„Auf 0,3% bis 0,5% hat der Präsident des Sparkassenverbands Horst Köhler die möglichen Wachstumseinbußen für Deutschland taxiert. Behält Köhler mit seiner zurückhaltenden Vermutung recht, wird die Wirtschaft 1998 nicht stärker zulegen als in diesem Jahr. Selbst die eher pessimistische Prognose, die die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute am Dienstag vorlegten, wäre das Papier nicht mehr wert, auf das sie geschrieben wurde: Nicht einmal eine Stabilisierung des Arbeitsmarktes wäre im Wahljahr 1998 zu erreichen, wenn die deutschen Exportchancen im Sog einer internationalen Abwärtsbewegung kippten. Sicher ist zur Zeit kaum etwas, nicht nur die Börse ist unberechenbar.“
Unberechenbarkeit ist hier das Stichwort. Die weltberühmte Berechenbarkeit des „deutschen Modells“ gehört endgültig der Vergangenheit an. Der langfristige Zerfall der deutschen Wirtschaft hat einen Punkt erreicht, an dem auch die bürgerlichen Kommentatoren einen Hauch von Panik in ihren Prognosen über die Zukunft nicht verstecken können.
Und das trotz der leichten „Erholung“ der Wachstumsrate in den letzten Monaten dieses Jahres, die vielen Großunternehmen steigende Profite gebracht hat.
Diese Erholung hat aber überhaupt keine Wirkung auf die Probleme der deutschen Wirtschaft – die Haushaltslöcher wachsen, die Arbeitslosigkeit auch. Die Profitraten bleiben weit unter dem Niveau der 60er und 70er Jahre. Dem Rausch des Wiedervereinigungsbooms von 1989 ist jetzt der Riesenkater gefolgt.
Die deutschen Arbeitgeber wollen eine Radikalkur. Der Zustand der Wirtschaft, der Versuch, die Maastrichter Kriterien zu erfüllen und im internationalen Wettbewerb mit den USA und den Tigerstaaten zu bestehen, bringt sie unter massiven Zugzwang. Sie müssen, wie die Unternehmer in den USA und in Großbritannien, größere Angriffe gegen das bisherige Sozialsystem und die organisierte Arbeitnehmerschaft organisieren. Doch während in den USA und Großbritannien die Gewerkschaften in den 80″ern durch die ständigen Angriffe der Konservativen an den Rand der Zerschlagung gekommen sind, steht die deutsche Gewerkschaftsbewegung trotz Mitgliederschwund den Arbeitgebern weitgehend intakt gegenüber. Der als „Umbau“ getarnte weitgehende Abbau des Sozialstaats wird nur durch die massive Schwächung der Kampfbereitschaft der Arbeiterbewegung möglich sein. Doch die 90er Jahre haben gezeigt, daß diese Kampfbereitschaft nicht nur ungebrochen, sondern durch die Erfolge und Teilerfolge der letzten Jahre sogar stärker geworden ist. Als Deckel auf der Wut der Basis fungiert die Gewerkschaftsbürokratie, die die neoliberale Ideologie zu Teilen aufgenommen hat und sie in die Arbeiterschaft hineinträgt. Dazu kommt, das die Gewerkschaftsbürokratie Maßnahmen der Arbeitgeber, wie der Zerflederung des Flächentarifvertrages oder den Scheinselbständigkeitsverträgen wenig bis gar keinen Widerstand entgegensetzt und sich so trotz erfolgreicher Abwehr von zentralen Vorstößen die Situation vieler Arbeitnehmer auf Betriebsebene weiter verschlechtert. Dadurch steigt die Wut der Basis weiter und kann um so explosiver zum Ausdruck kommen, wenn der Deckel einmal verrutscht.
Kohl
Die Regierung ist gespalten und wirkt wie gelähmt: Ständig wird über den „Bonner Stillstand“ gehöhnt. Die Spaltung besteht zwischen jenen, die die Angriffe auf die Arbeiterklasse aus Angst vor „französischen Verhältnissen“ nicht so schnell durchsetzen wollen, und denen, die das Tempo der Angriffe aus Angst vor dem Nichtbestehen im internationalen Wettbewerbs möglichst kräftig beschleunigen wollen.
