Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 wurde der US-amerikanische Politikwissenschaftler Fukuyama berühmt, als er „das Ende der Geschichte“ verkündete: Es gäbe keine Alternative mehr zum marktwirtschaftlichen Modell des Westens. Der damalige Arbeitsminister Blüm meinte: "Marx ist tot, Jesus lebt."
Viele glaubten das und die Unternehmer waren begeistert. Post, Wasser, Strom, soziale Einrichtungen: Alle staatlichen Einrichtungen stehen seitdem zum Verkauf. Doch diese Politik des „Neoliberalismus“ hat Fukuyamas These nicht bestätigt. Revolutionen gibt es häufiger als zuvor.
Argentinien
Jüngstes Beispiel dafür ist Argentinien. Präsident de la Rua hatte am 19. Dezember eine Ausgangssperre verhängt, um eine wachsende politische Krise zu bekämpfen. Doch am Abend beteiligten sich im ganzen Land eine Million Menschen an einem Aufstand gegen die Ausgangssperre.
Die Polizei tötete 43 Menschen, konnte die Proteste aber nicht aufhalten. De la Rua musste fliehen. Seitdem wurden drei weitere Präsidenten gestürzt. Wie in der DDR 1989 fiel das Regime durch eine spontane Bewegung von unten, die sich immer weiter ausdehnte und einen steten Druck auf die verschiedenen Regierungen ausübte. Die Bevölkerung befindet sich in einem Zustand der permanenten politischen Debatte, in der alles Bestehende hinterfragt wird. Die Bewegung hat Volksversammlungen in allen wichtigen Städten hervorgebracht, wo politische und soziale Forderungen gestellt und zu deren Durchsetzung weitere Aktionen organisiert werden.
Argentinien ist kein Dritte Welt-Land. Es ist ein hochentwickelter Industriestaat der vor dem Hintergrund einer katastrophalen wirtschaftlichen Krise möglicherweise vor einer Revolution steht.
Dabei stieg das Land in den 90er Jahren zunächst zum neoliberalen Musterstaat auf. Ausländisches Kapital floss ins Land, als die Regierung das Gesundheits- und Rentensystem privatisierte, Steuern und Zölle radikal senkte, den öffentlichen Dienst erst ausbluten ließ und dann privatisierte. Die Börse boomte. Es kam zu einem Aufschwung, der nach dem Niedergang der 80er Jahre wie eine dauerhafte Besserung aussah.
Mit der Asienkrise 1997 war die Wirtschaft auch in Südamerika am Ende. So schnell wie die Investoren einst kamen, flohen sie wieder. Die US-Dollar-Bindung des argentinischen Peso trieb die Zinsen hoch und verschärfte die Zahlungsprobleme der Regierung.
Ein sozialer Angriff folgte nun dem Nächsten: Arbeiter und Armen sollten für die Krise bezahlen. Auf dem Land werden die Staatsangestellten statt mit Geld mit "Lebensmittel-Kupons“ bezahlt. Im ersten Halbjahr 2001 sank der Umsatz in den Einkaufszentren um 20 Prozent. Dann begannen Arbeitslose die Supermärkte zu stürmen. Schließlich durften monatlich nur noch 1.000 Euro von den Sparkonten abgehoben werden, was die Arbeiter wie die Mittelschichten um ihre Reserven brachte. Dadurch kam es zum Aufstand.
Spaltung
Nicht jede wirtschaftliche Krise führt automatisch zur Revolution. Es reicht nicht aus, dass die Ausgebeuteten ihre Situation unerträglich finden. Auch die herrschende Klasse muss sich uneins über ihren Weg sein.
In Argentinien schwanken die Regierungen seit Dezember zwischen verbalen Zugeständnissen an Teile der Bevölkerung und Unterdrückung. Ebenso unsicher ist die herrschende Klasse, welche wirtschaftliche Strategie verfolgen soll. Sie schwankt zwischen weiterer Geldentwertung und erneuter Bindung an den US-Dollar, um den IWF zu besänftigen. Alle Möglichkeiten erscheinen gleich schlecht.
In dieser Situation der Lähmung kann sich die Revolte von unten weiter entwickeln. Doch dies heißt nicht, dass sich die Bevölkerung klarer ist, über den Weg voran. Wie in jeder revolutionären Erschütterung radikalisiert sich eine Minderheit der bereits zuvor Aktiven und kommt zu der Auffassung, dass einzig revolutionäre Maßnahmen einen Ausweg aus der Krise bieten. Die große Mehrheit aber, die das erste Mal für ihre Interessen auf die Straße geht, hält das Verhandeln mit den bekannten Politikern für realistischer.
Selbst die arbeitslosen piqueteros, die Autobahnen besetzt haben, kamen deshalb nicht automatisch zu revolutionärem Bewusstsein. Viele ihrer Aktionen wurden letztes Jahr beendet, nachdem die Verhandlungsführer sich auf dünne Versprechungen zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch die Bezirksgouverneure einließen.
Doch die Zeit drängt, denn diese instabile Phase kann nicht ewig existieren. Jede revolutionäre Erschütterung kommt zu einem Punkt, an dem die herrschende Klasse die Initiative zurückgewinnt, wenn sich in der Massenbewegung kein handlungsfähiger Pol gebildet hat, der die Revolte zu einer sozialen Revolution vorantreibt.
Die Kraft um die Bewegung zu zentralisieren und die Macht von Staat und Kapital zu brechen, liegt in der organisierten Arbeiterbewegung. Trotz der Krise gibt es allein im Großraum Buenos Aires 1,6 Millionen Beschäftigte. Volksversammlungen in den Betrieben würden über viel mehr soziale Macht verfügen und könnten der Bewegung die Kraft geben, um die begonnene Revolution zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.