Am 10. Juni 1981 kamen zur bis dahin größtenDemonstration der deutschen Geschichte eine Million Menschen,
um im Bonner Hofgarten gegen das Nachrüstungsprogramm der
NATO zu protestieren. 1983 begann die Stationierung der Atomraketen
„Pershing II“. Warum scheiterte die Bewegung? Welche
Lehren können wir für heute ziehen?Ende der 70er verschärfte sich die Krise der Weltwirtschaft
und damit auch der Konflikt zwischen NATO und Warschauer Pakt.
Der US-Präsident Ronald Reagan leitete eine Politik des aggressiven
Wettrüstens ein, um die UdSSR ökonomisch in die Knie
zu zwingen.
Zu diesem Zweck sollten Arsenale der Mittelstreckenrakete
Pershing II in Westeuropa stationiert werden. Das Wettrüsten
ging in eine neue Runde. Waren Modernisierung und Ausbau der Atomstreitkräfte
für den Westen bereits mit aberwitzigen Kosten verbunden,
sollte die neue Rüstungsrunde für den Osten letztlich
den Ruin bedeuten.
Der sich zuspitzende Konflikt zwischen den Blöcken
drohte, zu einem Atomkrieg zu eskalieren. Beide Seiten besaßen
genug Sprengköpfe, um die Menschheit neunmal zu vernichten.
Bewegung
Die Rüstungsoffensive der NATO löste eine internationale
Massenbewegung aus. Die Friedensbewegung kam ins Rollen, insbesondere
in Westdeutschland. Viele der alten Aktivisten der 60er und 70er
Jahre zogen wieder mit, neue kamen hinzu.
Die Bewegung entwickelte einigen Schwung. Die Ostermärsche
blühten auf und zogen Hunderttausende an. Eine regelrechte
Gründungswelle von Friedensinitiativen erreichte auch Kleinstädte
und die Friedenstaube wurde zu einem der beliebtesten Autoaufkleber.
Auf dem Höhepunkt der Bewegung demonstrierte
am 10. Juni 1981 eine Million Menschen im Bonner Hofgarten.
Die kalten Krieger in den Regierungshauptstädten
zeigten sich unbeeindruckt. Der NATO-General Haig äußerte,
es gebe „Wichtigeres als den Frieden“, der damalige
Bundeskanzler Schmidt (SPD) sprach von einer „überhitzten
Friedensdiskussion“, der US-Präsident Ronald Reagan
kündigte bei einem Soundcheck vor einer Rundfunkansprache
an, in wenigen Minuten beginne das Bombardement der UdSSR.
Daß die Machthaber die unzähligen Teilnehmer
der Friedensdemonstrationen einfach ignorierten, stellte die Aktivisten
vor eine schwierige Frage. Was tun, wenn eine Million im Hofgarten
nichts erreichten? Versuchen, zwei Millionen zu mobilisieren?
Die Aktionsformen verändern?
Eine Minderheit setzte auf gewaltfreie Sitzblockaden vor Kasernen
und Raketenlagern. Damit wurde die Polizei problemlos fertig.
Der Rest der Bewegung demonstrierte mit unterschiedlicher Ausdauer
weiter.
Es half nichts. 1983 setzte die Schmidt-Regierung
als eine ihrer letzten Amtshandlungen die Stationierung der Pershings
durch.
Folgen
Die Niederlage der Friedensbewegung hatte weitreichende Folgen.
In der Masse der Bevölkerung öffnete sie zusammen mit
den Kürzungen der Schmidt-Regierung das Tor für eine
breite Demoralisierung. Diese schlug sich 1982/83 im Bonner Machtwechsel
zur CDU/CSU nieder.
Zahlreiche Initiativen und Tausende ehemaliger 68-Revolutionäre
hatten sich bereits ab 1979 zu den Grünen zusammengeschlossen
und kämpften um den Einzug ins Parlament. Mit der Niederlage
der Friedensbewegung und dem Einzug in den Bundestag 1983 setzten
sich nun innerhalb der Grünen die rechten „Realos“
gegen die linken „Fundis“ durch.
Das Scheitern der Friedensbewegung wurde als das
Scheitern der gesamten außerparlamentarischen Strategie
betrachtet, während der Weg, die Gesellschaft über das
Parlament zu verändern, Erfolg zu haben schien.
Von da an ging es kontinuierlich nach rechts. An
verschiedenen Punkten verließen Teile der grünen Basis
enttäuscht die Partei. Die übrig blieben, setzten den
Kurs der Integration in die bestehenden Verhältnisse fort.
Der außerparlamentarische Aktivismus der Grünen starb
nach und nach ab.
Warum aber scheiterte die Friedensbewegung? Warum
wurden die Raketen ab 1983 stationiert, während andererseits
die USA den Krieg in Vietnam 1972 abbrechen mußten?
