Abgeschieden von der Öffentlichkeit wird Anfang Februar in München NATO-Generalsekretär George Robertson mit hochrangigen Militärs, Verteidigungsministern und Rüstungslobbyisten über den Krieg gegen den Terrorismus beraten. Doch die Sorge der NATO-Strategen gilt nicht unserer Sicherheit, sondern der Vormachtstellung der westlichen Industrienationen.
Nach dem Fall der Berliner Mauer erklärten die westlichen Politiker, dass eine neue Ära des Friedens und Wohlstandes bevorstehe. Der Philosoph Francis Fukuyama fasste das bündig in den Ausspruch vom „Ende der Geschichte“.
Keine zwei Jahre später bombardierten die USA den Irak. 150.000 Irakis mussten für die Interessen amerikanischer Ölkonzerne sterben. Noch während die Bomben auf Bagdad fielen, verkündete der damalige US-Präsident Bush seine „Neue Weltordnung“.
Statt Frieden brachte die neue Weltordnung zwei weitere Kriege. 1999 bombardierte die NATO unter US-Führung Jugoslawien. Ende letzten Jahres griffen die USA Afghanistan an.
Alle drei Kriege erwuchsen aus den Machtverschiebungen nach dem Fall der Berliner Mauer. Als einzig verbliebener Supermacht öffnete ihr Fall den USA den riesigen Raum, der vorher von der UdSSR beherrscht worden war.
Um ihren Einfluss auszudehnen waren die USA und ihre alten europäischen Verbündeten aus dem Kalten Krieg aufeinander angewiesen. Deshalb wurde die NATO nie aufgelöst, obwohl das viele nach dem Ende des Kalten Kriegs erwarteten. Zbigniew Brzezinski, der zur Elite der US-Außenpolitiker gehört und der außenpolitische Berater des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter war, versuchte erst kürzlich die Strategie des US-Imperiums in Worte zu fassen. Frei von der üblichen Heuchelei in diesen Kreisen schrieb er 1997 in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch: Das große Schachbrett):
„Europa ist Amerikas geopolitischer Brückenkopf zum Eurasischen Kontinent. Amerikas geostrategischer Einsatz in Europa ist enorm hoch … der Nordatlantikpakt (NATO) verankert Amerikas politischen Einfluss und militärische Macht direkt in der eurasischen Kernregion. In diesem Stadium der amerikanisch-europäischen Beziehungen, in dem die allierten europäischen Nationen immer noch höchst abhängig von Amerikas Sicherheitsschirm sind, wird jede Erweiterung des europäischen Betätigungsfelds automatisch zu einer Erweiterung amerikanischen Einflusses. Umgekehrt nimmt Amerikas Einfluss in Eurasien ohne enge transatlantische Verbindungen prompt ab.“
In den frühen 90ern begann die NATO ihren Einfluss nach Osten auszudehnen. Die meisten Staaten ließen sich mit friedlichen Mitteln in die NATO eingliedern. Allein die Wiedervereinigung Deutschlands, der größten Wirtschaftsmacht auf dem europäischen Kontinent, stellte sicher, dass Osteuropa für Russland verloren war. Aber das Schicksal Jugoslawiens und des Kerngebiets der ehemaligen UdSSR, vor allem Zentralasiens, war Anfang der 90er noch nicht entschieden.
Aus dem Verteidigungsbündnis musste ein Angriffsbündnis werden. 1998 gab sich die NATO eine neue Doktrin, die Einsätze ausserhalb des NATO-Gebiets zuließ. Ein Jahr später griff die NATO Jugoslawien an.
Nicht mal die Abgeordneten des deutschen Bundestages klärten die NATO-Regierungen über die wahren Kriegsziele auf. Das enthüllte der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer in einem Interview mit den Blättern für deutsche und internationale Politik. Wimmer schenkte der NATO-Propaganda tatsächlich Glauben, bis er ein Jahr später auf einer vom amerikanischen Aussenministerium organisierten Konferenz in Bratislava teilnahm:
„Auf dieser Konferenz spielte im Prinzip all das, was uns zwischen 1992 und 1999 berührt hat, keine Rolle mehr. Da wurde in aller Klarheit gesagt: Der Grund, warum wir auf den Balkan gegangen sind, liegt in den Versäumnissen des Zweiten Weltkriegs, als Eisenhower es unterließ, dort Bodentruppen zu stationieren. Das mussten wir unter allen Umständen nachholen.“
Noch im selben Monat, in dem die ersten Bomben auf Belgrad fielen, zeigte die Osterweiterungspolitik der NATO erste greifbare Früchte, als Polen, Ungarn und die tschechische Republik dem Bündnis beitraten. Die militärische Grenze der NATO verlief jetzt nicht mehr zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern über tausend Kilometer tiefer im Osten. Und Jugoslawien trieb damit einen Keil in das NATO-Gebiet zwischen dem südlichen Endpunkt der neuen Ostgrenze und den am weitesten im Osten liegenden NATO-Mächten Türkei und Griechenland. Das war einer der Gründe, weshalb die NATO zum erstenmal in ihrer Geschichte in den Krieg zog.
