Leninismus im 21.Jahrhundert

Chris Bambery betrachtet die Ideen des russischen Revolutionärs Lenin und zeigt deren Notwendigkeit für die neue Generation von Aktivisten und Sozialisten auf.Mit einer liebevoll verfaßten Biographie, die schnell die Bestsellerlisten stürmte, konnte Karl Marx seine Popularität erneut beleben. Es ist kaum vorstellbar, daß Lenin das gleiche Schicksal teilen wird. Im Gegenteil: In einer scheinbar endlosen Flut von Werken wird das Portrait eines Psychopaten gezeichnet, der im Oktober 1917 allein deshalb einen Putsch übersehen hatte, weil er einen autoritären ein-Parteien-Staat gründen wollte, in dem er selbst die Herschaft übernehmen könnte. Diesem Portrait entsprechend führte Lenin geradewegs zu Stalins Diktatur. Dieses Bild ist keineswegs nur eine Parodie auf die orthodoxe wissenschaftliche Lehrmeinung, sondern zitiert gleichsam wortgetreu, was auf unseren Schulen und Universitäten gelehrt wird.

Verstärkt wird diese Sichtweise noch von einer ganzen Generation der Linken, die während des Aufbegehrens der Arbeiterklasse in den frühen 1970ern versucht hatte, Organisationen auf der leninistischen Linie aufzubauen. Nach dem Zerfall und Niedergang dieses Kampfes begruben sie Lenin auf der Müllhalde der Geschichte. Jene, die sich noch zur Linken zählten, argumentierten jetzt zumeist, die Richtung Lenins und der Bolschewiki würde das befreiende Herz des Sozialismus ersticken. Darüber hinaus betrachteten sie den Gedanken des Aufstands und der Revolution für den Spätkapitalismus als ebenso veraltet wie die Sicht der Arbeiterklasse als Kräfte des sozialen Wandels.

Der Lenin, der hier so angegriffen wird, trägt so wenig die Züge des echten, historischen Lenin, wie seine Wachsfigur, die Moskau noch immer auf dem roten Platz ausstellt. Es ist hier sicher nicht der richtige Ort, um die Geschichte der russischen Revolution zu erzählen. Aber man frage sich selbst: warum sollte gerade die militanteste Arbeiterklasse der Welt, mit ihrem starken Cocktail revolutionärer Ideen, die bereits zwei Revolutionen (1905 und Februar 1917) errungen hatte, einer handvoll Leuten erlauben, hinter ihrem Rücken die Macht an sich zu reißen?

Marx‘ Schlüsselidee, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein könne, blieb für Lenin zeitlebens grundlegend. Er wurde von der revolutionsreichen Tradition Rußlands geformt. Sein Bruder wurde für einen Attentatsversuch auf den Zaren hingerichtet. Doch während sein Bruder und die Tradition der Narodniki, zu denen dieser sich zählte, im Terrorismus und Bauernkommunen die Mittel der Veränderung erblickten, wurde Lenin von einem jungen Mann für marxistische Ideen gewonnen, die gegen Ende der Jahrhundertwende in der russischen Gesellschaft starken Widerhall fanden.

Lenin führte seine tiefe Kenntnis der Schriften Marx‘ zu der Erkenntnis, daß die gesellschaftlichen Kräfte die Möglichkeit zum Sturz des zaristischen Regimes boten. Das war der entscheidende Unterschied zur Interpretation Plekhanows, dem Begründer des russischen Marxismus, der Rußland ausgehend von der Entwicklung seiner Produktivkräfte her beurteilte. Mechanisch zog er den Schluß, daß das Land zu unterentwickelt sei, um den Sozialismus erreichen zu können. Zuvor wäre demnach eine kapitalistische oder burgeoise Revolution vonnöten, um mit der daraus hervorgehenden kapitalistischen Herrschaft die Vorbedingung des Sozialismus zu erfüllen.

Im Gegensatz dazu argumentierte Lenin, die russischen Kapitalisten seien zu schwach und vom Regime des Zaren wie dem ausländischen Kapital zu abhängig, um überhaupt jemals eine Revolution anzuführen. Stattdessen wandte Lenin seinen Blick auf die russische Arbeiterklasse. War sie auch nur eine verschwindende Minderheit im Vergleich zu den Bauern, so war sie doch die einzige Klasse mit dem Interesse, dem Zusammenhalt und der Macht, um die revolutionäre Führungsrolle anzunehmen. Daher widmete Lenin sich der Aufgabe, die politische und organisatorische Befreiung der Arbeiterklasse zu erreichen. Dabei prallte er auf den Widerstand anderer Teile der Linken, die es darauf anlegten, Bündnisse mit der Bourgeoisie schließen.

