„Die Linke lebt wieder!“ titelt der Leitartikel der Süddeutschen Zeitung nach der Frankreich-Wahl. „Renaissance der Linken?“ fragt besorgt die konservative Frankfurter Allgemeine. Nur noch zwei EU-Länder haben noch unter rein konservativen Regierungen zu leiden. Mit den Wahlsiegen der Sozialdemokratie geht auch ein ideologischer Linksruck in Europa einher. Revolutionäre Sozialisten stehen am Scheideweg: Wachstum oder Isolation?
Zwei Begriffe geistern, wie das Feuilleton der SZ berichtet, durch die Debatten der Intellektuellen in Frankreich: Revolution und Staatsstreich. Der Pariser Mai 1968 wird wieder heiß diskutiert, neue Rechtfertigungsschriften für den Marxismus kommen heraus. Die Frankfurter Allgemeine berichtet, es sei unter französischen Arbeitern wieder Mode, Schriften des Marxismus zu lesen.
Der führende Konservative Philippe Seguin rechtfertigt gleichzeitig in seinem Buch „Napoleon III. – Le Grande“ vielsagend dessen Staatsstreich im Jahre 1851. Andere prominente Gaullisten wollen sich der Front National annähern, ein ehemaliger Minister spricht sogar von einer „rechten Volksfront“.
Die äußeren Pole auf der Linken und der Rechten beginnen, über die Grenzen des Parlamentarismus hinauszudenken. Radikale Ideen werden diskussionsfähig, alte Gewißheiten werden in Frage gestellt.
In Deutschland füllen sich die Buchläden mit den Werken einer neuen Kapitalismuskritik. Sogar die konservative „Welt“ beschäftigt sich in einer Serie mit der „Krise des Kapitalismus“. CDU-Pfarrer Eppelmann meint, die Union könne die Wahl 98 nur mit dem Thema soziale Gerechtigkeit gewinnen.
Die Ideologen von Standortkrieg und „Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen…“ sind in der Defensive. In Deutschland war es vor allem die Debatte über die Macht der Banken, im Anschluß an den Übernahmeversuch in der Stahlindustrie, die alle Kritik an der Logik des Marktes zusammenfaßte.
Blair und Jospin
Um die Ursache der ideologischen Verschiebung zu verstehen, ist der Vergleich von England und Frankreich aufschlußreich. In England nahm der Niedergang der Arbeiterkämpfe in den 80er Jahren nach den großen Siegen der 70er katastrophale Ausmaße an. Die Zahl der Gewerkschafter sank in den Thatcherjahren von 11 auf 7 Millionen, die allermeisten Kämpfe endeten mit traumatischen Niederlagen, wie der große Bergarbeiterstreik 1984/85. Bis heute wirken diese Erfahrungen nach und verhindern den Ausbruch großer Kämpfe.
Hier war es Blair möglich, die Hoffnung auf wirkliche Veränderung auf der Basis eines sehr angepaßten Kurses für sich zu gewinnen. Der erdrutschartige Durchmarsch Blairs, die spontane Feierstimmung der Arbeiter nach dem Sieg und die ersten, kleineren Streiks seither belegen jedoch, daß die Ursache für Blairs Sieg eine allgemeine Linksverschiebung in der Bevölkerung war.
Zwischen 70 und 80% der Menschen sind für die Verstaatlichung der privatisierten Dienstleistungen, mehr als 70% wünschen sich stärkere Gewerkschaften. 61% der Labour-Wähler sind für „mehr sozialistische Planung“. Diese Zahlen erschüttern die Vorstellung, Blair habe gewonnen, weil er so weit rechts stehe, völlig. Er gewann trotz dessen auf der Basis einer linken Stimmung.
In Frankreich hat sich diese Linksverschiebung nicht auf Wahlen beschränkt, sondern sich in explosionsartigen Ausbrüchen über Jahre hinweg verfestigt und verschärft. Die Linksverschiebung in den Köpfen hat sich in den Straßen und Betrieben niedergeschlagen und ist zu einer selbständigen Perspektive geworden.
Mit einem rechten, blairistischen Programm hätte Jospin (selbst ein Modernisierer des rechten Parteiflügels) Alain Juppe nie und nimmer aus dem Amtssessel gekippt.
Der französische Sozialist Nick Barret erklärt: „Die Stimmung gegen den Sparkurs hat Jospin gezwungen, eine entschieden euroskeptische Position einzunehmen.“
Jospins Wahlsieg widerlegt die These der Schröder-Unterstützer, man könne mit linken, gegen den Markt gerichteten Positionen keine Wahlen gewinnen. Im Gegenteil: Nur dadurch konnten sich die französischen Sozialdemokraten von ihrem letztmaligen Katastrophenergebnis erholen.
