Die Dessauer Bankrott-Erklärung

Als Abschluss einer gemeinsamen Konferenz haben die Vorsitzenden der Linkspartei-Fraktionen in den ostdeutschen Landtagen eine „Dessauer Erklärung“ herausgegeben. Darin erklären sie, für die Durchsetzung „linker Politik“ seien „immer politische Mehrheiten notwendig“ und zwar „in Gesellschaft und Parlament.“ Ohne eine linke Mehrheit im Parlament kommen keine linken Regierungen zustande, beobachten sie richtig. Aber dann behaupten sie zu Unrecht, ohne linke Regierungen sei keine fortschrittliche Politik möglich. Das ist falsch, und viele Beispiele aus der Geschichte beweisen, dass es anders ist.

Die staatliche Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung, wie sie heute funktioniert, führte der erzkonservative Reichskanzler Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts ein. Bismarck war kein Freund des „gemeinen Volkes“. Die „gemeingefährliche“ sozialdemokratische Partei ließ er unter den Sozialistengesetzen verfolgen. Was ihn trieb, war die Angst vor einer Revolution. Nach einem Streik von 90.000 Bergarbeitern im Ruhrgebiet 1889 schrieb ihm Kaiser Wilhelm, er solle bedenken, „dass fast alle Revolutionen aus dem Versäumnis rechtzeitiger Reformen entstünden.“

Die sozialen Verbesserungen, die unter Bismarck, in der deutschen Revolution 1918-20 oder nach 1968 gesetzlich verankert wurden, waren immer in Klassenkämpfen erstritten worden. Verglichen mit dem Druck aus den Betrieben und auf der Straße war es nebensächlich, welche Partei gerade die Regierung stellte.

Die Fraktionsvorsitzenden schreiben weiter, „Glaubwürdigkeit“ gewinne die Linke „durch Vorschläge und Programme, die im gegebenen Rahmen politisch umsetzbar sind.“ Sie feiern die Regierungspolitik der Berliner Linkspartei als gelungenes Beispiel dafür, wie linke Politik glaubwürdig werde. Dabei gehen sie stur über die Tatsache hinweg, dass die Umfragewerte der Berliner Linkspartei seit ihrem Regierungseintritt von 26 auf zuletzt 12 Prozent eingebrochen sind.

Die Vorsitzenden sehen den „gegebenen Rahmen“ als unveränderlich an. Darin ähneln sie den so genannten Realpolitikern der anderen Parteien. Bei den Grünen nannten sie sich „Realos“, in der SPD rühmen sie sich als Pragmatiker, die sich am Machbaren orientieren.

Der Rechtsanwalt Wolfgang Heine, ein Sprecher der damaligen „Refomlinken“ in der SPD, schrieb schon 1898, dass er eine Richtung vertrete, „die das unter den gegebenen Umständen Mögliche anstrebt.“ Und er fügte hinzu: „Ja, ich frage alle vernünftigen Menschen, soll denn die Politik das unter den gegebenen Verhältnissen Unmögliche anstreben?“ Rosa Luxemburg antwortete darauf: „Gewiss, unsere Politik soll und kann das unter den gegebenen Verhältnissen Mögliche anstreben“, aber damit sei „durchaus nicht gesagt, wie, in welcher Weise wir das Mögliche anstreben.“ Das sei aber die eigentlich interessante Frage. Und das ist sie bis heute.

Die Dessauer Erklärung verweist nur darauf, dass „Kompromisse ein notwendiges Mittel“ zur Erreichung linker Ziele seien. In der Auseinandersetzung mit den Realos ihrer Zeit betonte Rosa Luxemburg, dass es ein Irrtum sei zu glauben, „dass man auf dem Weg der Konzessionen (Kompromisse) die meisten Erfolge erziele“. Wer zur Durchsetzung von Verbesserungen für die Masse der arbeitenden und sozial schwachen Menschen nur auf Verhandlungen mit den Mächtigen setze, ohne politischen Druck von unten aufzubauen, werde nie ans Ziel kommen. Auf dem Weg solcher parlamentarischen „Tauschgeschäfte… gelangen wir bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und zugleich die Flinte verloren hat“: die Reformen lassen sich nicht durchsetzen. Gleichzeitig verlieren die Linken das Vertrauen ihrer Unterstützer, weil sie ihnen eine Verschlechterung nach der anderen als notwendigen Kompromiss verkaufen wollen.

Sozialistische Realpolitik heißt nicht, die gegebenen Verhältnisse einfach als gegeben zu akzeptieren. Wer das tut, befindet sich andauernd nur auf dem Rückzug, während andere den Rahmen setzen.

Die Hafenarbeiter haben durch einen europäischen Streik die so genannte „Bolkesteinrichtlinie“ der EU-Kommission in Brüssel zu Fall gebracht. Damit haben sie ihre Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen gegen einen Großangriff der europäischen Unternehmer verteidigt. Wären sie den Autoren der Dessauer Erklärung gefolgt, hätten sie sich der Vorgabe der EU-Kommission als „gegebenem Rahmen“ gebeugt. Dann würde heute wiederum die Richtlinie zum „gegebenen Rahmen“ gehören.

Die Fraktionsvorsitzenden sollten von den Hafenarbeitern lernen, wie man Widerstand und Gegenmacht aufbaut. In der Auseinandersetzung um die Privatisierung der Berliner Sparkasse ist wieder die EU der Gegner. Statt sich zu deren Handlanger zu machen, sollte die Linkspartei die Berliner Bevölkerung gegen die Brüsseler Vorgaben mobilisieren und sich an die Spitze des Protestes setzen. Solange sie das nicht einmal versucht, kann sie linke Alternativen nicht als unrealistisch abtun.

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