Wer lehrt den Lehrer?

Das Verhältnis zur Arbeiterklasse war nicht einseitig ausgerichtet. Zwar muß der Marxismus zuerst die Arbeiterklasse zum Bewußtsein ihrer Stärke und zum Vertrauen in ihre Kraft zur Führungsrolle innerhalb der Gesellschaft bringen; hat sie aber einmal Selbstbewußtsein erlangt, so muß der Marxist von der Arbeiterklasse lernen. So war es 1905, als die Arbeiter spontan Sowjets errichteten (Komitees gewählter Volks- und Fabrikdelegierter), denen Lenin und die Bolschewisten anfänglich ablehnend gegenüberstanden. Ihr Modell einer Revolution war noch immer von dem Eindruck der bis dato größten, der französischen Revolution von 1789, geprägt. Sehr rasch aber begriff Lenin aus der Kampferfahrung, daß er seinen Standpunkt ändern und zur Errichtung von Sowjets im ganzen Land aufrufen mußte.

Gerade die zentrale Rolle der Arbeiterklasse als Kraft gesellschaftlicher Veränderung war der Hintergrund aller Worte und Aktionen Lenins im Verlauf des Revolutionsjahres 1917. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Bolschewiki sich ein Argument Plekhanows zu eigen gemacht: daß es in einer russischen Revolution nicht darum gehen könne, die Fesseln des Kapitalismus zu sprengen. Das hätte bedeutet, daß sie – wie ihre menschewikischen und sozialrevolutionären Rivalen – ihre Interessen und Arbeiterorganisationen der neuen provisorischen bürgerlichen Regierung hätten unterordnen müssen. Die Alternative für die Bolschewiki war, das Proletariat und die Bauern gegen diese Regierung zu mobilisieren. Von seiner ersten Rückkehr nach Rußland an plädierte Lenin für letztere Lösung. Die Dynamik des Klassenkampfes in den Fabriken von Petrograd war Lenin wichtiger als irgendein abstraktes Dogma. Er ging unter die Fabrikarbeiter von Petrograd, den militantesten Teil der russischen Arbeiterklasse und bolschewistischen Partei, um den Umschwung der Führungsspitze zu erreichen.

Die Herrschaft der Arbeiterklasse

Während der Zeit, als er sich im Spätsommer und Herbst 1917 versteckt halten mußte, skizzierte Lenin das Bild seiner Vision einer Arbeiterrepublik in „Staat und Revolution“. Weit entfernt vom Abbild eines Ein-Parteien-Staates, wurde dieses Buch von vielen als zu anarchistisch und libertär abgelehnt. Es ist bis heute die beste und klarste Stellungnahme der marxistischen Staatstheorie geblieben. Alle Staaten, so Lenin auf den Spuren von Marx und Engels, sind Zwangsinstitutionen, „besondere bewaffnete Körperschaften“, der Staat monopolisiert das Gewaltmonopol der Gesellschaft. Die Herrschaft der Arbeiterklasse würde zum ersten mal in der Geschichte der Menschheit einen Zustand herstellen, in dem die herrschende Klasse die Mehrheit der Bevölkerung ist – die bisher ausgebeutete Arbeiterklasse.

Der neue Arbeiterstaat würde das Ergebnis der handelnden Arbeiterklasse sein. Er wäre der direkten Kontrolle der Arbeiterklasse unterstellt und dadurch ein Schutz vor jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung. Die Sowjets würden, wie Lenin schnell verstand, die ideale Form der Machtausübung der Arbeiterklasse darstellen. Aber selbst dieser hochdemokratische Staat sollte nur als Übergangsform zur Abschaffung jeglichen Zwangsapparates existieren. Das Verschwinden des Staates und der Klassengesellschaft ist die höchste Form des Kommunismus.