Krise
Es klingt absurd, wenn man die politische Entwicklung der letzten Jahre betrachtet, aber die Dynamik in Frankreich ist nicht wesentlich anders als die in England. Dort sind die Widersprüche nur schon offen eskaliert, die in England noch unter der Oberfläche gären.
Die Ursache ist aber dieselbe, wie in der gesamten EU, nicht zuletzt auch in Deutschland: Das offensichtliche Scheitern neoliberaler Wirtschaftspolitik im Angesichte der schwersten Krise seit den 30er Jahren.
Die Hilflosigkeit eines Theo Waigel ist nicht Resultat seiner persönlichen, als vielmehr der allgemeinen ökonomischen Schwäche. Das enge Korsett der Euro-Kriterien wurde in den Zeiten des Aufschwungs geschneidert und wird nun, unter den Bedingungen der Krise, zur Zwangsjacke.
Inzwischen verstärken sich die verschiedenen Krisensymptome gegenseitig und ballen sich zusammen. Die hohe Arbeitslosigkeit und die wirtschaftlichen Probleme führen zu Steuerausfällen. Sozialabbau, Steuererhöhungen oder Subventionskürzungen schwächen die Nachfrage und machen so die Märkte noch enger. Der härter werdende Konkurrenzkampf um diese Märkte erhöht den Druck auf die Unternehmen, zu rationalisieren. Das heißt Massenentlassungen und der Kreislauf beginnt auf höherem Niveau von vorne.
Die Krise der Wirtschaft wird dabei zu einer Krise der Staatsfinanzen. Und diese stellt sich zunehmend als Krise des Parlamentarismus dar. Nicht zuletzt in Deutschland, dem ehemaligen Stabilitätsanker Europas.
Die neue Kapitalismuskritik und der Linksruck in den Ideen vieler Millionen Menschen in Europa sind folglich Produkt der Krise, die das System ganz allgemein immer instabiler macht. Der Linksruck ist dort besonders spürbar, nachhaltig und einflußreich, wo er (wie in Frankreich) den Boden der Ideen übertreten und sich in realen Arbeitskämpfen ausgedrückt hat.
Deutschland
Deutschland ist dabei in einem Zwischenstadium: Die ideologische Krise der Marktwirtschaft ist noch in der Anfangsphase und eher unterentwickelt. Die Jahrzehnte der Sozialpartnerschaft wirken nach, der Modernisiererflügel der Arbeiterbewegung (Von Schulte bis Schröder) verhindert außerdem den offenen Ausbruch der ideologischen Systemkrise.
Andererseits gab es in Deutschland in den letzten Jahren erheblich mehr Kämpfe, als in vielen anderen Ländern. Seit dem großen ÖTV-Streik 1992 gab es alleine in der Metallindustrie drei große Streikkämpfe (Bayern, Ostdeutschland, Lohnfortzahlung).
Der Aufschwung der Klassenkämpfe hat auch in Deutschland eine Stärkung linker, kämpferischer Ideen in der Arbeiterklasse gebracht. Eine kleine, aber nennenswerte Minderheit hat in diesen Jahren von Lohnraub und Widerstand eine sehr klare Perspektive des entschlossenen Widerstandes entwickelt.
Diese Minderheit ist, egal wie klein, von enormer Bedeutung für die zukünftige Entwicklung. Die große Masse der Menschen hat diese klare Perspektive nämlich noch nicht, aber Ansätze in dieser Richtung. Sie sind zwischen Ängsten und Frust einerseits und Kampfbereitschaft und Empörung andererseits hin- und hergerissen.
Für jeden Kampf ist aber die Voraussetzung: Die Mehrheit im Betrieb muß für die kollektive Aktion gewonnen werden. Dafür, daß das passiert, gibt es aber keine Garantie.
Wie der Marxist Tony Cliff erklärt: „Irgendwann wird es zwischen den Ideen und den realen Kämpfen eine Angleichung nach oben oder nach unten geben. Entweder die sozialen Kämpfe werden den Grad des Bewußtseins erreichen oder das Bewußtsein wird sich an den Stand der Kämpfe anpassen.“
Mit anderen Worten: Die Aufgabe der entschlossenen Minderheit besteht nicht darin, alleine loszuschlagen, sondern darin, die Mehrheit in Theorie und Praxis für eine Kampfperspektive zu gewinnen.
