Die EU – eine Alternative zu den USA?

Tobias Pflüger ist Antikriegsaktivist und Mitglied im Europäischen Parlament. Als Parteiloser wurde er im Juni 2004 auf der PDS-Liste gewählt.


Panzer der Bundeswehr

Zur Person

Tobias Pflüger gehört der linken Fraktion (GUE/NGL) an. Er arbeitet u.a. im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten (AFET) und im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung (SEDE). Er stellt ausführliche Informationen bereit auf www.imi-online.de; www.tobias-pflueger.de und www.pdseuropa.de. Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen veröffentlichte außerdem unter dem Titel „Die verfasste Militarisierung“ eine Broschüre. Die GUE/NGLFraktion bietet einen Infoflyer zum Thema EU-Militarisierung an.

Die USA gelten als Hochburg des Neoliberalismus. Kann hier die EU ein Gegengewicht darstellen?

Für die politisch Verantwortlichen der EU stellt sich die Frage des Gegengewichts nur als machtpolitisches Thema. Die EU ist bereits heute ebenfalls eine Hochburg des Neoliberalismus, wie z.B. die sog. Lissabonstrategie zeigt [2000 wurde auf einem EU-Gipfel in Lissabon beschlossen, dass die EU bis 2010 die USA wirtschaftlich überholen soll. Diesem Ziel soll in der BRD u.a. die Agenda 2010 dienen.]. Auch der Inhalt des von den EU-Regierungschefs unterzeichneten, aber noch nicht ratifizierten und damit noch nicht gültigen . EU-Verfassungsvertrages ist eine Festschreibung neoliberaler Politik. Derzeit setzt die Europäische Kommission massiv auf Deregulierung ihres riesigen Dienstleistungsbinnenmarktes. Der neue Entwurf für eine EU-Dienstleistungsrichtlinie [die sog. „Bolkestein-Richtlinie“] belegt das. So soll zukünftig beispielsweise ein italienisches Dienstleistungsunternehmen, das seine Dienstleistungen etwa in Belgien anbietet, sich nicht mehr an die in Belgien geltenden Vorschriften halten müssen, sondern an seine „heimatlichen“ italienischen. Damit wird zwischen den EU-Ländern ein Unterbietungswettlauf in Gang gesetzt, statt dass gemeinsame soziale, arbeitsrechtliche, ökologische und verbraucherfreundliche Standards festgelegt werden. Das betrifft im Prinzip auch alle öffentlichen Bereiche außer den hoheitlich definierten Aufgaben wie Militär und Polizei. Bereiche der kommunalen Daseinsvorsorge, sprich Wasser und Abwasser, Energieversorgung, aber auch öffentliche Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherungssysteme werden noch stärker als heute schon in den Strudel der EU-Liberalisierung kommen, wenn dem kein Riegel vorgeschoben wird. Mit meinen Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) fordere ich, diesen marktextremistischen Vorschlag zurückzuziehen.

Wie ist die Lage von Menschen aus armen Ländern, die versuchen in die EU zu kommen?

Die EU ist für die Flüchtlingspolitik aller EU-Staaten zuständig. Die Außengrenzen der EU sind nahezu dicht für Flüchtlinge. Die Chancen, als Flüchtling die EU legal zu erreichen, gehen gegen Null. Wer es illegal versucht, setzt sein Leben aufs Spiel. Nach Berechnungen von Pro Asyl ertranken in den letzten Jahren bei der Flucht ca. 5.000 Menschen im Mittelmeer. Auch das Schiff „Cap Anamur“ brachte mit seiner spektakulären Aktion die menschliche Tragödie der über das Mittelmeer flüchtenden Menschen ans Licht der Medienöffentlichkeit. Im Sommer letzten Jahres war ich mit einer italienischen Kollegin daran beteiligt, dass die Besatzung der „Cap Anamur“ aus italienischen Gefängnissen freigelassen wurde. Das war gut. Ein Erfolg war es dennoch nicht, denn für die Flüchtlinge auf der Cap Anamur konnten wir nichts tun. Trotz Protesten wurden alle demonstrativ abgeschoben. Die EU-Flüchtlingspolitik ist inhuman. Innenminister Schily ist ein Hardliner. Er gehört zusammen mit der italienischen Berlusconi-Regierung zu den Antreibern, wenn es darum geht, schon außerhalb der EU, zum Beispiel in Nordafrika, Internierungslager für Flüchtlinge einzurichten. Das Szenario solcher Lager rund um die EU soll offizielles EU-Konzept werden.

