Argentinien: Sind Revolutionen noch möglich?

Der Aufstand in Argentinien geht weiter. In den letzten zwei Wochen erschütterten weitere Demonstrationen das Land. Die neue Regierung von Präsident Duhalde steht unter Druck, weil der Zugang zu den Bankkonten immer noch begrenzt ist. Kaum Löhne, kaum Renten. Wie sieht die Zukunft der Argentinier aus?

Die Manöver der Herrschenden

In allen revolutionären Kämpfen wird die herrschende Klasse versuchen, mit Zugeständnissen und Reformen davon zu kommen, um sicherzustellen, dass die Grundlagen des alten Regimes intakt bleiben.

Teile der alten Ordnung versuchen, sich in ein neues Gewand zu hüllen und ein Programm vorzuschlagen, von dem sie hoffen, dass es genug Unterstützung erhält, um die Gesellschaft auf der alten Basis wiederzuerrichten.

Auch Gewerkschaftsführer werden versuchen, ihren Einfluss auf die Arbeiter auszunutzen, um die Bewegung von unten zu begrenzen � im Austausch für einige Reformen, die sie ihren Mitgliedern verkaufen können und eine wichtigere Rolle für sie selbst in der Gesellschaft.

Die Herrschenden selbst wollen Land, Fabriken, der Industrie und den Banken behalten. Sie müssen sicherstellen, dass die Führung der Armee und der Polizei weiterhin die Kontrolle ausübt.

Leider endeten die größeren revolutionären Erhebungen der letzte Jahre genau so. In Serbien ersetzte eine neue Führung Milosevics Regime. Sie versuchte, die Ordnung wiederherzustellen � damit die Manager in den Fabriken und Büros und die Polizisten auf der Straße weiterhin die Kontrolle haben.

In Indonesien stellte die ehemalige Opposition ebenfalls die Ordnung wieder her und verfolgte eine Politik, die immer noch Millionen von Menschen in die Armut treibt.

Außerdem wird die herrschende Klasse versuchen, ihre Kontrolle über die Staatsmaschinerie � loyale Teile der Armee und der Polizei �zu benutzen, um ihre Kräfte neu zu gruppieren und die Revolution niederzuschlagen.

Tragischerweise passierte das immer wieder � von Deutschland 1919 bis Chile 1973, wo die herrschenden Klassen Tausende von Arbeitern ermordeten und ihre alte Ordnung wiederherstellten. In Argentinien möchte Präsident Duhalde jetzt ein Gesetz einbringen, das den Einsatz der Armee gegen Demonstranten erlaubt.

Darum ist es nötig, für eine dauerhafte Veränderung der Gesellschaft die alte Staatsmaschinerie zu zerschlagen. Das bedeutet, dass nicht nur die führenden Köpfe des alten Regimes davongejagt werden müssen, sondern alle Teile der alten herrschenden Klasse � die Bosse der Fabriken und die Manager, die Richter, Armeegeneräle und Polizeichefs.
Und das bedeutet, dass die Arbeiter die wirtschaftliche Basis der Gesellschaft in ihren Besitz nehmen und den ganzen Produktionsprozess darauf richten müssen, die Bedürfnisse eines jeden zu erfüllen.

Argentinien zeigt, dass eine Revolution in der modernen Welt immer noch möglich ist. Der Aufstand hat bewiesen, dass Massenbewegungen Regierungen stürzen und der Politik der Konzerne eine Niederlage beibringen können.

All diejenigen sind widerlegt, die sagten, dass die Menschen zum Kämpfen zu träge seien, dass sie sich durch Wohlstand und die Medien haben kaufen lassen.

Argentinien ist kein Agrarland der dritten Welt. Es ist ein hoch industrialisierter Staat. Die meisten Menschen dort kennen einen ähnlichen Lebensstandard wie wir hier in Deutschland – mit Autos, Fernsehern, Videorecordern und Kühlschränken. Diese Menschen haben in Massen gekämpft.

In den vergangenen Jahren verjagten Massenbewegungen schon andere verhasste Regierungen und Herrscher.

Vor etwas mehr als einem Jahr stürzte ein Aufstand das Regime von Slobodan Milosevic in Serbien. Eine Million Menschen gingen auf die Straße – sie waren stärker als die bewaffnete Polizei. Demonstranten griffen das Parlament und die Sitze einiger Medien an. Milosevics 12 Jahre währendes Regime war nach wenigen Tagen beendet.

Vor zwei Jahren zwang eine Massenrevolte von Bauern und Arbeitern in Ecuador den Präsidenten Jamil Mahaud zum Rücktritt. Im Mai 1998 stürzte eine Welle revolutionärer Kämpfe den indonesischen Diktator Suharto.

Solche Revolten kommen häufig unerwartet und entfalten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Plötzlich ist ein revolutionärer Sturz der Regierung nicht mehr ein Wunschtraum oder ein abstrakter Plan, sondern die Wirklichkeit.

Indem sie ihre alten Ideen und Vorurteile ablegen, kann die Masse der einfachen Leute, die zusammen die Herrschenden herausfordern, auch sich selbst verändern.

Der russische Sozialist Lenin meinte, dass zwei Bedingungen zur Entwicklung einer revolutionären Situation nötig sind. Erstens, dass die Arbeiterklasse und die Unterdrückten nicht länger in der alten Weise weiterleben können. Zweitens, schrieb Lenin, muss auch die herrschende Klasse in einer Krise sein. „Zur Revolution genügt es nicht, dass sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewusst werden und eine Änderung fordern… Erst dann, wenn die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“

Wenn beide Bedingungen erfüllt sind, bedeutet das eine gesellschaftliche Krise � ein Kampf um die Zukunft findet statt. Es gibt keinen bestimmten oder vorhersehbaren Auslöser einer revolutionären Krise. Sie kann aus einer Regierungskrise, den Auswirkungen eines Kriegs, den Folgen eines Abschwungs oder einem wirtschaftlichen Chaos entstehen.

Eine Revolution ist kein einzelnes Ereignis. Sie ist ein Prozess von Kämpfen, mit Ebben und Fluten, Vorstößen und Rückzügen. Der Kampf kann scheinbar aus dem Nichts kommen und jeden überraschen.

Beispielsweise hatte niemand ein so schnelles Ende von Suhartos Regime in Indonesien oder von Milosevic in Serbien erwartet.

Diese Revolutionen entstanden aus der wirtschaftlichen Krise und der Unbeständigkeit der kapitalistischen Gesellschaft, aber entwickelten sich auch aus den vorhergehenden Alltagskämpfen von unten � seien es Siege oder Niederlagen gewesen.

Die revolutionäre Sozialistin Rosa Luxemburg beschrieb diesen Prozess brillant, als sie die Kämpfe untersuchte, die Russland 1905 erschüttert hatten:

„Aber diese erste allgemeine direkte Klassenaktion wirkte …, indem sie zum erstenmal das Klassengefühl und Klassenbewusstsein in den Millionen und aber Millionen wie durch einen elektrischen Schlag weckte. Und dieses Erwachen des Klassengefühls äußerte sich sofort darin, dass der nach Millionen zählenden proletarischen Masse ganz plötzlich scharf und schneidend die Unerträglichkeit jenes sozialen und ökonomischen Daseins zum Bewusstsein kam, dass sie Jahrzehnte in den Ketten des Kapitalismus geduldig ertrug.“

Eine solche Entwicklung machen zurzeit Millionen von Argentinierinnen und Argentiniern durch.

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