Pariser Mai 1968: „Eine Macht, die alles beiseite fegen könnte“

Frankreich im Mai 1968: Aus Studentenprotesten erwächst der größte Generalstreik der Geschichte.

Standpunkt: Erfolg durch Organisation

Der Rote Mai 1968 ist ein Beispiel dafür, wie eine studentische Protestbewegung auf die arbeitende Mehrheit übergreifen kann. Doch die KP-Bürokratie konnte diese mächtige Bewegung abwürgen.
Ganz anders hätten sich die Dinge entwickeln können, wenn einige zehntausend Revolutionäre geschlossen und mit den richtigen Argumenten in die Bewegung eingegriffen hätten.

Sie hätten dafür argumentieren können, dass sich Arbeiter und Studenten zusammenschließen. In den besetzten Fabriken hätten sie sich dafür einsetzten können, dass die Arbeiter an Ort und Stelle bleiben und nicht nach Hause gehen.

Revolutionäre hätten vorschlagen können, dass die Streikkomitees gewählt und nicht nominiert werden. Sie hätten eine unabhängige Verbindung zwischen den Fabriken aufbauen können. Dadurch wäre verhindert worden, dass die Bürokratie die Arbeiter allzu leicht hinters Licht führen und den Streik abwürgen konnte. Mit einer revolutionären Organisation hätte die Bewegung siegen können.

Stichwort: Kommunistische Partei Frankreichs (KPF)

1968 zählte die Kommunistische Partei Frankreichs Hunderttausende Mitglieder. Sie hatte 5.200 Betriebszellen und errang unter Arbeitern bei den Wahlen von 1968 ganze 49 Prozent der Stimmen. Neben zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften kontrollierte sie die Gewerkschaft CGT, die 1967 ganze 61 Prozent der Betriebs- und Personalräte stellte.

1968 waren weltweit Hunderttausende Studenten auf der Straße – auch in Frankreich. Sie demonstrierten gegen den Vietnamkrieg und dagegen, dass weibliche und männliche Studenten sich nicht gegenseitig in den Zimmern der Studentenwohnheime besuchen durften.

Seit Januar 1968 folgte eine Demonstration der anderen. Am 3. Mai schlossen die Behörden die Pariser Sorbonne-Universität und stellten einige Aktivisten vor Gericht. Daraufhin demonstrierten Studenten fast täglich. Die Polizei griff die Demonstrationen an.

In der Nacht des 10. Mai bauten die Studenten mehr als 60 Barrikaden im Viertel Quartier Latin. Ein Augenzeuge: "Buchstäblich Tausende halfen, Barrikaden zu bauen. Frauen, Arbeiter, Zuschauer, Menschen in Schlafanzügen bildeten Ketten, um Steine, Holz, Eisen zu transportieren. Eine gewaltige Bewegung hat begonnen. Unsere Gruppe: Die meisten haben sich nie zuvor gesehen, wir bestehen aus sechs Studenten, zehn Arbeitern, einigen Italienern, Zuschauern und vier Künstlern; wir wussten nicht einmal unsere Namen…”

20.000 verteidigten sich bis zum Morgengrauen gegen die Polizisten. Die Polizei versprühte CS-Gas, drang in Cafés und Privatwohnungen ein, zerstörte Filme von Fotografen und schlug selbst schwangere Frauen.

Radio und Fernsehen berichteten live – und brachten die französische Gesellschaft zum Gären. Häufig hatten auch streikende Arbeiter Erfahrungen mit der Brutalität der Bereitschaftspolizei CRS gemacht.

Die Öffentlichkeit ergriff Partei für die Demonstranten. Ein Spitzentreffen der Gewerkschaftsdachverbände beschloss für den 13. Mai einen 24-stündigen Generalstreik. In ganz Frankreich wird an diesem Tag gestreikt und demonstriert.

Unter der Parole "Solidarität zwischen Arbeitern, Lehrern und Studenten” versammelten sich in Paris nahezu eine Million Menschen zum größten Demonstrationszug der französischen Nachkriegsgeschichte. Ein Augenzeuge: "Endlos zogen sie vorbei. Jede Fabrik, jede größere Arbeitsstelle schien anwesend zu sein. Es gab zahlreiche Gruppen von Eisenbahnern, Postboten, Druckern, Metro-Personal, Metallarbeitern, Flughafenarbeitern, Marktmännern, Elektrikern, Rechtsanwälten, Schneidern, Bankangestellten, Maurern, Glas- und Chemiearbeitern, Kellnern, öffentlichen Bediensteten, Malern und Dekorateuren, Gasarbeitern, Verkäuferinnen, Versicherungsangestellten, Straßenkehrern, Busfahrern, Lehrern, Arbeitern aus den neuen Kunststoffindustrien, Reihe an Reihe, das Fleisch und Blut der modernen kapitalistischen Gesellschaft, eine unendliche Masse, eine Macht, die alles beiseite fegen könnte, wenn sie sich dafür entschiede.”

Die Gewerkschaftsführer wollten es bei einem Aktionstag belassen. Doch die Bewegung entfaltete ihre eigene Dynamik. Die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten einen Hauch ihrer Macht gespürt. Am nächsten Tag entschieden die 2.000 Arbeiter der Flugzeugfabrik Sud-Aviation bei Nantes, dass eine eintägige Aktion nicht ausreiche. Sie traten in einen unbefristeten Streik, besetzten die Fabrik und sperrten die Werkdirektion in ihre Büros ein.