Der offene Streit in der Koalition, vor allem aber in der Union, erinnert an die Anfänge der Auseinandersetzungen unter den britischen Konservativen. Dort führten sie, verschärft durch soziale Gegenwehr, zu offener Spaltung und rapidem Untergang. Die nationale/chauvinistische Karte konnte in dieser Situation wieder an Attraktivität für die Konservativen gewinnen. Die Uneinigkeit der Regierung bietet Raum für das Anti-Kohl-Lager.
Ideologie
Der politische und ökonomische Stillstand hat zu einer Krise der herrschenden Ideologie geführt. Der Neoliberalismus, Herzstück der geistig-moralischen Wende von 1982, verliert seinen Glanz. Eine der zentralen Behauptungen der neoliberalen Wirtschaftslehre, die Formel das Lohnverzicht schafft Arbeitsplätze, wird jetzt von vielen als offensichtliche Lüge erkannt. Lange Jahre Reallohnverlust haben den Rekordanstieg der Arbeitslosigkeit nicht gestoppt. Die Ideologie der Unternehmer stimmt mit den eigenen Erfahrungen der Arbeiter nicht überein. Deshalb findet der Ruf von IG Metall-Chef Klaus Zwickel nach dem „Ende der Bescheidenheit“ so starken Widerhall bei der Gewerkschaftsbasis.
Neue Kritik am Kapitalismus macht sich in Teilen der Gesellschaft wieder breit. Selbst die Wirtschaftswoche mußte das anerkennen: „Kaum je hat ein Politologe gründlicher daneben gelegen als Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Osteuropa verkündete, daß der Kapitalismus nun „alle konkurrierenden Ideologien“ ein für allemal besiegt habe. Von wegen „Ende der Geschichte“! Der Sozialismus mag realpolitisch abgewirtschaftet haben, geistig-ideell ist er offenbar nicht totzukriegen.“
Die ideologische Krise in Europa hat zu einer Linksverschiebung in der Gesellschaft von intellektuellen Kreisen bis zur Betriebskantine geführt. Der Ruf nach Vollbeschäftigung, Bildung für Alle und Besteuerung der Reichen kehrt auf Proteste und Streiks zurück. Das neue Klima ermutigt Intellektuelle wie den Schriftsteller Günter Grass, die gesamten innen- und außenpolitischen Prioritäten der Kohlregierung in Frage zu stellen.
Linksschwenk
Der Niedergang der neo-liberalen Politik hinterläßt ein Vakuum. Dieses Vakuum wird aber unmittelbar von einer Vielzahl anderer Ideen gefüllt. Die stärkste Anziehungskraft haben dabei reformistische Ideen, wie sie sowohl in der Sozialdemokratie als auch in Bewegungen zu finden sind.
Der Großteil der Bewegungen der 90er Jahre in Deutschland hat eins gemeinsam: Es sind vor allem Bewegungen, die die Hoffnung auf echte soziale Veränderungen innerhalb dieses Systems zum Ausdruck bringen. Die Mehrheit der Menschen die sich nach links bewegen, sucht zuerst die „nächstliegende“ Alternative statt zu den radikalsten Antworten zu greifen. Sie gehen in den Kampf mit einem Wirrwarr von alten und neuen Ideen im Kopf. Und die Parteien, die am meisten dieses Wirrwarr, diese Konfusion in den Köpfen der Menschen widerspiegeln, sind die erste Station auf der Reise nach links. Das trifft im Besonderen auf die Sozialdemokratie zu.
Der inspirierendste Kampf in diesem Jahr, der Protest der Bergarbeiter in Bonn, ist dafür ein Beispiel. Der spontane Aufbruch, der im Frühjahr zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und dem bürgerlichen Gesetz führte, wurde schnell von SPD-Politikern wie Lafontaine vereinnahmt. Er lenkte den wilden Protest auf die traditionellen gewerkschaftlichen und parlamentarischen Bahnen zurück und stellte ihn damit ruhig. Er schickte die Arbeiter mit dem Versprechen heim, sich in den Verhandlungen mit der Regierung für ihre Interessen einzusetzen.
