Keine Erscheinung der Klassengesellschaft ist unnatürlich genug, als daß sie nicht von irgendwelchen Forschern zur Natur des Menschen erklärt werden würde. Nach der Verkündung der "Entdeckung" der Gene für Kriminalität, kapitalistische Gier und Drogensucht verbreitete der Spiegel nun die neuesten "Erkenntnisse" der Soziobiologen Thornhill und Palmer: Auch Vergewaltiger gehorchten lediglich einem "natürlichen biologischen Programm" zur Verbreitung der eigenen Gene, das allen Männern innewohne.
Nach Schätzungen des Familienministeriums wurde jede siebte Frau bereits einmal vergewaltigt oder Opfer sexueller Nötigung. Anstatt diese hohe Zahl zum Anlaß für eine aufrüttelnde Reportage über Gewalt gegen Frauen zu nehmen, sieht der Spiegel darin einen Beleg, daß nicht alle Täter "abnorme Psychopathen sein können." Mit Thornhill / Palmer wird Vergewaltigung als Resultat eines der Evolution entstammenden männlichen Triebes zur Fortpflanzung erklärt.
Die Hohlheit der Argumentation zeigt sich bereits an einigen simplen Fakten. Nur die wenigsten Frauen werden nach sexuellen Übergriffen schwanger. Im Gegenteil belegen Studien, daß Vergewaltiger in hohem Maße an sexuellen Fehlfunktionen wie Erektionsproblemen, verfrühter oder ausbleibender Ejakulation leiden. Der Insektenforscher Thornhill trägt seine Argumente aus Beispielen im Tierreich zusammen. So breche die männliche Skorpionsfliege den Widerstand des Weibchens mittels kleiner Klemmen. Doch aus dem Tierreich lassen sich Argumente für alle möglichen Theorien zusammenklauben. So verspeisen Gottesanbeterinnen nach der Begattung das Männchen, ohne daß Thornhill dies als Beleg für einen evolutionär bedingten weiblichen Sadismus ansehen würde.
Eine simple Übertragung von Verhaltensweisen auf den Menschen verbietet sich, da das menschliche Verhalten anders als das tierische nicht Ausdruck unserer Instinkte, sondern gesellschaftlich erworben ist. Vergewaltigung ist der extreme Ausdruck einer Gesellschaft, in der die Frau unterdrückt wird.
Wäre das Geschlechterverhältnis angeboren, dann würde es sich über die Jahrhunderte nicht wandeln. Die Geschichte zeigt das Gegenteil. Das Überleben des Menschen war von Beginn abhängig von gegenseitiger Kooperation, die keine Grundlage bot für eine gewalttätige Hierarchie untereinander. In den Jäger- und Sammlergesellschaften teilten Frauen und Männer sich die Arbeit auf, ohne daß es damit zu einer Unterordnung der Frau kam. Erst, als mit der Entwicklung der Landwirtschaft und Lagerhaltung angehäufter Reichtum entstand, wurden Krieg und Gewalt ein systematischer Ausdruck zwischen den entstehenden Stadtstaaten. In diesem Moment wurde auch die Gebärfähigkeit der Frau zu einem Hindernis in einer zunehmend ungleichen Gesellschaft.
So ging etwa die Staatenbildung der Sumerer im Mittleren Osten mit harschen Gesetzen gegen Frauen einher. Im ersten bekannten Gesetzbuch der menschlichen Geschichte wurde das Eigentum der herrschenden Klasse unter Schutz gestellt, und zugleich Ehebruch der Frau mit dem Tode bestraft. Die Gesetze erzählen von dem Widerstand der Frau gegen ihre Unterordnung. Wäre diese angeboren, dann wären Strafen kaum notwendig gewesen.
Peggy Sanday hat 150 verschiedene Gesellschaften von der Frühzeit bis heute untersucht und kam zu dem Ergebnis, daß in lediglich 28 % der Fälle Frauen von jeglicher Machtposition ausgeschlossen waren. Die Vielfältigkeit der vorgefundenen Verhältnisse in der Geschichte ist allein Beweis dafür, daß die Geschlechterrollen nicht von der menschlichen Biologie abzuleiten sind.
So wie das Verhältnis von Mann und Frau sich im Laufe der Geschichte stets gewandelt hat, so haben sich auch Erscheinungen wie Vergewaltigung stets mit den Gesellschaften verändert, in denen sie entstanden ist. Doch wie in früheren Zeiten die Hofideologen die königliche Herrschaft als "gottgegeben" rechtfertigten, so erklären heute die Soziobiologen alle Erscheinungen des Kapitalismus für "naturgegeben". Die Behauptung, Vergewaltigung läge in den Genen des Mannes, ist daher nichts als Ideologie im Sinne der herrschenden Klasse. Wenn alle Übel in der Gesellschaft angeboren sind, dann ist jede Veränderung "zwecklos".
Tatsächlich hat Vergewaltigung weder etwas mit Sex, noch mit Fortpflanzung zu tun, dafür sehr viel mit der Gewalt in der bestehenden Gesellschaft. Wie alles andere im Kapitalismus ist auch Sex zu einer Ware geworden, die den Menschen wie etwas fremdes gegenübertritt. Erfolgreich ist, wer häufig Sex hat. Doch dieser Leistungsdruck widerspricht den Zwängen und der Ohnmacht, in die der Kapitalismus den Menschen hineinpreßt. Vergewaltigung im Kapitalismus drückt den Versuch aus, Sex zu "stehlen".
Wenn Vergewaltigung eine biologisch vorherbestimmte Fortpflanzungsstrategie ist, dann müßten Vergewaltiger demnach "erfolgreiche" Männer sein. Sie sind es nicht. Nur eine verschwindend geringe Zahl an Männern sinkt so tief ab. Es sind jene, die jede Kontrolle über ihr Beziehungsleben verloren haben, und die dieses durch Gewalt gegen Schwächere kompensieren. Individuelle Gewalt gegen Schwächere wird nicht zufällig als ein ganz erbärmlicher Akt angesehen. Deshalb findet Vergewaltigung auch stets im verborgenen statt. Denn Vergewaltigung ist die erbärmlichste und erniedrigendste Form von Gewalt, die ein Mann einer Frau antun kann. Sie ist Ausdruck einer unmenschlichen Gesellschaft und wird auch nur mit ihr verschwinden.