400-406.

57. Ebd., S. 54, 56f.

58. Ebd., S. 58f.

59. Titel eines (in absentia) vorgelegten Papiers auf der Konferenz "Towards a Politics of Truth: The Retrieval of Lenin", Kulturwissenschaftliches Institut NRW, Essen, 3.2.2001.

60. Daniel Bensaid, Les Irreductibles, Paris 2001, S. 20.

61. Hardt/Negri, Empire, a. a. O., S. 212f., 396. Dies bezieht sich auf die beiden Staaten des hl. Augustinus, der Gottesstaat und der weltliche Staat. Dies ist eine von mehreren Passagen, wo Hardt und Negri eine Analogie zwischen der heutigen Multitudo und frühen oder egalitären Versionen des Christentums herstellen. Am Schluss von Empire wird noch der heilige Franz von Assisi als Vorbild für ein �zukünftiges kommunistisches militantes Leben" angeboten. Ebd., S.413.

62. A. Negri, "L’Empire‘, stade supreme de l’imperialisme", Le Monde diplmatique, Januar 2001, S. 3.

63. Bemerkungen während einer Telefondiskussion auf der Essener Leninkonferenz.

64. Zitiert in S. Wright, a. a. O.

65. "Why are White Overalls Slandered by People who Call Themselves Anarchists?", 8.7.2001 (www.italy.indymedia.org).In Deutschland zuerst erschienen in: SoZ. Sozialistische Hefte 1, Köln 2002
(Übersetzung: Theo Mendler und Thomas Weiß). Dankenswerter Weise gestattete der Verlag die Herausgabe.
Die englische Originalversion ist hier downloadbar.

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