Die Sowjets waren das Mittel, daß die russische Arbeiterklasse im Oktober 1917 zur Macht führte. Die Bolschewiki mußten dort den Streit der Ideen gewinnen bevor revolutionäre Politik gegen den Reformismus die Oberhand erlangen konnte. Lenins Blick auf die zentrale Rolle der Arbeiterklasse bedeutete für ihn, daß sie ihn für den Rest seines Lebens einnahm. Unglücklicherweise führten der Bürgerkrieg, die Wirtschaftsblockade, die Hungersnot und der Zerfall des russischen Proletariats bei der Arbeiterklasse zur Lähmung der Aktivität. Bolschewismus ohne die Arbeiterklasse wäre wie Hamlet ohne den Prinzen. Die Kraft der revolutionären Veränderung war erloschen. Die Bolschewiki übten ihre Macht größtenteils nur noch im Namen der Arbeiterklasse aus. Lenin war der erste innerhalb der bolschewistischen Führung, der die Bedeutung dieser Tatsache erkannte. Schon im Winter 1920/21 beklagte er die „bürokratische Deformation“ ihres Arbeiterstaates. Er bestand darauf, daß die unabhängigen Gewerkschaften Arbeiter ausbilden sollten, damit sie ihre Macht ausüben und sich vor ‚ihrem‘ Staat schützen könnten.

Zu Beginn des Jahres 1923, den letzten Monaten, bevor ein Schlaganfall ihn jeder Handlungsfähigkeit beraubte, kämpfte er noch hart gegen Stalins bürokratische Maschine an, und in seinem Testament forderte er die Abberufung Stalins als Generalsekretär der Partei. Der einzige Ausweg aus dieser Situation war für ihn die Revolution im Ausland, vor allem den westlichen Industriezentren: Sie hätte die russische Revolution aus der Isolation gerissen, die zur Festigung von Bürokratismus und Stalinismus beitragen mußte. Aber der Aufstieg des Stalinismus bedeutete, daß die kommunistischen Parteien auf internationaler Ebene zu Instrumenten der Konterrevolution wurden und in Übereinstimmung mit dem Diktat der russischen Außenpolitik handelten.

Trotzki, der Lenins Kampf fortsetzte, wurde erst ins Exil getrieben, dann ermordet. Lenins Gedanken, verbogen und verunstaltet, wurden die offizielle Ideologie eines Staates, der jeden revolutionären Anspruch verleugnete. Trotz der Proteste seiner Witwe und gegen seinem ausdrücklichen Wunsch wurde sein Körper mumifiziert und zur Schau gestellt, als heilige Reliquie zur Seligsprechung der Erben Peters des Großen und Ivan des Schrecklichen.

Der Stalinismus lehnte den Sozialismus von Marx und Lenin ab, und Staatskapitalismus triumphierte nun über die Niederlage der Oktoberrevolution. Leninismus bleibt als Seele der Revolution für Sozialisten heute von entscheidender Bedeutung. Welche Gedanken machen diese Seele aus? Zunächst einmal ist Marxismus letztendlich eine Theorie revolutionärer Politik. Politik ist, so Lenin, die Konzentration der Wirtschaft. Sämtliche Widersprüche und Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft sind im Staatlichen Machtapparat verschmolzen und gebündelt. Die Transformation der kapitalistischen Produktionsweise zum Sozialismus setzt die Zerstörung des Apparates der Staatsgewalt voraus. Es kann keine friedliche, schrittweise Umwandlung zu einer klassenlosen Gesellschaft geben. Sozialismus bedingt den politischen Kampf gegen den kapitalistischen Staat. Lenins Beharren auf der entscheidenden Bedeutung der Staatsgewalt ist weit mehr als eine interessante historische These. Sie hat sich in den letzten Kapiteln der Geschichte des Klassenkampfes immer wieder bewiesen: Portugal 1974-75, Iran 1978-79, Polen 1980-81, der Fall der Berliner Mauer und der stalinistischen Regimes Osteuropas vor 10 Jahren, Indonesien nach dem Sturz von Suharto, und heute Serbien. Es ist etwas, worum wir in der aufkommenden antikapitalistischen Bewegung kämpfen müssen. In Seattle begann eine bis heute lebendige Debatte, ob die WTO reformiert oder zerstört werden muß. Das 20.Jahrhundert erlebte immer wieder Momente, in denen die Arbeiterklasse anfing, Institutionen demokratischer Selbstorganisation nach dem Modell der russischen Sowjets aufzubauen. Aber es gab auch verschiedenste reformistische Ansätze, die im Wettstreit der Ideen gegenüber den revolutionären Instinkten der Arbeiterklasse die Oberhand gewinnen sollten. Die Idee, mit dem kapitalistischen System könne man Kompromisse schließen, verdrängte die Überzeugung, der kapitalistische Staat müsse zerstört werden. Das Scheitern von Versuchen, den kapitalistischen Staat zu stürzen, gab der anderen Seite Gelegenheit, auf Zeit zu spielen, um sich danach an der Arbeiterklasse zu rächen – in Deutschland 1919 und wieder 1933 Spanien 1936 und Chile 1973.