Spagat
Aber unproblematisch ist die Lage für die Sozialdemokratie nicht. Um die Bergarbeiter unter Kontrolle zu bringen, mußte Lafontaine erst sein parlamentarisches Terrain verlassen, die Steuerreformgespräche abbrechen, sich auf die Straße mit den aufständischen Bergarbeiter stellen, und sich mit ihren Forderungen solidarisieren.
Die Hoffnung ihrer Basis auf echte soziale Veränderung stellt hohen Ansprüche an die SPD-Spitze. Um die Wahlen im Herbst 1998 zu gewinnen, muß sie diese Hoffnung ansprechen. Der Druck von unten geht nach links und treibt die SPD zu hohen Versprechungen, ähnlich der Entwicklung in Frankreich.
Aber der Reformismus steht vor einem Dilemma: Während in den 60er Jahre ein sich ausbreitender Kapitalismus Raum für Zugeständnisse an die materiellen Forderungen der Arbeiter ließ, ist dieser Raum heute nicht mehr vorhanden. Um tatsächlich Veränderungen umzusetzen, müßte die SPD den Versuch, sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerinteressen zu vertreten, aufgeben. Sie müßte heute in den Ländern und morgen in Bonn die Reichen zur Kasse bitten. Das wäre aber nur möglich, wenn der Reformismus sein eigenes Wesen verneinte – wenn die Lösung nicht innerhalb, sondern außerhalb dieses Systems gesucht würde.
Man schaue sich den Unterschied zwischen der Reaktion auf die Studentenbewegung der 60er Jahre und der Reaktion auf die jetzige Studentenbewegung an. Obwohl damals die Forderung nach mehr Geld für die Bildung nicht die wesentliche Rolle gespielt hat, wurden in Folge und in den 70er Jahren große Geldmengen in die Bildung gesteckt – Willy Brandts SPD ist noch heute bekannt für ihre expansive Bildungspolitik. Die Reaktion des hessischen rot-grünen Finanzministers auf die aktuelle Zuspitzung an den Unis ist: Keine Bewilligung von höheren Etats für Bildung, auch wenn dies zu einer weiteren Radikalisierung der Studierenden führt.
Es gibt ein ewiges Hin und Her in der SPD-Führungsriege. Lafontaine schickt widersprüchliche Signale an seine Wählerbasis. Der Innovationskongreß der SPD wurde von links wie von rechts positiv interpretiert. Während die Süddeutsche Zeitung mit Lafontaines Bekenntnis zu Einschnitten ins soziale Netz titelte, betonte die Frankfurter Rundschau das Vorhaben einer SPD-Bundesregierung, eine Ausbildungsoffensive für Jugendliche zu initiieren.
Dieses Durcheinander Lafontaines führt zu einem „mühsamen Spagat“ (Handelsblatt) zwischen Unternehmer- und Arbeitnehmerpolitik. Dadurch gibt er dem Medienliebling Gerhard Schröder die Chance, sich doch als Kanzlerkandidat durchzusetzen.
Die Spannung zwischen der Hoffnung der Wählerbasis auf Veränderung und der in der kapitalistischen Zwangsjacke verhafteten sozialdemokratischen Führung – gleichgültig, ob es Lafontaine oder Schröder ist – bringt weitere Öffnung für sozialistische Ideen mit sich.
Wenn das nicht wahrgenommen wird, also nicht an die Hoffnungen angeknüpft und gezeigt wird, wie sich die Arbeiterbewegung gegen die Interessen der Kapitalisten durchsetzen kann, kann sich diese Öffnung wieder schließen. Dann werden ganz andere Kräfte, nämlich die der äußersten Rechten, ihre Gelegenheit nutzen. Die Hamburg-Wahl und das spektakuläre Ergebnis der DVU ist Warnung genug.
Debatten
Die Linksverschiebung in Deutschland hat verschiedene Schattierungen. Die Bewegung nach links bedeutet für viele einen Wechsel von der Wahl der CDU zur Unterstützung Schröders, nicht den Sturz des Systems. Aber links am Rand ist eine kritische Minderheit entstanden, die auch für die Diskussion über revolutionäre Ideen offen ist: Unter den Bergarbeitern in Bonn und den Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, die sich gegen die Lohnverzichtsideologie ihres Vorsitzenden Herbert Mai wehren; oder unter den Jugendlichen, die bei den Anti-Castor-Protesten und der Anti-Nazi-Demonstration in München teilnahmen und unter den Aktivisten in der neuen Studentenbewegung.