Aber die strategische Bedeutung des Balkans erschöpfte sich nicht in dem nach Osten verschobenen eisernen Vorhang. Das Schicksal des Balkans war noch mit einer anderen Region verknüpft der langen Kette von Ölstaaten, die sich von den traditionellen westlichen Einflussgebieten im Nahen Osten über das Kaspische Meer bis nach Zentralasien erstreckt.
In der Region um das Kaspische Meer liegen die zweitgrößten Öl- und Erdgasvorkommen der Welt. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR gewannen die fünf Staaten dieser Region ihre Unabhängigkeit von Russland, und öffneten sich amerikanischen Ölkonzernen.
Diese Öl- und Erdgasvorkommen sind deshalb so bedeutungsvoll, weil der Nahe Osten politisch instabil ist. „Der Kampf um die Kontrolle über das Öl in Mittelasien ist zum neuesten Kapitel der alten Rivalität zwischen Russland, den USA und Japan“ geworden, schreibt Paul Sampson, Herausgeber einer Londoner Öl-Business-Zeitschrift. „Auf dieser neuen Weltkarte übernimmt das Kaspische Meer die Rolle des Persischen Golfs (Naher Osten) als Zentrum der Aufmerksamkeit“, da alle Industriestaaten angesichts der zunehmenden Instabilität im Nahen Osten, „ernsthaft nach alternativen Lieferern“ von Öl und Erdgas suchen.
Um diesen Reichtum in die westlichen Märkte zu leiten, versuchte die US-Regierung eine Pipeline-Route zu finden, die sowohl Russland als auch den Iran umging. Mehrere Pläne wurden entworfen. Im Juni 1999 kam heraus, dass eine der angedachten Routen durch den Balkan führte. Die „Stabilität“ auf dem Balkan war also mehr als eine innerstaatliche Angelegenheit, zumindest was die Interessen der NATO-Mächte anging.
Aber der Balkan-Krieg drehte sich um mehr als um eine Pipeline. Er förderte die imperialistischen Bestrebungen der NATO-Mächte in der Kaspischen Region, bis tief in Zentralasien hinein. Es gibt genügend wirtschaftliche Beweggründe, um dieses Unternehmen anzuheizen: nicht nur Öl und Gas, sondern auch neue Absatzmärkte, billige Arbeitskräften und neue Rüstungsaufträge.
Der US-Energieminister beschrieb ein Jahr vor dem Balkan-Krieg die Interessen der NATO so: „Es geht um die amerikanische Energiesicherheit. … Es geht auch darum, dass wir strategische Eingriffe derjenigen verhindern, die unsere Werte nicht teilen. Wir versuchen diese neuerdings unabhängigen Staaten auf die Seite des Westens zu ziehen. Wir würden es lieber sehen, wenn sie von westlichen Handels- und politischen Interessen abhängig sind, als wenn sie in eine andere Richtung gehen. Wir haben in der kaspischen Region substanzielle politische Investitionen getätigt, und es ist wichtig, dass am Ende die richtige Pipeline-Route und die richtige Politik herauskommt.“
Auf derselben NATO-Konferenz in Washinton, auf der während des Kosovo-Kriegs Polen, Ungarn und die tschechische Republik beitraten, wurde informell über eine Allianz namens GUUAM beraten, benannt nach den Anfangsbuchstaben der fünf ehemaligen sowjetischen Republiken Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien. Der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana bestand darauf, dass die NATO nicht vollkommen sicher sei, ohne den Kaukasus unter ihre Kontrolle zu bringen. Schon vorher waren diese zentralasiatischen Staaten dem „Partnership for Peace“-Programm der NATO beigetreten, was schon damals den militärischen Zugriff der NATO tief in diese Konfliktzone ausweitete.
Bushs heutiger Krieg gegen Terrorismus dient denselben Zielen. Der Angriff auf Afghanistan ermöglichte es den USA ihre Truppenpräsenz in der Region aufzustocken. Die Staaten, die Bush als mögliche weitere Angriffsziele nennt Irak, Jemen, Somalia, Sudan gruppieren sich alle um die zunehmend instabilen Staaten im Nahen Osten.
Was im letzten Jahrzehnt geschah war die Öffnung des großen Raumes, der früher von Osteuropa, Russland und Zentralasien beherrscht war, für westliche Konzerne und Militärstrategen. Dort spielen die NATO-Mächte, Russland und China ein großes Schachspiel um Macht, Profite und Öl. Die Männer, die die Figuren bewegen, treiben Millionen Menschen in Armut und Flucht.