Im Kampf vereint

Vor 50 Jahren wurde das erste Abkommen zur Anwerbung von Gastarbeitern unterzeichnet. Seitdem haben die ausländischen Kollegen in Arbeitskämpfen eine wichtige Rolle gespielt – wie beim Streik in der Vergaserfabrik Pierburg.


Vom Februar bis Oktober 1973 nahmen tausende Arbeiter an einer bundesweiten Bewegung wilder Streiks teil. Oftmals wurden die Streiks von ausländischen Kollegen gestartet – wie hier bei Ford in Köln

Schon seit Monaten hatte es unter den 2100 Ausländern der 3600 Beschäftigten der Vergaserfabrik Pierburg gegärt. Ausländische Frauen waren besonders von schlechten Arbeitsbedingungen betroffen.

Sie mussten wegen des Umgangs mit ätzenden Chemikalien in Gummianzügen arbeiten und in der niedrigen Lohngruppe 2 für 4,70 DM die Stunde die Fließbänder besetzen. Dort war die Bandgeschwindigkeit drastisch erhöht worden. Die Vergaser-Produktion wurde von 1970 bis 73 von 750 auf 1300 Stück je Arbeitsschicht gesteigert.

Bereits im Juni hatten 200 ausländische Arbeiter gestreikt. Sie forderten eine Mark mehr Stundenlohn und die Streichung der Niedriglohngruppe 2.

Der Streik scheiterte nach zwei Tagen, weil die deutschen Kollegen nicht mitmachten. Vorgewarnt durch den Streik beschloss die Geschäftsleitung, im Herbst 1973 300 ausländische Arbeiter, die schon länger bei Pierburg arbeiteten, durch neue Arbeiter zu ersetzen. So wollte das Management die Kampfbereitschaft brechen.

Der damalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Dieter Braeg in der Jungen Welt: „Die Unternehmensleitung konnte ihre Vorstellungen nicht durchsetzen: In der Woche vom 13. bis 17. August 1973 streikten 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Forderungen nach Abschaffung der Lohngruppe 2 und eine Lohnerhöhung von einer Mark pro Stunde.“

Anders als im Juni war die Belegschaft auf den Konflikt vorbereitet: „Bei Pierburg gab es damals einen sehr aktiven Betriebsrat, der bei der letzten Betriebsratswahl den unternehmerfreundlichen alten Betriebsrat abgelöst hatte. Regelmäßig wurden bei Pierburg Informationsflugblätter verteilt, und zwar in allen Sprachen der im Betrieb Beschäftigten; auch die Betriebsversammlungen wurden in diesen Sprachen abgehalten“.

Am ersten Streiktag hetzte die Firmenleitung die Polizei auf die Streikenden. Ein türkischer Arbeiter berichtet: „Sie kamen mit gezogenen Pistolen auf uns zu und mit Knüppeln in den Händen. Einer hielt mich fest und einer schlug mit dem Knüppel auf mich ein.“ Knecht, der Polizeipräsident von Neuss, rechtfertigte sich: „Wilder Streik ist Revolution“.

Am dritten Tag sperrte die Geschäftsleitung aus. Über dem Eingang stand in sieben Sprachen: „Zutritt nur für Arbeitswillige“. Knapp 200 Streikende standen vor den verschlossenen Werkstoren und riefen „Alle raus!“ und „Mehr Geld!“

Als Wasserwerfer auffuhren, verschafften sich Gewerkschaftsfunktionäre Zutritt zum Versammlungsraum der Geschäftsleitung. Sie fanden dort eine Konferenz von Angehörigen des Werkschutzes, dem Polizeidirektor, einem Beamten des Regierungspräsidenten, einem Beamten des Innenministeriums, zwei Staatsanwälten und mehreren Polizeioffizieren.

Zur Frühstückspause drängten alle Arbeiter auf den Hof, ein türkischer Kollege kletterte auf das Werkstor und rief: „Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt zusammenhalten. Pierburg versucht uns zu spalten. Gestern hat mir der Personalchef vier Mark mehr die Stunde geboten, wenn ich meine Landsleute zur Arbeit rufe. Meine Antwort: Ich bin nicht käuflich!“

Die IG Metall gab dem Streik keine offizielle Unterstützung, weil er „wild“, das heißt ohne Einverständnis der Gewerkschaft, gestartet worden war. Doch die wachsende Solidarität mit der Streikenden setzte die Führung unter Druck: Sie legalisierte den Streik zwar nicht, solidarisierte sich aber mit der Forderung nach Abschaffung der Billiglohngruppen.

Am vierten Streiktag bekam jeder Arbeiter am Werkstor eine rote Rose mit den Worten: „Übt Solidarität“. Jetzt gelang es, die deutschen Facharbeiter mitzuziehen.

Eine türkische Arbeiterin argumentierte gegenüber ihren deutschen Kollegen am Werkstor: „Wir Ausländer sind nicht blöd. Ich acht Jahre bei Pierburg, mein Stundenlohn jetzt 5,96 DM. Alle Lebensmittel teuer. Ich nur Sonntags essen Fleisch, sonst Nudeln. Pierburg muss nie Nudeln essen. Er muss mehr bezahlen. Du Arbeiter, ich Arbeiterin – warum nicht Solidarität?“

Die Bevölkerung versorgte die Streikenden mit Essen und Trinken. Aus dem Warten auf das Verhandlungsergebnis wurde ein multikulturelles Fest auf dem Werkshof.

Weder Werksleitung noch Polizei trauten sich einzuschreiten. Ein türkischer Dudelsackspieler kam, Männer und Frauen aller Nationalitäten tanzten gemeinsam. Ein türkischer Kollege jubelte ins Megafon: „Heute ist unser Tag, wir müssen feiern und tanzen“.

Ein älterer deutscher Arbeiter sagte: „Dies ist der schönste Tag in meinem Leben. Heute halten wir alle zusammen, das habe ich noch nie in meinem Leben erlebt. Pierburg kann uns nicht schaffen.“
Am Morgen des fünften Tages kam ein Vertreter des Bezirksverbandes der Düsseldorfer Arbeitgeber. Dessen Fahrer erklärte seine Eile: „Jetzt reicht es uns, jetzt streiken die bei Hella in Lippstadt auch schon wieder“.

Dieter Braeg: „Als dann zum Wochenende klar wurde, dass die gesamte deutsche Automobilindustrie nicht mehr weiterproduzieren kann, weil die Fließbänder verstopft waren (ohne Vergaser konnte man die Produktion nicht aus den Hallen fahren), und sich die deutschen Facharbeiter des Werkzeugbaus mit den Streikenden solidarisch erklärten, kam es zu ernsthaften Verhandlungen zwischen Belegschaft und Unternehmensleitung. Sie erbrachten den Wegfall der Lohngruppe 2 und einen Lohnzuschlag von 53 bis 65 Pfennigen pro Stunde. Dazu wurden die Streiktage bezahlt und vereinbart, keinen der am Arbeitskampf Beteiligten zu entlassen.“

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