Kommentar: Wut ohne Stimme

Auf der Sommerakademie von ATTAC Anfang August gab es einen Streit über die Einschätzung der aktuellen politischen Situation in Deutschland. Einige Redner behaupteten, es gäbe eine "neoliberale Hegemonie" – eine große Akzeptanz von Sozialabbau in der Bevölkerung. Das sei der Grund für ausbleibende Proteste.
Diese Einschätzung ist falsch. Es gibt durchaus Potential für Widerstand. Die politische Lage in Deutschland ist nicht von allgemeiner Resignation geprägt, sondern eher von einer Krise der Repräsentanz der Unzufriedenen und mangelnder Vernetzung und Organisierung des Widerstands von unten.
Der Eindruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsrucks entsteht, wenn der Blick ausschließlich nach oben, an die Spitze der Gesellschaft gerichtet wird. Dort ist das Bild klar. Der überwältigende Teil der Presse, von der Bild über den Spiegel bis zur taz fordert tiefe Einschnitte in den Sozialstaat.
Die Parteien versuchen sich beim Sozialabbau zu überbieten. In einem Interview sagte die Fraktionschefin der Grünen Katrin Göring-Eckardt zur Rolle ihrer Partei bei der Gesundheitsreform: "Ohne uns hätte es noch weniger Wettbewerb gegeben".
Die PDS ist als Opposition ein Totalausfall. Sie stellt zusammen mit der SPD in Berlin die Landesregierung mit der rechtesten Politik. Der Berliner Senat hat den Flächentarifvertrag im Öffentlichen Dienst gekündigt, eine 10prozentige Lohnkürzung durchgedrückt und verfolgt ein hartes Sparprogramm.
Die Einigkeit bei Politik und Presse heißt aber nicht, dass die Masse der Leute mit diesen Angriffen auf ihre Existenz einverstanden sind. 84 Prozent sind gegen die Zuzahlungen bei der Gesundheitsreform. Die Einzelmaßnahmen von Agenda 2010 und Hartz-Reform werden überwiegend abgelehnt.
Schröders Hauptargument ist, durch den Sozialabbau würden Jobs geschaffen. Doch 86 Prozent glauben nicht, dass Rot-Grün die Arbeitslosigkeit senken wird.
Dafür sind laut Forsa knapp über 60 Prozent für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer – obwohl sich keine relevante politische Kraft dafür ausspricht.
Insgesamt finden ebenfalls 60 Prozent der Bevölkerung die Politik von Schröder sozial ungerecht.
Diese Stimmung für soziale Gerechtigkeit hat sich über Jahre, noch unter Helmut Kohl, aufgebaut. Sie speist sich aus der millionenfachen Erfahrung, dass die neoliberalen Versprechen nicht erfüllt wurden.
Unter Kohl wurde ein Bündnis für Arbeit geschlossen, auf Initiative des damaligen IG Metall Vorsitzenden Klaus Zwickel. Die Bosse versprachen als Gegenleistung für niedrige Lohnabschlüsse neue Jobs. Trotz mehrerer niedriger Abschlüsse gingen die Entlassungen weiter. Als der damalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine im Wahlkampf 1998 sagte "Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze" traf er die Stimmung.
Die Enttäuschung über das Scheitern der neoliberalen Konzepte war die Grundlage von einem Aufschwung von sozialen Kämpfen gegen die Kohl-Regierung, wie dem Lohnfortzahlungsstreik 1996.
Die Wahl der SPD 1998 war direktes Resultat dieser Kämpfe und des zugrunde liegenden Stimmungswandels. Die Mehrheit wollte nicht nur einen Kanzler- sondern auch einen Politikwechsel.
In den vergangenen fünf Jahren hat Rot-Grün alles getan um diese Hoffnungen mit Füßen zu treten. Das es trotzdem nicht zu vergleichbaren sozialen Bewegungen wie unter Kohl gekommen ist, hängt nicht mit einer grundsätzlich geänderten Stimmung, sondern mit der Politik der Gewerkschaftsführungen zusammen.
Die Führungen der Gewerkschaften, meist selbst SPD’ler tun alles, um ihre Parteifreunde in der Regierung zu schonen.
Sie haben ihre Proteste gegen die Agenda 2010 eingestellt. Verdi-Chef Bsirske handelte für den Öffentlichen Dienst in Berlin eine Lohnsenkung im zweistelligen Bereich aus. Der abgetretene IG Metall-Chef Zwickel ließ den Streik um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland scheitern.
Doch viele Betriebsräte und Gewerkschaftsmitgliedern sind unzufrieden mit dieser Politik. Die von Presse, Unternehmern und Regierung gestartete Kampagne zum Sturz des designierten IG Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters scheiterte an der Gewerkschaftsbasis.
Allerorts werden Stimmen von lokalen Initiativen laut, den Widerstand zu koordinieren. In verschiedenen Städten haben sich Sozialforen gebildet, Attac spielt eine Rolle bei der Organisation von Widerstand.
Wir müssen gemeinsam einen Pol des Widerstands aufbauen, der dazu in der Lage ist, die Bevölkerung und die Belegschaften in den Betrieben, die Unzufriedenen in SPD und PDS zu erreichen.

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