Freiheit und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen

Hans-Jochen Tschiche war in der DDR-Opposition aktiv. Linksruck sprach mit ihm über die Montagsdemos damals und heute.


Hans-Jochen Tschiche war 1989 Mitbegründer der DDR-Oppositionsgruppe Neues Forum und von 1990 bis 98 Fraktionsvorsitzender der Grünen im sachsen-anhaltinischen Landtag. 1994 übernahm er in der rot-grünen Minderheitsregierung eine Moderatorenrolle in Gesprächen mit der PDS. Der 74-jährige widmet sich seit dem Ausscheiden der Grünen aus dem Landtag vor sechs Jahren der politischen Bildung und dem Kampf gegen Rechtsextremismus. Tschiche ist Vorsitzender des Vereins „Miteinander e.V. – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt“.

Herr Tschiche, 1989 haben Sie Montagsdemos mit organisiert. Welche Ziele hatte die Bewegung?
Es ging vor allem um die Demokratisierung der Gesellschaft. Wir wollten, dass die Freiheitsrechte verwirklicht werden.
Im Oktober 89 dachte noch niemand an die Einheit. Viele meinten, wenn sie an der Nachkriegsordnung rütteln, provozieren sie einen Krieg.

Wann kam die Frage der Wiedervereinigung auf?
Nachdem die SED im November 1989 die Grenzen aufgemacht hatte, gab es die ersten Auseinandersetzungen zwischen Vertretern und Gegnern der Einheit. Danach hieß es bald nicht mehr: „Wir sind das Volk“, sondern „Wir sind ein Volk“.

Manche Linke sahen darin eine nationalistische Bewegung.
Das glaube ich nicht. Wir wussten einfach nicht, dass der Traum vom westlichen Reichtum in so vielen Leuten schlummerte.

Die sozialen Hoffnungen spielten die Hauptrolle?
Die CDU hat blühende Landschaften durch die Einheit versprochen. Viele haben das gerne gehört und geglaubt. Über die bevorstehende Deindustrialisierung hat man uns nicht informiert.
Nach ein, zwei Jahren kamen dann Massenarbeitslosigkeit und Enttäuschung. Die nächsten Jahre haben die Menschen mit einer unglaublichen Geduld über sich ergehen lassen.
Hartz IV war offenbar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Kanzler Schröder behauptet, der Grund für die Arbeitslosigkeit im Osten sei, dass die DDR-Betriebe nach der Wende keine Chance auf dem Markt hatten.
Wir haben nicht nur im Osten Arbeitslosigkeit. Der Osten ist dazugekommen, als die wirtschaftliche Krise der westlichen Welt für alle sichtbar wurde. In Deutschland stieg die Produktion danach erstmal für eine gewisse Zeit, aber damit ist es jetzt vorbei.

Wirtschaftsminister Clement meint, es sei eine Beleidigung für die damalige Bewegung, die Proteste gegen Hartz IV „Montagsdemos“ zu nennen. Einige frühere Bürgerrechtler sehen das ähnlich.
Ich brauche mir nicht von Herrn Clement meine Geschichte erklären zu lassen. Natürlich ist die Bewegung heute nicht die gleiche wie damals.
Damals ging es um Freiheitsrechte. Heute geht es um soziale Rechte. Freiheitsrechte und soziale Rechte gehören aber zusammen.
Was Clement macht ist unklug: Er beschimpft die Leute. Das verstärkt nur die Entfremdung.

An früher erinnert mich auch mein Gefühl, dass „die da oben“ nicht mehr mitkriegen, was los ist.
Die Leute haben das Gefühl, auf sie wird nicht gehört. Sie stellen sich die Welt und die politischen Möglichkeiten ganz anders vor. Viele haben das Gefühl, dass „die da oben“ mit ihnen machen können, was sie wollen.
Die Politik erweist sich gegenüber der Situation hilflos. Sie erweckt den Eindruck, nur die Interessen der Wirtschaft zu erfüllen und behauptet, die Gewerkschaften seien von vorgestern.

1989 sahen viele die soziale Marktwirtschaft als besseres System. Über welche Alternativen können wir heute reden?
Ich denke, die Zeit der sozialistischen Idee ist noch nicht vorbei. Die Linke hat selber dafür gesorgt, dass das Wort Sozialismus vielen Leuten stinkt. Aber die Forderung der sozialen Gerechtigkeit steht noch aus.

Ähnlich wie 89 fühlt sich ein großer Teil der Bevölkerung im etablierten Parteiensystem kaum wieder. Wie können wir darauf reagieren?
Ich denke, links von der SPD ist noch Platz. Wir brauchen eine linke Partei. Das gibt es in allen europäischen Ländern, das brauchen wir auch in Deutschland.

Gibt es eine Erfahrung von 1989, von der wir heute lernen können?
Die Leute rufen: „Keine Gewalt“. Das halte ich für ganz wichtig. Aber sie rufen auch: „Wir wollen die Nazis nicht in unserer Mitte haben“. Das ist interessant, das rufen nämlich ganz normale Leute, nicht nur Antifaschisten.Notiert von Olaf Klenke

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.