Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen

John Holloway meint, dass wir den Kapitalismus abschaffen müssen.


Dieser Artikel ist die gekürzte und redigierte Fassung eines Vortrags, den John Holloway am 17. März in Berlin gehalten hat. Den vollständigen Text kannst du über redaktion@linksruck.de erhalten

Ich gehe von einem sehr einfachen, sehr augenfälligen Punkt aus: Der Kapitalismus ist eine komplette Scheiße, eine Katastrophe, eine gesellschaftliche Organisationsform, die droht, die Menschheit vollständig zu zerstören.
Die Existenz des Kapitals ist ein beständiger Angriff gegen die Menschheit: Das Kapital bedeutet Ausbeutung, es bedeutet Zerstörung der Natur, Vernichtung alternativer Lebensweisen und vieles mehr.
Ich spreche vom „Kapitalismus“ statt vom „Neoliberalismus“, denn dieser Angriff ist nicht bloß eine Frage der politischen Entscheidung oder der falschen Wirtschaftspolitik, sondern Ergebnis davon, dass das gesellschaftliche menschliche Tun auf Basis der Ausbeutung und der Entmenschlichung organisiert ist.
Wir schreien alle gegen den Krieg, und es ist sehr wichtig, dass wir das tun. Aber der Krieg ist nicht nur ein verrückter Einfall von Bush und Blair, sondern Ausdruck der Gewalt im Kapitalismus. Die Schaffung einer menschenwürdigen, friedlichen Welt – und ich nehme an, dass wir alle das wollen – erfordert die Abschaffung des Kapitalismus und nicht bloß eine Veränderung der Regierungspolitik.
Wenn wir diesen Punkt alle teilen, dann sind wir alle Teile desselben Kampfes. Wir wollen jedoch manchmal den Punkt nicht sehen, weil die Abschaffung des Kapitalismus unmöglich scheint, weil die bloße Idee lächerlich scheint und wir die Lächerlichkeit fürchten. Aber wenn der Punkt richtig ist, lautet die einzige sinnvolle Frage: Wie können wir den Kapitalismus abschaffen?
Wir sprechen also von Revolution. Ich weiß, dass das Wort altmodisch ist. Es ist komisch, dass immer weniger von Revolution gesprochen wird, während es immer klarer wird, wie schrecklich der Kapitalismus ist. Aber darum geht es: Darüber nachzudenken, wie wir den Kapitalismus loswerden, wie wir eine andere Welt schaffen können.
Die Frage der Revolution und der Macht ist eine praktische Frage. Es gibt jetzt in der ganzen Welt eine große Welle von Kämpfen gegen den Neoliberalismus. Wie sollen sie weitergehen? Wie können wir diese Bewegungen verstärken?
Es gibt eine Frage, die zentral für diese Bewegungen ist: Die Frage des Staates. Sollen wir die Kämpfe auf den Staat konzentrieren, um Einfluss innerhalb des Staates zu gewinnen oder gar um die Staatsmacht zu übernehmen? Oder ist es besser, dem Staat den Rücken zuzukehren und zu versuchen, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen?
Ein Argument lautet, dass wir unsere Kämpfe auf den Staat konzentrieren müssen, um die Staatsmacht entweder durch Wahlen oder durch den bewaffneten Kampf zu übernehmen. Sobald wir erst einmal den Staat kontrollieren, können wir radikale gesellschaftliche Veränderungen einführen, die Wirtschaft verstaatlichen und die Arbeitsorganisation umgestalten.
Das historische Scheitern dieser Strategie ist offensichtlich. Die linken Bewegungen haben ihre Ziele nie durch die Übernahme der Staatsmacht erreicht, weder in ihrer reformistischen noch in ihrer revolutionären Form. Dafür gibt es zwei Gründe.
Erstens ist der Staat in die Gesamtheit der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse eingebunden. Er kann praktisch unmöglich Maßnahmen einführen, die ernsthaft die Wirtschaftlichkeit des Kapitals beschneiden könnten. Das, was ein Staat tun könnte, ist sehr begrenzt.
Zweitens schränkt es die Vielfalt des Kampfes ein, sich auf den Staat zu konzentrieren. Eine Welle von Kämpfen wie die gegenwärtige ist ein unglaublicher Ausbruch von Kreativität. Neue Organisationsformen entwickeln sich, die alten Institutionen und Führerschaften brechen zusammen.
Der Aufstand ist ein Ausbruch des Unterdrückten, er ist keine bewusste, kalkulierte Bewegung mit einem bestimmten Ziel. Diesen Aufstand auf die Übernahme der Staatsmacht zu konzentrieren – egal ob auf dem Weg der Wahlen oder des bewaffneten Kampfes – heißt, den Aufstand zu zähmen, ihn auf ein anderes Terrain zu stellen, auf dem das Kapital sich völlig zuhause fühlt.
Es kann sein, dass diese Ausrichtung der Bewegung tatsächlich zu einer Übernahme der Staatsmacht führt, aber die Bewegung, die dann an die Macht kommt, wird eine Bewegung sein, die keinen Widerstand leisten können wird, wenn ihre Führer in die Welt der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse aufgesogen werden, von denen sie bereits ein Teil sind. Bürokratisierung, Verrat und Desillusionierung sind Schlüsselbegriffe in der Geschichte der Linken.
Aber, wenn nicht durch den Staat, wie dann? Die Rebellion ist der Ausgangspunkt, aber sie reicht nicht aus. Sie ist nicht genug, weil die Grausamkeiten der Welt nicht einfach bloß da sind: Sie werden ständig neu hervorgebracht; und das, was sie hervorbringt, ist die kapitalistische Organisationsweise der Gesellschaft.
Wir erschaffen den Kapitalismus, und wir müssen aufhören, ihn zu erschaffen. Der Aufstand muss sich in Revolution verwandeln, nicht im Sinne eines Wandels von oben, sondern in dem Sinne, dass wir aufhören, den Kapitalismus zu erschaffen.
Wir müssen von den Aufständen, den Aufsässigkeiten und dem Ungehorsam ausgehen, die es alle schon gibt, und sie als Risse verstehen, in denen die Menschen „Nein“ sagen – „Nein, hier herrscht das Kapital nicht, hier werden wir unsere eigenen Leben selbst bestimmen, wie wir es wollen.“
Diese Risse gibt es überall, große und kleine. Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass die Ausweitung des Aufstands über den Staat durchgeführt werden sollte, ist doch der Staat eine Form der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zum Zweck der Unterdrückung des Ungehorsams entwickelt wurde.

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