Daß dieser Prozeß nicht zwangsläufig ist, sondern vom aktiven Eingreifen der kämpferischen Minderheit abhängt, ist wichtig, zu verstehen.
Gerade Frankreich wird in dieser Hinsicht vom Hoffnungsschimmer zum Menetekel. Während Millionen Wähler nach links rückten, gelang es Le Pens Nazi-Partei, ihre Unterstützung auf sehr hohem Niveau zu stabilisieren. Bei den großen Schwierigkeiten, die auf die Jospin-Regierung zukommen, ist die Nationale Front der drohende Felsen in einem Meer politischer Instabilität.
Der Aufstieg der Front National sowie die verstärkten Nazi-Aktivitäten der letzten Monate in Deutschland ergänzen die Einschätzung der allgemeinen Polarisierung um einen entscheidenden Faktor: – Zeit!
Im Moment schlägt die ideologische Krise mehrheitlich nach links aus, wenngleich am rechten Rand Nazis versuchen, ihre Reihen zu stärken. Aber wie die 30er Jahre gerade der deutschen Arbeiterbewegung mit aller, blutiger Konsequenz vor Augen geführt haben: Potential für linke Kräfte reicht nicht aus.
Gelingt es nicht, aus diesem Potential heraus starke Organisationen mit entschlossener Politik zu schaffen, wird die faschistische Rechte nachholen, was die sozialistische Linke verpaßt. Darum ist der Faktor Zeit der alles entscheidende.
Isolation tödlich
Die Siege der parlamentarischen Linken in England und Frankreich sind nur die Ouvertüre zu einem Aufschwung der Linken in Betrieben, an Unis und in der Jugend, wo eine neue, von der Vergangenheit unbelastete Generation in den Kampf eintritt.
Die große Gefahr ist, daß sich Sozialisten vom Strom nach links selbst abschneiden. Das klingt paradox, ist aber bereits heute zu beobachten. Denn ein Mehr an Debatte über linke Ideen bedeutet automatisch, daß Sozialisten gegen eine Vielzahl populärer Ideen ankämpfen müssen, die zwar tendenziell links, aber keinesfalls revolutionär sind. Obwohl die Offenheit für linke Ideen zunimmt, erfordert es mehr Überzeugungsarbeit, die revolutionäre Perspektive erfolgreich zu vertreten.
Der britische Sozialist Chris Harman beschreibt in seinem Aufsatz „Mit dem Strom“ die Gefahren für die Linke, in einer Situation, wo sich zwar Millionen Menschen nach links bewegen, aber eben noch nicht zu revolutionären Positionen gekommen sind.
„Diese (revolutionären) Gruppen reagieren wie ein Kind, dem man den Ball weggenommen hat. Anstatt die Arme auszustrecken, um mit denen zu kämpfen und solidarisch zu diskutieren, die sich gerade radikalisiert haben, wenden sich diese Gruppen nach innen und betonen mit aller Entschiedenheit, wo sie anderer Meinung sind.“
Dieses Unvermögen, der neuen Offenheit mit einer Öffnung der Organisation zu begegnen, endet meist darin, sich nach dem Motto „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!“ selbst zum Maßstab der politischen Entwicklung zu machen.
Man muß aber nicht in diese Extreme des Sektierertums verfallen, um sich von der Linksentwicklung vieler Menschen abzukoppeln. Langsamkeit und Passivität reichen oft schon aus.
Denn die beginnende Radikalisierung findet auf der Basis einer immer schnelleren, oftmals hektischen Entwicklung der Gesellschaft statt. Nur wenige Monate haben ausgereicht, um Deutschland über die Stationen Sparpaket – Lohnfortzahlung – Kumpelaufstand auf die Bühne des internationalen Klassenkampfes zurückzukatapultieren.
Die Gefahr, daß Revolutionäre sich in aller Gemütlichkeit mit ihren eigenen Problemchen beschäftigen, während die gesellschaftliche Entwicklung sie links überholt, ist akkut.
Chris Harman erklärt, was darum nötig ist:
„Die Radikalisierung in Europa (…) wird mittelfristig zu einer ähnlichen Polarisierung wie Ende der 60er führen. Sie kann auch dazu führen, daß wirklich revolutionäre Ideen ihr größtes Publikum seit Mitte der 70er Jahre finden – aber nur, wenn Revolutionäre schnell lernen, wie sie sich voll und ganz in die neuen Bewegungen und ihre Debatten werfen, anstatt von außen über ihre Schwächen zu lästern.“
von Florian Kirner