Am Vormittag des 16. Mai besetzten die Arbeiter von Renault in Flins und Le Mans ihre Fabriken. Noch am selben Tage schlossen sich die übrigen Renaultarbeiter an. Damit waren 100.000 im Besetzungsstreik – am nächsten Tag vervielfachte sich ihre Zahl, ohne dass die Gewerkschaften einen allgemeinen Streikaufruf erlassen hätten.

In den folgenden Tagen griff die Bewegung auf die Metall- und Chemieindustrie über, den öffentlichen Dienst, dann nahezu alle Industriezweige, dann die Angestellten der Warenhäuser, der Banken und Versicherungen, dann die Lehrer und Beamten. Ende Mai meldeten die Gewerkschaften zehn Millionen Streikende.

In Nantes, einer gewöhnlichen Provinzstadt, zeigte sich, wie eine freie Gesellschaft aussehen könnte: Eine Woche lang kontrollierten die Arbeiterorganisationen praktisch die Stadt. Polizei und Verwaltung konnten nur machtlos zusehen. Arbeiter kontrollierten den Verkehr in die Stadt, die Treibstoffversorgung und die Nahrungsmittelzufuhr. So schalteten sie zum Beispiel die Zwischenhändler aus und senkten so drastisch die Preise.

Der Generalstreik warf die gesamte gesellschaftliche Routine aus dem gewohnten Gleis: Totengräber, Nachtklubtänzerinnen, Orchester, Wissenschaftler im nuklearen Forschungszentrum Saclay, selbst Fußballspieler streikten und hissten auf der Zentrale des Französischen Fußballverbandes die rote Fahne. Junge Katholiken besetzten im Quartier Latin eine Kirche und verlangten Diskussion statt Messe.

Premierminister Pompidou schrieb rückblickend: "Es war nicht meine Position, die zur Disposition stand. Es war General de Gaulle, die Fünfte Republik und, in einem beachtlichen Ausmaß, die bürgerliche Demokratie selbst.” Tatsächlich war Präsident de Gaulle schon nach Deutschland geflohen.

Die Bewegung war an einem kritischen Punkt angelangt: Der Generalstreik – die Lähmung der gesamten Gesellschaft – konnte nicht ewig andauern. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder vorangehen, die Produktion übernehmen, wirtschaftliche Vorteile erkämpfen, Präsident de Gaulle zum Rücktritt zwingen, vielleicht in ein paar Monaten den Umsturz auf die Tagesordnung setzen – oder zurückweichen.

Den stärksten Einfluss in der Arbeiterbewegung besaß die Kommunistische Partei (siehe Stichwort). Ihre Macht wollte die KP aber nicht für die Ausweitung der Bewegung nutzen, sondern für die Eroberung parlamentarischer Macht. Sie nutzte ihren Einfluss, um die bestehenden Strukturen der französischen Gesellschaft zu verteidigen.

Die KP hatte Angst davor, dass die Radikalität der Studenten junge Arbeiter ansteckte. Ein Augenzeuge: "In den ersten paar Maitagen nahm ich jeden Abend fünf oder sechs Arbeiter – oftmals Mitglieder der Kommunistischen Partei – in meinem Auto mit zur Sorbonne. Wenn sie am nächsten Tag zur Arbeit kamen, waren sie komplett verändert. Durch die Studenten erhielten sie die politische Erziehung, die sie von der KP nicht bekamen. Die Studentendemonstration schuf ein Umfeld, in dem die Leute frei ihre eigenen Slogans prägen konnten. Bei offiziellen Gewerkschaftsdemonstrationen wurden nur bestimmte, zentral festgelegte Parolen zugelassen. Wenn ein Arbeiter zur Sorbonne ging, wurde er als Held betrachtet.”

Die KP stellte sich an die Spitze der Bewegung und – würgte sie ab. Ihre Taktik bestand darin, Streikkomitees einzusetzen, die aus loyalen Mitgliedern bestehen, 80 bis 90 Prozent der Belegschaft nach Hause zu schicken und revolutionäre Studenten von den Betrieben auszuschließen.

Unter den Arbeitern, die nun von den regierungstreuen Medien statt von Debatten mit ihren Kollegen beeinflusst waren, machte sich Demoralisierung breit. Die Sabotage der KP endete damit, den Streik auch mit Lügen zu beenden: Sie erzählte den Arbeitern eines Betriebs, die Arbeiter eines anderen seien schon zur Arbeit zurückgekehrt – auch wenn dies nicht stimmte. Da es außer der Gewerkschaftsmaschinerie keine unabhängige Kommunikation zwischen den Betrieben gab, ging die Taktik auf.

Die KP würgte den Streik Anfang Juni ab, nachdem Regierung und Kapital einige Zugeständnisse gemacht hatten. Es kam noch schlimmer: Während die KP bremste, kam die Rechte wieder in die Offensive. Am 30. Mai brachten sie in Paris eine Million Menschen auf die Straße. Gaullistische Schläger, Rechtsextremisten und CRS griffen Gewerkschaftsbüros und linke Aktivisten mit Eisenstangen und Pistolen an und töteten mehrere Aktivisten und Streikposten. Den linken Parteien jedoch brachte ihr Vorgehen keine Früchte: Bei den Wahlen Ende Juni gewann wieder die Partei von de Gaulle.

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