Große Koalition – große Abzocke

Volkhard Mosler über die politische Lage nach der Bundestagswahl.

SPD: Wählerbetrug

Die bisherigen Pläne der großen Koalition zeigen, wie die SPD ihre Wahlversprechen bricht:

Steuern

Vorher:
Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Nachher:
„Der designierte SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck hält eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf 20 Prozent für möglich. ‚Ich kann im Moment nichts ausschließen’, sagte Platzeck am Freitag dem Fernsehsender N24 auf die Frage, ob die wichtigste Verbrauchssteuer zum Stopfen von Haushaltslöchern möglicherweise von jetzt 16 auf 20 Prozent angehoben werden müsse.“
Berliner Morgenpost, 5. November

Hartz IV

Vorher:
Bessere [Arbeits-]Vermittlung insbesondere für Menschen unter 25 Jahren.

Nachher:
„Einigkeit besteht zwischen den Parteien, bei der Zahlung von Arbeitslosengeld II an junge Erwerbslose unter 25 Jahren wieder ein so genanntes Rückgriffsrecht einzuführen. Diese Arbeitslosen sollen dann nur noch die Unterstützung bekommen, wenn die Eltern nicht in der Lage sind, sie zu unterhalten. Wohnkosten sollen nur noch ersetzt werden, wenn sie erstmals ihre ‚eigenen vier Wände’ bezogen haben. Ihnen werde künftig zugemutet, bei den Eltern zu leben, wenn dies möglich sei.“
Tagesschau, 4. November

Arbeitsrecht

Vorher:
Kündigungsschutz bleibt erhalten.

Nachher:
„Die Arbeitsmarktexperten von Union und SPD haben sich laut Bild am Sonntag darauf verständigt, den Kündigungsschutz weiter zu lockern. Danach soll die Probezeit bei Neueinstellungen künftig auf bis zu zwei Jahre verlängert werden dürfen.“
Handelsblatt.de, 5. November

Renten

Vorher:
Regionale Beschäftigungspakte für ältere Arbeitnehmer.

Nachher:
„Um die Rentenkassen zu sanieren, wollen die Koalitionspartner das Rentenalter erhöhen. Die Bürger sollen frühestens im Alter von 67 Jahren ohne finanzielle Abschläge in Rente gehen können. Die Große Koalition wolle im Jahr 2007 ein Gesetz beschließen, nach dem von 2012 an die Altersgrenze schrittweise angehoben wird, berichtete die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf Verhandlungskreise. Schlusspunkt sei spätestens das Jahr 2035.“
Netzeitung, 2. November

Die Versprechen der SPD stammen aus dem Wahlkampfflugblatt „Zehn Gründe für Gerhard Schröder“.

Die Trauer in den Chefetagen über die „verlorene“ Bundestagswahl war zunächst groß. s Sicht der Industrie und Wirtschaft sind wir bitter enttäuscht“, schrieb Jürgen Thumann, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Er hatte mit einem Durchmarsch von CDU und FDP gerechnet.
Das Ergebnis der Bundestagswahl ist eine Absage an neoliberale Politik. Die rot-grüne Agenda-2010-Koalition wurde abgewählt. Gerhard Schröder konnte nur durch einen betont linken Wahlkampf eine Katastrophe abwenden. Die Konservativen, die im Wahlkampf offen für Sozialabbau auftraten, verloren ebenfalls. Wahlgewinner ist die Linkspartei.
Der 18. September hat gezeigt, dass es in Deutschland trotz einer Überdosis medialer Gehirnwäsche zurzeit keine Mehrheit für eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt. Die Wähler haben mehrheitlich für Wahlprogramme (SPD, Grüne und Linkspartei.PDS) gestimmt, die den Erhalt des Sozialstaats und soziale Gerechtigkeit versprachen. Mit der Bildung einer großen Koalition aus SPD und CDU/CSU wird diese Wählermehrheit jedoch faktisch betrogen – der Angriff auf die sozialen Rechte der großen Mehrheit wird fortgesetzt.