Wenn Lenin das Primat der Politik betonte, dann stellte er sich darunter gewiß keine Sitzungssäle mit grauen Herren in grauen Anzügen vor. Der Sozialismus wird, das machte Lenin klar, nicht automatisch von selbst entstehen, sondern muß im echten Kampf errungen werden. Und das ist heute von entscheidender Bedeutung. Es bildete beispielsweise auch die Voraussetzung für Lenins bekannte Sicht des Revolutionärs als Volkstribun. Hier wollte er nicht etwa mit einem verschwommenem Bild die Arbeiterklasse zu einem „Volk“ auflösen. Lenin griff damit jene unter den russischen Sozialisten an, die argumentierten, die Arbeiter sollten sich auf ihre Gewerkschaften, auf wirtschaftliche Fragen beschränken, und die Politik den bürgerlichen Liberalen überlassen. Diese Leute bezeichnete Lenin als Ökonomisten.

Damals wie heute vertrat der Reformismus als zentralen Standpunkt seiner Theorie und Praxis die Teilung in Politik (als Teilnahme sozialdemokratischer Parteien an den Wahlen) und Wirtschaft (als Frage der sozialen Bedingungen und der Löhne eine Aufgabe der Gewerkschaftsbürokraten). Lenin verwarf jegliche derartige Trennung.

Weil Marxismus nichts anderes als konzentrierte Wirtschaft ist sind die Kämpfe der Arbeiterklasse nicht um ihrer selbst willen so wichtig, sondern um das Bewußtsein und die Organisation aufzubauen, ohne die der kapitalistische Staat nicht zerstört werden kann. Und weil der Kapitalismus die Arbeiter zwar zusammenführt, dann aber durch Rassismus und Sexismus spaltet, müssen wir zur Einheit der Arbeiterklasse zuerst diese Spaltungen bekämpfen.

Lenins Blick auf den Staat ist noch aus einem zweiten Grund von Bedeutung. Immer wieder erlitt die Arbeiterklasse Niederlagen, weil es ihr an zentraler Führung und Klarheit über die herrschende Klasse fehlte. Die kapitalistische Macht beruht letztendlich auf dem Generalstab, der die Kontrolle über Streitkräfte und Elite-Truppen ausübt. Um die Macht zu ergreifen, brauchen wir unseren eigenen Generalstab, seine zentralisierte Organisation und Führung.

Die Erfahrung der Klassenkämpfe zeigt, daß die Arbeiterklasse mit spontanen Aktionen Wunder wirken kann, doch durch Spontaneität allein kein revolutionäres Bewußtsein ausbildet. Die Arbeiter erkennen den Konflikt zwischen ihren Interessen und denen des Arbeitgebers und sind bereit, die Mittel des wirtschaftlichen Klassenkampfes zu nutzen; aber diese Einstellung beinhaltet kein Vertrauen in die Vision einer anderen Gesellschaft als Ziel dieser Kämpfe. Und darauf gründet sich revolutionäres Bewußtsein. Der Kapitalismus überlebt weniger als Zwangsgesellschaft als durch die widerwillige Zustimmung der Arbeiterklasse. Das Gerüst der Akzeptanz der bestehenden Gesellschaft bei der Arbeiterklasse hält alles stabil. Erst wenn es in sich zusammenfällt, wird der Gebrauch von Gewalt auf breiterer Ebene notwendig. Die Zustimmung beruht auf den verschiedensten Mechanismen: Auf der kapitalistischen Kontrolle der Medien und des Bildungswesens; auf wirtschaftlichem Druck, der die Leute, um allein die Lebenshaltungskosten zu decken, zur Anpassung zwingt; auf Zugeständnissen bezüglich der Arbeitsbedingungen, über die der Kapitalismus die Kontrolle doch behält, die Aufteilung der Arbeit, die Arbeiter in verschiedene Industrien, Firmen und Arbeitsbereiche spaltet auf der und Förderung und Instrumentalisierung von Rassismus und Sexismus; und auf der Institutionalisierung der Arbeiterbewegung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft durch Gewerkschaftsbürokratie und Sozialdemokratische Parteien.