Kann Europa ein friedliches Gegengewicht zu den USA bilden?
Ich bin grundsätzlich skeptisch gegenüber „Gegengewichten“, weil damit häufig nichts anderes gemeint ist als die Imitation des genau gleichen. Besser ist der Abbau von Übergewichten. Es geht um grundsätzlich andere Alternativen. Für die EU gäbe es viele Möglichkeiten friedliche und zivile Politik zu betreiben, erste Schritte wären etwa der Verzicht aller Mitgliedsstaaten auf Atomwaffen oder ein definitives Verbot von Angriffskriegen in der Verfassung. Realität ist aber, dass die EU sich zu einer neuen eigenständigen Militärmacht entwickelt wird. Entsprechende Vorhaben sind bereits eingetütet. Die ALTHEA-Mission der EU in Bosnien ist – als Fortsetzung der NATO-Mission SFOR – mit 7.000 Soldaten der erste umfangreiche militärisch-operative Einsatz unter EU-Flagge. Weitere werden folgen. Die neue „Europäische Sicherheitsstrategie“ (ESS) definiert die EU als globalen Akteur mit eigenständigen Interessen zum Beispiel bei der Energiesicherung oder im sog. Kampf gegen den Terrorismus. „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen“, heißt es in der ESS. Das klingt ähnlich wie das „Präventivkriegskonzept“ in der US-amerikanischen Sicherheitsstrategie.
Die EU-Verteidigungsminister haben sich auf einen Fahrplan zur europäischen Militarisierung verständigt: Bis 2010 wird es eine hochgerüstete EU-Streitmacht unter einheitlichem Kommando geben. 60.000 Soldaten sollen als EU-Eingreiftruppe zum Einsatz gebracht werden und als Besatzungstruppen stationiert werden können. Zweites Element werden kleinere Kampfverbände sein, genannt „battle groups“. Die ersten dieser „Schlachttruppen“ sollen bereits ab diesem Jahr bereit stehen. Das sind Spezialeinheiten mit jeweils rund 1.500 gutausgerüsteten Elitesoldaten. In der Übergangsphase 2005 und 2006 wird die Bundeswehr Ressourcen für die Battle Groups zur Verfügung stellen. Ab 2007 wird es mit anderen EU-Staaten zusammen gemeinsame EU-Schlachttruppen geben.

Fördert die EU-Verfassung eine Militarisierung der EU?
In Artikel I, 41, Absatz 3, heißt es, Zitat: „Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Das ist nichts anderes als eine Aufrüstungsverpflichtung. Laut EU-Verfassungsvertrag sollen EU-Streitkräfte zukünftig weltweit militärisch agieren dürfen. Militärische Kampfeinsätze in sog. Krisengebieten sind ausdrücklich vorgesehen. Nicht nur die Außenpolitik, auch die „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ der 25 EU-Staaten wird vereinheitlicht. Die Entscheidung über Krieg und Frieden obliegt dem Ministerrat. Das EU-Parlament darf Anfragen stellen und wird auf dem Laufenden gehalten. Zur Umsetzung und Kontrolle der EU-Aufrüstung ist ein eigenes Amt vorgesehen, eine dem Ministerrat unterstellte „Europäische Verteidigungsagentur“. Zweck ist es, eine gemeinsame industriell-technologische Basis im Rüstungssektor zu schaffen. Es geht um gemeinsame militärische Forschung, Beschaffung und Rüstung. Über eine sog. „ständige strukturierte Zusammenarbeit“ ist geregelt, dass EU-geführte Militäreinsätze auch dann möglich sind, wenn nicht alle Einzelstaaten mitmachen wollen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien gehen vor, die anderen werden nachziehen.