Umverteilung von unten nach oben

Zur Zeit der Abfassung dieses Artikels (Anfang November 2005) lag zwar das Regierungsprogramm noch nicht vor, aber seine Ausrichtung ließ sich schon erkennen: Franz Müntefering und Angela Merkel bekräftigten ein ganzes Bündel von Steuererleichterungen für die Reichen und Superreichen mit einem Volumen von etwa 8 Mrd. Euro – trotz eines Haushaltslochs von 35 Milliarden Euro, das innerhalb von 14 Monaten durch Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen gefüllt werden soll. Gleichzeitig verkündete Merkel vier weitere Nullrunden für 20 Millionen Rentner und ab 2012 die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre. Milliardenkürzungen drohen auch den jungen Empfängern des Arbeitslosengeld II. Die Mehrwertsteuererhöhung ist eine besonders unsoziale Besteuerung, weil sie v.a. einkommensschwache Menschen trifft.
Merkel und Müntefering machen da weiter, wo Schröder und Fischer aufgehört haben. Ein Ende des Sozialabbaus ist, trotz einer starken Linksfraktion im Bundestag, nicht in Sicht.
Wieder einmal weist das Handeln der SPD auf die geringe Haltbarkeit ihrer Wahlversprechen hin. Müntefering hat zwar mehrfach angekündigt, dass Fragen der „sozialen Gerechtigkeit“ eine größere Rolle spielen werden. Der designierte neue SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck forderte, dass die neue Regierung „hart, aber gerecht“ handeln müsse. Aber eine neue Tonlage macht noch keine neue Melodie und mehr als ein symbolischer Anstandsgroschen („Reichensteuer“) wird – wenn überhaupt – den wirklich Reichen wohl auch von der neuen Großen Koalition nicht abverlangt werden.
Platzeck steht für eine Fortführung des Sozialabbaus. Er führt die Große Koalition in Brandenburg. Seit vielen Jahren arbeitet Platzeck „eng und vertrauensvoll“, wie er immer wieder betont, mit dem CDU-Rechten und Innenminister Jörg Schönbohm zusammen. Gemeinsam mit Schönbohm stimmte Platzeck Schröders Sozialabbau im Bundesrat zu, seit er 2002 Ministerpräsident wurde. Platzeck hat sich 2004 scharf gegen die Montagsdemonstrationen ausgesprochen. Dadurch, dass er in einer solch schwierigen Situation hart geblieben ist, hat er sich das Vertrauen der SPD-Rechten verdient.