Der Kampf des Neuen gegen das Alte

Die Widersprüche und Krisen des Kapitalismus entladen sich immer wieder explosiv in Klassenkämpfen, und diese bilden das eigentliche Fundament des Sozialismus. Doch selbst Massenstreiks, wie 1905 in Rußland, 1968 und 1995 in Frankreich, lösen nicht die Probleme, die sich den Arbeitern in den Weg stellen, wenn sie die Macht übernehmen wollen. Die Arbeiter erleben ja keine wundersame Verwandlung. Sie ziehen mit all ihren Traditionen, Illusionen, Hoffnungen und Ängsten in die Schlacht, die sie sich während ihres Lebens im Kapitalismus angeeignet haben. Revolution ist das Aufeinanderprallen des Alten und des Neuen. Das eine muß das andere besiegen. Übernehmen revolutionäre Kräfte nicht die Initiative, dann können die Arbeiter in Apathie und Verzweiflung verfallen. Die herrschende Klasse reißt die Initiative wieder an sich und fordert ihre Vergeltung. Nur eine revolutionäre Partei kann die Organisation und Führung stellen, ohne die der Kampf mit einer Niederlage enden muß. Aber Lenin setzte sich nicht für die Machtübernahme einer revolutionären Elite ein, die hinter dem Rücken der Arbeiter ihre Entscheidungen trifft. Lenins Modell zum Verhältnis von Partei und Klasse verlangt ständige Interaktion. Die revolutionäre Partei ist jener Teil der Arbeiter, der ein marxistisches Verständnis der Gesellschaft besitzt und entschlossen ist, den Kapitalismus zu stürzen. Es ist ihre Aufgabe, die Kämpfe der Arbeiter zu unterstützen, ihnen die sonst mangelnde Einheit und Richtung zu geben, damit sie sich gegen den Apparat der Staatsgewalt richten. Die Macht aber kann nur die Arbeiterklasse selbst übernehmen. Lenin griff die deutschen Kommunisten scharf an, als sie im März 1921 als Minderheit einen Umsturzversuch wagten. Seine Sicht der Revolution hat der italienische Revolutionär Gramsci gut zusammengefaßt: Sie war „das Ergebnis eines dialektischen Prozesses, in dem die spontane Bewegung der revolutionären Massen mit dem organisierenden und leitenden Willen der Zentrale verschmolzen“. Die Sowjets waren die Basis für die Machtübernahme der Arbeiter. Revolutionäre mußten die Mehrheit in den Sowjets gewinnen, um sie zur Staatsgewalt zu führen. Durch Agitation und Propaganda gewannen die Bolschewiki die Mehrheit der Arbeiter, die zuerst mehrheitlich auf der Seite der Reformisten gestanden hatten. Die Ideen der Arbeiter hatten sich durch die Kampferfahrung gewandelt. Eine revolutionäre Partei muß an allen Kämpfen teilnehmen, die die Arbeiterklasse täglich führt. In ‘Der Linksradikalismus: die Kinderkrankheit des Kommunismus’ hat Lenin eine vernichtende Kritik der selbsternannten Revolutionäre geschrieben, die sich aus solchen Kämpfen heraushalten. Der Sozialist von heute darf sich nicht nur an seiner Prinzipientreue messen lassen, sondern am engen Kontakt mit der Arbeiterklasse und der Fähigkeit, unserem Kampf Form und Richtung zu geben. Mag es auch noch so oft behauptet werden, die Gestalt der Bolschewiki war nicht monolithisch. Während des Revolutionsjahres 1917 war Lenin mit seiner Unterstützung der Arbeiterklasse bei deren Machtergreifung in der Minderheit innerhalb der Führungsspitze. Im Oktober stellten sich zwei der engsten Vertrauten Lenins, Sinowjew und Kamenew, nicht nur gegen die Revolte, sondern ließe die Pläne auch zur Presse durchsickern. Keiner von den beiden wurde erschossen oder gefoltert – man schloß sie für kurze Zeit aus der Partei aus, und nach ihrer Rückkehr kam ihnen eine Schlüsselrolle in der Partei zu.

