Die anhaltenden Revolten in Lateinamerika können die Lebensbedingungen nur verbessern, wenn die Arbeiterbewegung die Führung übernimmt und den Kapitalismus selbst angreift.
"Dies ist der Sieg der Armen, der Arbeiter und Bauern!" rief ein bolivianischer Gewerkschaftsführer letzten Oktober, um die Flucht des Präsidenten Goni in die USA zu feiern. Vorangegangen war ein mehrwöchiger Aufstand und Generalstreik gegen einen geplanten Erdgasexport, von dem multinationale Konzerne profitiert hätten.
Der Freude folgte Ernüchterung: Der neue Präsident Mesa ist von der gleichen neoliberalen Partei wie sein Vorgänger. Er hat angekündigt, in Absprache mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) die staatlichen Subventionen für Benzin und Gas zu streichen.
Die Preissteigerung wird die Bolivianer hart treffen. Zwei Drittel leben bereits unter der Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag.
Ernüchternde Erfahrungen haben Millionen Menschen in Lateinamerika gemacht. Nach den Aufständen in Argentinien 2001 herrschen dort immer noch Krise und Perspektivlosigkeit. Der brasilianische Präsident Lula von der Arbeiterpartei bedient die Auslandsschulden in Zusammenarbeit mit dem IWF, gegen den er früher gekämpft hat.
Für die Menschen in Lateinamerika stellt sich die Frage, wie die Gegenwehr gegen das Wirtschaftssystem, das sie in Armut stützt, erfolgreich sein kann. In Bolivien erklärte schon im Oktober ein Gewerkschaftsvorsitzender: "Die Macht zu erkämpfen heißt nicht nur, auch die neue Regierung zu stürzen, sondern auch die Macht in den Betrieben zu übernehmen."
Die größte Oppositionspartei MAS, die auch die Proteste im Oktober unterstützte, will dahingegen nicht einmal Proteste gegen die Regierung organisieren, sondern die nächsten Wahlen abwarten und dann eine linke Regierung stellen.
Sie richtet sich gegen die Ausbeutung durch multinationale Konzerne und möchte ein Bündnis der Arbeiter- und Bauernbewegung mit den bolivianischen Unternehmern für eine eigenständige industrielle Entwicklung des Landes.
Der Vorsitzende der Journalistengewerkschaft Pinto glaubt nicht, dass die bolivianischen Unternehmer das Land aus der Krise führen können: "In unserer Geschichte hat sich gezeigt, dass weder der Liberalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts, noch der bürgerliche Nationalismus ab 1952, noch die neoliberale Wirtschaftspolitik, die seit 1985 angewandt wird, das Land aus der Rückständigkeit befreien konnten."
Eine vergleichbare Lage beobachtete der Revolutionär Trotzki vor fast 100 Jahren in Russland. Die meisten Sozialisten gingen zu seiner Zeit davon aus, dass Revolutionen nur in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern erfolgreich sein können. Unterentwickelte Länder müssten zuvor eine Phase der kapitalistischen Industrialisierung durchmachen.
1905 jedoch rebellierten Arbeiter und Bauern in Russland gegen Hunger und Ausbeutung. Das Land war insgesamt wirtschaftlich zurückgeblieben, aber neben den mittelalterlichen Bedingungen auf dem Land existierten auch moderne Fabriken in den Städten.
Trotzki erteilte einem Bündnis zwischen Arbeiter und Unternehmern eine klare Absage. Er meinte, die weitere kapitalistische Entwicklung könne die Misere und die Armut nicht beheben, da sie auf der Ausbeutung der Arbeiter beruhe.
In unterentwickelten Ländern müsse die Arbeiterklasse durch eine Revolution die Macht übernehmen und im Bündnis mit den Bauern die Kapitalisten und Großgrundbesitzer enteignen. So könne eine sozialistische Gesellschaft geschaffen werden, in der nach den Bedürfnissen der Menschen produziert werde.
Trotzki sah, dass eine sozialistische Gesellschaft aufgrund der internationalen Arbeitsteilung keinen Erfolg haben könne, wenn sie auf eine Nation beschränkt bleibe. Die Revolution müsse sich internationalisieren.
"Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein theoretisches und politisches Abbild des Charakters der Weltwirtschaft, der Weltentwicklung der Produktivkräfte und des Weltmaßstabes des Klassenkampfes. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden. Sie kann aber nicht auf diesem Boden vollendet werden. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinn des Wortes zur permanenten Revolution; sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Sieg der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten."
Die Herrschenden haben Angst, dass das Beispiel Boliviens Schule machen könnte. Das US-Politikberatungsinstitut Stratfor warnt: "Vier südamerikanische Präsidenten wurden in den letzten vier Jahren gestürzt, weitere erzwungene Regimewechsel werden wahrscheinlich in den kommenden Monaten folgen und damit die Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen der USA in mehreren Ländern gefährden." Für die Arbeiter und Bauern in Lateinamerika ist die Enteignung des Kapitals und der Großgrundbesitzer der einzige Weg aus der Armut.
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