Diese Proteste finden inmitten der tiefsten ideologischen Krise der Herrschenden seit „68 statt. Deshalb werden Probleme aus anderen Bereichen der Gesellschaft angesprochen, wie z.B. der populäre Slogan der Studenten „Seminarleiter statt Eurofighter“ belegt. In diesem Kontext können alle möglichen Streitpunkte – ob der Nazi-Video Skandal in der Bundeswehr oder der Streit um Fußball-Fernsehrechte – zum Auslöser für weitere hitzige politische Debatten werden. Dies treibt den gesamten ideologischen Zersetzungsprozeß noch weiter.
Ideenkampf
Innerhalb der Proteste sind Milieus entstanden, die uns als revolutionären Sozialisten die Chance geben, aus der Isolation der letzten Jahrzehnte auszubrechen.
Das wird aber ohne einen ideologischen Kampf nicht möglich sein – revolutionäre Sozialisten werden um jeder Schritt ringen müssen. Wir werden einen harten Kampf führen müssen gegen eine jahrzehntelange Tradition des Reformismus. Die Arbeiter in Rußland 1917 machten eine atemberaubend schnelle Entwicklung. Im Februar 1917 unterstützte die Mehrheit die sozialdemokratischen Parteien (Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre). Sechs Monate später, kurz vor der Oktoberrevolution, standen sie hinter den revolutionären Zielen der Bolschewiki. In Rußland war aber der Reformismus jung und wenig verankert. Heute haben wir es mit einen Reformismus zu tun, der über 100 Jahre alt, und dadurch im Bewußtsein der Arbeiter viel etablierter ist. Es wird länger dauern als damals in Rußland, bis die Arbeiter dieses Jahrhundert Reformismus über Bord werfen.
Aber die sich zuspitzende Krise des Kapitalismus setzt den Reformismus massiv unter Druck, und die Möglichkeiten für Revolutionäre sind offensichtlich vorhanden. Wenn wir den ideologischen Kampf heute entschieden aufnehmen, können wir uns quantitativ und qualitativ in eine besseren Lage versetzen, wenn die Krise zu größeren Brüchen im reformistischen Lager führt.
Organisation
Die „68er Bewegung ist eine Inspiration für alle, die eine Umwälzung dieses Systems wollen. Letztendlich aber ist es zu dieser Umwälzung nicht gekommen. Es existierte kein ausreichend organisiertes und zentralisiertes Netzwerk von Aktivisten, die in der marxistischen Methode geschult waren, und Wurzeln in den Betrieben hatten. Das politische Vakuum wurde also nicht von den Revolutionären gefüllt, sondern von einem neuen Reformismus der das kapitalistische System in der Krise ab Mitte der 70″er Jahre stützte.
Heute ist ein neuer Diskussionsprozess unter neuen Schichten von radikalisierten Jugendlichen im Gange. Viele sind begeistert vom „68“er Aufbruch. Aber alle möglichen Ideen schwirren gleichzeitig in den Köpfen – von Parlamentarismus bis zu eine Begeisterung für Che Guevaras revolutionären Volontarismus.
Wir stehen am Anfang eines neuen Aufbruchs. Laßt uns „68 als unsere Generalprobe betrachten. Auf Generalproben begeht man Fehler, aus denen man Lehren für die echte Aufführung zieht. Die Lehre muß sein: Die Desorientierung und Demoralisierung nach den Niedergang der „68“er Linken, die die Stabilisierung des kapitalistischen Systems erlaubte, endlich zu überwinden. Dieses Mal muß es schon während der Anfänge eines neuen Aufbruchs gelingen, der größer sein könnte als „68, uns selber zu positionieren. Das heißt aus der kritischen Minderheit heute Aktivisten für den Aufbau einen revolutionären sozialistischen Arbeiterorganisation zu gewinnen. Dafür müssen wir alle die Lähmung, die den Großteil der organisierten Linken in den letzten Jahre prägte, bekämpfen und uns in den Kampf für einen massiven Ausbau der revolutionäre Tradition in Deutschland hineinwerfen.
von Ahmed Shah