Eine Frage der Demokratie

Ohne Demokratie wird jede revolutionäre Partei sterben. In Debatten und Diskussionen muß ständig geprüft werden, ob man richtig handelt und ob Veränderungen vorzunehmen sind. Aber in Lenins Konzept der Partei gibt es ein Gleichgewicht von Demokratie und Zentralismus, und zwar aus drei Gründen: (1) Die Arbeiterklasse ist gespalten. Es wird immer jene geben, die kämpfen wollen, aber auch Streikbrecher und die, die dazwischen stehen. Sogar in den Sowjets wurden solche Spaltungen sichtbar. Revolutionäre Parteien streben nicht danach, die Arbeiterklasse als Gesamtheit zu vertreten. Sie baut sich aus den Arbeitern auf, die den Kapitalismus herausfordern wollen, und diese so zu organisieren, daß sie die Mehrheit der Arbeiter dazu gewinnen, die Macht zu übernehmen. Zentralismus leitet aus den einzelnen Kämpfen das Bedürfnis nach Klassenkampf gegen den Kapitalismus ab, will aus früheren Kämpfen lernen und aus diesen Lektionen eine Strategie für heute entwickeln. (2) Wenn die revolutionäre Partei eine Partei der Tat ist, so muß die Debatte früher oder später in eine Entscheidung münden. Alle sollen diese Entscheidung nach demokratischer Debatte ausführen und prüfen. (3) Die Natur unseres Feindes zwingt uns zum einem gewissen Grad, durch Zentralismus seine kapitalistischen Organisationsstrukturen zu spiegeln, wenn wir ihn besiegen möchten. Es ist heute allgemein verbreitet, Lenin gerade wegen diesem Zentralismus anzugreifen. Sozialistische oder radikale Organisationen, so wird oft argumentiert, sollen die Strukturen der befreiten Gesellschaft der Zukunft vorzeichnen. Sonst würden wir, wenn wir ihre Strukturen spiegeln, genauso werden wie sie. Dieses Argument ist verführerisch, aber ein Freibrief, den Kampf gegen den Kapitalismus ganz einzustellen. Dieser Kampf muß früher oder später dem zentralisierten Apparat der Staatsgewalt gegenübertreten. Solange der Kapitalismus nicht abgeschafft ist, bleibt der Sozialismus Utopie. Nur die kollektive Stärke der arbeitenden Klasse kann es mit der Macht der kapitalistischen Klasse aufnehmen. Die Arbeiterklasse wird nur triumphieren, wenn sie eine zentralisierte Form annimmt. Eine klassenlose Gesellschaft wird dort vorgezeichnet, wo die Arbeiterklasse Organsationen aufgebaut hat, die den Kapitalismus bekämpfen. Kämpfe mit Massenbeteiligung bilden neue, radikaldemokratischere Formen nach dem Muster der Sowjets heraus. Die leninistische Strategie die Selbstaktivität der Arbeiter durch die revolutionäre Partei zu ersetzen – lediglich soll die gebündelte Aktivität gegen den Staat gerichtet werden. Wie Trotzki es ausdrückte: „Eine revolutionäre Organisation ist nicht der Prototyp des künftigen Staates, sondern nur das Instrument, daß ihn erschafft.“

Diese Analyse hat sich viel mit der Revolution auseinandergesetzt. Aber leider müssen wir uns mehr mit Grabenkämpfen unter den Bedingungen des Kapitalismus beschäftigen. Revolutionäre Strategie hat die Abschaffung des Kapitalismus zum Ziel. Um dieses Ziel jedoch zu erreichen, ist eine Vielfalt von Taktiken verwendet nötig: Gewerkschaftsarbeit, die Einheitsfront, Beteiligung an Wahlen und schließlich die Revolte. Ein Revolutionär muß taktisch hoch flexibel bleiben und mit völliger Klarheit seines Zieles sicher sein. Dies verlangt von uns etwas, was Lenin „die Seele des Marxismus“ nannte, „konkrete Situationen konkret zu analysieren“. Wie sich die Situation ändert, so muß sich auch die sozialistische Taktik stets ändern. Lenins Stärke lag vor allem in seiner Fähigkeit, veränderte Bedingungen zu erkennen – um den Kurs der Partei anzupassen, und dabei nie das letzte Ziel aus den Augen zu verlieren. Heute bedroht der Kapitalismus die blanke Existenz unseres Planeten. Eine neue antikapitalistische Bewegung kommt auf. Immer mehr Arbeiter brechen mit der New Labour Politik. Wenn das 21.Jahrhundert auch weit vom Geist des Leninismus entfernt ist, ist es lebenswichtig dafür zu sorgen, daß die Arbeiter aufstehen und unsere Welt von diesem kapitalistischen Schmutz befreien.

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