Strukturkrise

Trotz gewisser Anzeichen der Labilität schon im Prozess der Regierungsbildung wird die Große Koalition die sozialen Rechte und den Lebensstandard der breiten Massen weiter angreifen. Den Hintergrund hierfür bildet der Anspruch, die „strukturelle Krise“ der deutschen Wirtschaft durch eine Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Profitrate des Kapitals zu überwinden. Unter dem Vorwand der Haushaltskonsolidierung wird die Umverteilung zugunsten der Kapitalbesitzer weiter betrieben. Nur so könnten, so die neoliberale Argumentation, die jährlichen Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft aus der anhaltenden Stagnation herausgeführt werden und nur so könne der Anschluss an die US-Wirtschaft gefunden werden, deren Wachstum seit Beginn der 90er Jahre etwa das Dreifache der deutschen beträgt. Die Argumente sind nicht neu, sie sind in der „Agenda 2010“-Rede Gerhard Schröders vom März 2003 nachzulesen.
Ihrem Ziel der Überwindung der Stagnationskrise durch neoliberale Medizin ist Rot-Grün um keinen Zentimeter näher gekommen. Deshalb wird der Druck der deutschen Unternehmerverbände auf die Große Koalition, in ihrem Sinne „zu liefern“, tendenziell weiter zunehmen.
Eine Analyse der anhaltenden Wachstumsschwäche lieferte der scheidende Wirtschaftminister Wolfgang Clement (SPD) unfreiwillig selbst. In der Herbstprognose seiner Regierung wies er darauf hin, dass „die lohnpolitische Zurückhaltung der letzten Jahre zu einer deutlichen Verbesserung der Wettbewerbssituation der exportorientierten Firmen beigetragen habe“. Die Standortbedingungen hätten sich verbessert und dies werde der Exportstärke Deutschlands zugute kommen. „Die Achillesferse“ der deutschen Wirtschaft bleibe allerdings der private Konsum, der immerhin 60 Prozent des gesamten Bruttoinlandprodukts ausmache.
Als gebe es keinen Zusammenhang zwischen „lohnpolitischer Zurückhaltung“ und anhaltender Krise des privaten Konsums! Die Exportüberschüsse eilen zwar von Rekord zu Rekord, zugleich ist im dritten Quartal 2005 die Binnennachfrage abermals um 1,2 Prozent zurückgegangen. Schon Karl Marx hat diesen Widerspruch zwischen wachsendem Reichtum des Kapitals und der Konsumbeschränkung der Massen in einer auf Lohnarbeit basierenden Ökonomie zum Ausgangspunkt seiner Krisentheorie des Kapitalismus gemacht. Diese Theorie hat ihre Gültigkeit im Wesentlichen nicht verloren. Marx spricht von dem „widersprüchlichen Interesse jedes Einzelkapitalisten an größter Konsumtionskraft aller Arbeiter mit Ausnahme seiner [eigenen] und an möglichst niedrigen Löhnen seiner eigenen Arbeiter“.
Anders ausgedrückt: Niedrige Löhne dämpfen die Binnennachfrage, hohe Löhne gefährden die internationale Konkurrenzfähigkeit und die Exportnachfrage. Dieser Widerspruch kann auf dem Boden einer kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft überhaupt nicht aufgelöst werden – was auch auf die Grenzen der „Gestaltungsfähigkeit“ zukünftiger Linksregierungen hindeutet.
Noch halten hohe Exportüberschüsse die deutsche Wirtschaft knapp über dem Ausbruch einer neuen Wirtschaftskrise. Aber der angekündigte Sparkurs der Großen Koalition droht die Binnenkonjunktur weiter zu schwächen. Immer neue Steuernachlässe für die Unternehmer schaffen noch keine zusätzliche Nachfrage und damit Wachstumsimpulse für die lahmende Binnenkonjunktur.
Alles in allem werden sich die Lebensverhältnisse der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung weiter verschlechtern. Und das in einem Land, welches einen Kapitalstock (d.h. wirtschaftliches Vermögen) von 12.000 Mrd. Euro ausweist.