Muss nicht Europa militärisch zu den USA auf Augenhöhe kommen, wenn es zukünftige US-Kriege verhindern will? Vielleicht noch eine Zusatzfrage an den „Militärexperten“: Wie ist das militärische Kräfteverhältnis zwischen der EU und den USA?
Wenn die EU-Staaten US-Kriege wirklich verhindern wollten, müssten sie erst einmal dafür sorgen, dass die USA ihre Kriege nicht vom Boden von EU-Staaten aus führen können. Im Krieg gegen den Irak durften die US-Streitkräfte ungeniert die militärische Logistik der NATO in Europa nutzen, ganz zu schweigen von den EU-Staaten, die diesen Krieg mitgeführt haben. Die Bundesregierung gewährte großzügig Überflugrechte. Man muß nicht erst so hochgerüstet sein wie die USA, um hier NEIN zu sagen! Die USA ist militärisch eindeutig stärker als die EU-Staaten zusammen. Das bedeutet aber nicht, dass die EU ein „Papiertiger“ ist – im Gegenteil. So gibt das „European Defence Paper“, in dem die militärischen Einsatzszenarien der EU-Truppen für das Jahr 2010 beschrieben werden, das Ziel aus, bis zu 70.000 Soldaten für „Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen“ bereitstellen zu können. Insbesondere im Bereich Satellitenaufklärung oder bei den Transportkapazitäten will die EU nicht mehr auf die USA angewiesen sein. Sie will ihre Kriege auch ohne Logistik der USA führen können. Abrüstung wäre angesagt statt einer Nachholjagd im Rüstungsbereich.

Seit dem Irakkrieg ist das Verhältnis zwischen dem „alten Europa“ und den USA gespannt. Wo siehst du derzeit Konflikte schwelen?
Viel dürfte sich anhand der Frage des Iran entscheiden, der für die EU – insbesondere für Deutschland – ein wichtiger Handelspartner ist. Falls sich die US-Regierung zu einem neuerlichen militärischen Angriff im Alleingang entscheiden sollte, könnte dies zu ernsthaften interimperialen Konflikten führen. Ein zweiter Bereich ist die zunehmende Konkurrenz der europäisch-amerikanischen Rüstungsindustrien, z.B. der Streit zwischen Boeing und Airbus oder die Überlegungen der EU-Staaten, das Waffenembargo gegen China aufzuheben.

Vielleicht war der Irakkrieg falsch. Doch ist jetzt eine Besatzung dieses Landes nicht das kleinere Übel? Wird sich die EU an dieser Besatzung beteiligen?
Kleineres Übel? Nein! Krieg im Irak und Afghanistan und militärische Besetzung sind das größtmögliche Übel. Im Irak sind die Armeen der einzelnen EU-Staaten direkt beteiligt, zum Beispiel aus Großbritannien. Andere wie die Bundesrepublik leisten Schützenhilfe. In Afghanistan kämpft die Bundeswehr unter NATO-Flagge, inzwischen wieder mit dem Kommando Spezialkräfte. Derzeit wird der Irak einer extremen neoliberalen Umstrukturierung unterworfen und schamlos ausgeplündert. Dies verstößt eindeutig gegen geltendes Völkerrecht. Die EU ist dabei, sich schleichend immer mehr an der Besatzung des Iraks zu beteiligen, erst jetzt wurden weitere EU-Gelder freigegeben.