Zwei Ziele
1968 war der Kampf um Vietnam der Startschuß für eine
sich radikalisierende Massenbewegung, die sich zu einer Rebellion
gegen die herrschenden Zustände insgesamt auswuchs.
Hinter den Rebellen lagen fast 30 Jahre totaler politischer
Friedhofsruhe – in Deutschland die Betonherrschaft der Adenauer-Jahre.
Eine ganze Generation fühlte sich von den Versprechungen
der Herrschenden auf Demokratie, Freiheit und Wohlstand betrogen.
Die herrschende Ideologie war in der Krise.
Die Friedensbewegung stellte dagegen das letzte Aufbäumen
jener außerparlamentarischen Bewegung zu einem Zeitpunkt
dar, als diese bereits ein Jahrzehnt der Demoralisierung hinter
sich hatte. Eine ganze Generation von abgekämpften 68ern
war von den eigenen Hoffnungen auf tiefschürfende Veränderungen
und den Sozialismus enttäuscht worden. Die Theorie der Linken
war in der Krise.
Die Formulierung der Ziele verdeutlicht das. In einem
charakteristischen Artikel des amerikanischen Magazins „Guardian“
heißt es 1968:
„Gegen den Krieg (in Vietnam.
FK) zu sein, ist nicht genug. Die frisch radikalisierte Antikriegsbewegung
muß gegen die Quelle des imperialistischen Krieges kämpfen,
und sie muß diesen Kampf hier und jetzt gegen das kapitalistische
System führen, gegen seine Institutionen, Politiker und Polizisten,
die solche Kriege unausweichlich machen. Die Bewegung muß
schlichtweg für die Macht des Volkes kämpfen.“
In dem 1984 erschienenen Buch „Aufbruch zu neuen
Ufern? – Grün-Alternative zwischen Anspruch und Wirklichkeit“
dagegen:
„Die (…) kollektiven und individuellen Ohnmachtsgefühle,
Zukunfts- und Entfremdungsängste verschmelzen in den neuen
sozialen Bewegungen zu einem Widerstands- und Protestpotential,
das sich primär an wertkonservativen, „erhaltenden“ Zielen
orientiert. (…) Ihr gemeinsamer Nenner ist eine zivilisationskritische
Haltung zum „Projekt der Moderne“.“
Die außerparlamentarische Bewegung war von
der Offensive in die Defensive gedrängt worden.
Organisation „68
1968 begann als radikal-demokratische Opposition und entwickelte
sich zu einer spontanen Protestbewegung mit enormer Sprengkraft
weiter.
Allerdings mußten die 68er bald feststellen,
daß spontaner Protest auch in seiner militantesten Form
nicht ausreichte, die Herrschenden in die Knie zu zwingen.
Der Vietnamkrieg ging auch unmittelbar nach der Rebellion
weiter, in Deutschland wurden die Notstandsgesetze trotz erbitterter
Opposition durchgesetzt und anstatt sich zur Revolution weiterzuentwickeln,
ebbte die Bewegung erst einmal ab.
Die 68er fanden drei Antworten auf diese Strategiekrise.
Die überragende Mehrheit setzte auf eine andere
Regierung. Statt Weltrevolution hieß es für sie „Willy
wählen“.
Eine winzige Minderheit setzte auf den direkten bewaffneten
Kampf. Sie gründete Stadtguerillas wie die RAF oder die Bewegung
2. Juni.
Andere zogen andere Lehren. Sie schlossen sich ab
1969 in kommunistischen Gruppen und Grüppchen zusammen, kämpften
um Einfluß in den Betrieben und versuchten, revolutionäre
Arbeiterparteien aufzubauen.
Die meisten dieser Organisationen waren mittelfristig
zum Scheitern verurteilt. Sie orientierten sich am Ostblock oder
China als Modell für eine fortschrittliche Gesellschaft.
Unmittelbar waren sie aber in der Lage, als Rückgrat
der außerparlamentarischen Bewegung zu dienen. Sie konnten
den Kampf gegen den Vietnamkrieg über Jahre hinweg tragen,
durch die Verbindung mit anderen Bewegungen ständig ausweiten
und mit dem Kampf um soziale Fragen koppeln. Das brachte den Sieg.
Niedergang
Irgendwann aber ebbte genau jene Welle von Kämpfen ab, die
die revolutionäre Linke von Erfolg zu Erfolg geführt
und ihre Schwächen überspielt hatte. Als die Friedensbewegung
Ende der 70er Jahre ins Rollen kam, steckte die 68er-Linke längst
in einer existentiellen Krise.
Im „deutschen Herbst“ 1977, dem Höhepunkt
der Fahndungshysterie gegen den Linksterrorismus, wurde den revolutionären
Sozialisten schmerzhaft demonstriert, daß ihr Einfluß
auf die Bevölkerungsmehrheit inzwischen gegen Null tendierte.