Auf die Opposition kommt es an

Die Große Koalition setzt die Rahmenbedingungen für den Aufbau einer Gegenmacht außerhalb des Parlaments. Grundsätzlich hat die Wahl die Ausgangslage für soziale Bewegungen verbessert, weil sie vor allem wegen des Wahlerfolgs der Links–
partei.PDS als eine Absage an den Neoliberalismus wahrgenommen wurde.
Allerdings kann sich die Regierungsbeteiligung der SPD weiter in den Gewerkschaften als Bremse auswirken. In der politischen Konstellation der Großen Koalition, die das größte Sparpaket seit 1945 plant und damit die Arbeitnehmer, Rentner und sozial Schwachen angreift, müssten die Gewerkschaften eigentlich Front machen gegen den geplanten Sozialabbau. Doch bisher halten die Gewerkschaftsspitzen still.
Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer glaubt, dass die Gewerkschaften über die SPD auf die Regierung Einfluss nehmen können. Er denkt, dass die SPD in einer Großen Koalition das Schlimmste verhindert. Zum anderen teilt er die Idee der Haushaltskonsolidierung. Statt den Kampf gegen den sozialen Kahlschlag zu organisieren oder wenigstens verbal zu attackieren, erklärt Sommer, dass die Gewerkschaften Hartz IV nicht mehr rückgängig machen könnten und man deshalb auf Nachbesserungen und konstruktive Zusammenarbeit mit den Koalitionsparteien setzen müsse. Zu Teilnehmern eines DGB-Jugendkongresses, die forderten, in den kommenden vier Jahren gegenüber den Regierungsparteien eine kämpferische Tonart anzuschlagen, sagte Sommer, dass Hartz IV mit ihm nicht abzuschaffen sei.
Resultat sind Risse in den Gewerkschaften, denn viele Mitglieder wollen mehr als nur Lippenbekenntnisse gegen Sozialabbau. Wie es geht, zeigten Tausende Angestellte der Unikliniken in Baden-Württemberg. Sie haben mit einem zweiwöchigen Streik Lohnsenkungen und eine Arbeitszeitverlängerung verhindert. „Zum Höhepunkt des Konfliktes war die Streikbereitschaft voll da“, erzählte Ingo Busch, der Personalratsvorsitzende der Uniklinik Freiburg. „Zaghafte Beschäftigte wurden von dem Elan mitgezogen.“ Jetzt gibt es einen neuen Tarifvertrag ohne Arbeitszeitverlängerung, und die Angestellten bekommen Einmalzahlungen anstelle des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes. „Das Ergebnis ist ein Kompromiss, der sich sehen lassen kann“, meint Busch. „Ohne zwei Wochen Streik mit vielen tausend Beschäftigten wäre das nicht möglich gewesen“.
In der jetzigen Situation ist es die Aufgabe der neuen Linken, WASG und Linkspartei.PDS, die Angriffe der Großen Koalition zu kontern. Die Linkspartei muss darstellen, dass die öffentlichen Kassen leer sind, weil die Großkonzerne und Reichen entlastet und beschenkt wurden; dass wir eine Umverteilungspolitik von oben nach unten brauchen und nicht noch mehr Kürzungen und noch mehr Sozialabbau. Diese Argumente in die Öffentlichkeit zu tragen, kann ein Mittel sein, das Ohnmachtgefühl in Gewerkschaften und Betrieben zu unterminieren und den Widerstand gegen Schwarz-Rot zu stärken.
Die neue Linke muss in die Offensive gehen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht – zumal es in breiten Bevölkerungsschichten große Skepsis am Kapitalismus gibt. Diese Stimmung griff der Spiegel im August auf, als er Karl Marx auf sein Cover nahm und titelte: „Ein Gespenst kehrt zurück. Die neue Macht der Linken“.
Wenn die Linke in die Offensive kommt, dann kann es auch gelingen, die lähmende Dominanz der SPD in der Gewerkschaftsbewegung weiter zu schwächen.
Wir sollten das zu erreichen versuchen, was Heiner Geissler in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau (5.11.) befürchtet: „Wenn die neue SPD-Führung den bei der Bundestagswahl abgewählten, angeblichen Reformkurs Schröders und Münteferings fortsetzt, […] wirft sie die eigene Partei der Linkstruppe um Lafontaine und Gysi zum Fraße vor“.
Die kommenden Angriffe bedeuten, dass die politischen Konflikte innerhalb der SPD weitergehen werden. Die Linkspartei muss in die Konflikte innerhalb der Großen Koalition eingreifen, und die SPD-Anhänger daran erinnern, dass es eine Mehrheit links von den Konservativen gibt. Viele SPD-Anhänger erwarten von der SPD, dass der angekündigte Sozialabbau der CDU abgemildert wird. Dieser Widerspruch bietet, wenn er von den Kräften der Linken genutzt wird, Chancen für den außerparlamentarischen Widerstand und den weiteren Aufbau einer politischen Kraft links von der SPD. Nur so werden wir die kommenden Angriffe verhindern können und auch politisch in die Offensive kommen.

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