In einem letzten Aufbäumen rannte die Linke
in der Anti-Atombewegung der späten 70er gegen die Staatsmaschine
und die eigene Krise an. Die militärische Herausforderung
des westdeutschen Staates vor Brokdorf und Gronde war der Versuch,
die Isolation von der Arbeiterklasse durch die Steigerung der
eigenen Radikalität auszugleichen.
Aber ohne nennenswerte Unterstützung außerhalb
der eigenen Reihen zerschellte diese heroische Offensive an den
Kohorten der in den Vorjahren aufgerüsteten Polizei.
Innerlichkeit
Die organisatorischen Reste der 68er-Revolte zerfielen nun in
zahllose Bürgerinitiativen. Diese befaßten sich nicht
mehr mit der Umwälzung der Gesellschaft als Ganzer, sondern
mit der Bekämpfung einzelner Aspekte des Systems. Die eine
„B.I.“ kämpfte gegen eine neue Autobahn, die andere
gegen AKWs, die nächste gegen das Wettrüsten, die vierte
für einen Kinderladen.
Dabei wich der Ansatz, die Gesellschaft durch den
kollektiven Kampf der Arbeiter umzustürzen, der „neuen
Innerlichkeit“.
Schuld an den Übeln der Gesellschaft war nun
nicht mehr die kranke Logik des kapitalistischen Systems, sondern
die Unvernunft einzelner Politiker und der eigene Lebensstil.
In der oben zitierten Textsammlung heißt es
dazu: „Da die etablierten „Vernunftpolitiker“ das Irrationalste,
nämlich die Zerstörung der Erde, betreiben, werden „Lebensgefühle“
als einzig wirksame Gegenkraft angesehen.“
Den Satz „Erst der neue Mensch – dann die
neue Gesellschaft“ auf den Lippen wurden Straßenkämpfer
zu Ökobauern.
Schmidt
Zweifellos waren wegen all dem die Rahmenbedingungen für
eine Ausweitung des Kampfes 1983 unvergleichlich schwieriger als
1968. Direkte Vergleiche sind problematisch.
Daß es für Schmidts Rüstungspolitik
auf dem SPD-Parteitag 1983 nur noch eine einzige Stimme gab –
die von Helmut Schmidt selbst! – verdeutlicht aber, daß
ein Bruch nennenswerter Teile der reformistischen Basis nach links
nicht unmöglich gewesen wäre.
Denn die Unzufriedenheit mit der Politik Helmut Schmidts
beschränkte sich nicht auf die Frage der Atomraketen. Die
Arbeitslosigkeit stieg kontinuierlich an und erreicht Anfang der
80er zwei Millionen. Die Sozialkürzungen wurden immer drastischer.
Die absurde Geldverschwendung für das NATO-Nachrüstungsprogramm
hätte durchaus zum Transmissionsriemen zwischen Arbeiterklasse
und Friedensbewegung werden können.
Was von 68 übrig war, war aber weder revolutionär
noch an sozialen Fragen interessiert. Aus der Not eine Tugend
machend, hatten die größten Teile der Linken auf den
Niedergang der Klassenkämpfe Mitte der 70er mit einer Abwendung
von der Arbeiterklasse reagiert:
„Die neuen Protestbewegungen lassen sich nicht
mehr entlang der klassischen sozio-ökonomischen Konfliktlinie
Arbeit/Kapital lokalisieren. Ihnen geht es nicht – wie der Arbeiterbewegung
– um die Erlangung sozialer und ökonomischer Gleichheit.“
Für die Friedensbewegung der 80er war das fatal.
Anstatt den Kampf um soziale Gleichheit als potentiellen Motor
der Massenbewegung gegen die Raketen zu verstehen, wurde das Ringen
um profane, weltliche Dinge wie Löhne und Arbeitsplätze
als Ablenkung vom wesentlichen betrachtet.
Fazit
Im Ergebnis isolierte sich die Friedensbewegung systematisch von
der Arbeiterklasse. Als Schmidt einfach abwartete, fehlte damit
der Hebel, um den Druck von unten steigern zu können. An
Streiks gegen die Raketen war unter diesen Bedingungen nicht zu
denken.
Die Lehre der Geschichte ist, daß weder die
stellvertretende Militanz einer Minderheit, noch eine Massenbewegung
ohne starke, revolutionäre Organisation und Orientierung
auf die Arbeiterklasse zentrale Projekte der Herrschenden stoppen
kann.
Für den Kampf gegen den heutigen Krieg auf dem
Kosovo sind die Rahmenbedingungen wesentlich günstiger als
in der Raketenkrise der 80er.
Die Kurve des Widerstands zeigt in den vergangenen Jahre nach
oben, eine neue Linke ist gerade erst im Entstehen und kann aus
vergangenen Fehlern lernen.