Was ist mit dem Krieg gegen den Terror des Islamismus?
Angriffskriege werden immer begründet mit verlogenen Schreckensszenarien und plumpen Feindbildern. Was ist „Islamismus“? Ich bin kein Religionswissenschaftler, aber klar ist, staatliche Repression und reaktionäre Politik, religiös hochideologisiert, das ist nichts typisch „islamisches“, das gibt es auch in den USA und der EU. Die Erstarkung reaktionär-fundamentalistischer Bewegungen im „Nahen und Mittleren Osten“ ist auch die Folge neokolonialistischer Politik. Westliche Staaten haben fundamentalistische Bewegungen unterstützt (z.B. Afghanistan) und instrumentalisiert, solange das in die Interessenslage passte. Westliche Großmächte haben nach 1945 bis heute wenig dazu beigetragen, dass sich demokratische und emanzipatorische Bewegungen in diesen Ländern entwickeln konnten. Wo solche politische Strömungen an Einfluss gewannen, wurden sie blutig unterdrückt oder gar weggeputscht. Im Iran, im Irak, in Afghanistan, in der Türkei, in Saudi Arabien wurden über Jahrzehnte finstere reaktionäre Regime politisch gestützt und bis an die Zähne bewaffnet. Nur die Grünen kamen bislang auf die perverse Idee, zum Beispiel den Krieg in Afghanistan mit der „Befreiung der Frau“ zu rechtfertigen. Die verantwortlichen NATO-Militärs hatten dafür nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Ich kann Frau Beer und den anderen grünen MilitärstrategInnen nur raten: da müsstet Ihr auch schnell mal in Saudi-Arabien einmarschieren und dafür sorgen, dass Frauen dort auch wählen dürfen. Aber mit Saudi-Arabien gibt es halt gute Öl- und Rüstungsgeschäfte.

Du sitzt für die PDS im Europaparlament. Worin siehst du dort deine Aufgabe?
Ich will dazu beitragen, dass die Forderungen sozialer Bewegungen, antimilitaristische und antifaschistische Positionen im EU-Parlament artikuliert werden. Ich will Sand streuen ins Getriebe der EU-Militarisierung. Die wenigen parlamentarischen Instrumente, die es dafür gibt, müssen genutzt werden. Ich stelle die Informationen, die ich als Mandatsträger in Straßburg und Brüssel habe, in den Dienst derer, die außerparlamentarisch tätig sind. Hier im europäischen Parlament wird offen über die Militarisierung der EU geredet, oder wie ein Beobachter mal sagte, da wollen welche ihren eigenen Krieg. Das, was geplant wird, öffentlich zu machen, ist meine Aufgabe. In meiner Fraktion arbeiten Linke aus Skandinavien bis Griechenland. Gemeinsam mit ihnen stehe ich für ein soziales und ziviles Europa, eine Vision, die durch die herrschende Politik im Rahmen der EU zunehmend in ihr Gegenteil verkehrt wird.

Was können wir gegen die Militarisierung Europas tun?
Erst einmal Aufklärung betreiben. Wer weiß schon, dass der neue EU-Verfassungsvertrag eine Verpflichtung zur militärischen Aufrüstung enthält? Wer kennt schon die Planungen im Bereich europäischer Militarisierung bis 2010. Und wer spricht über die Euro-Milliarden, die dafür aufgebracht werden. Über die neoliberalen und militaristischen Inhalte der EU-Verfassung gibt es in der BRD so gut wie keine Debatte in den Medien. Das unterscheidet uns von manchen anderen Mitgliedsstaaten der EU. Es ist gut, dass es eine Friedensbewegung gibt, die den Krieg im Irak kritisiert. Und es ist gut, dass viele Menschen gegen den „Kriegsverbrecher“ Bush auf die Strasse gehen, wenn in den nächsten Monaten ein Feldzug gegen den Iran droht. („Kriegsverbrecher“ konnte ich George W. Bush im Übrigen in einem Redebeitrag im europäischen Parlament nennen, ohne dass es Widerspruch gab.)
Wir dürfen dabei nicht zulassen, dass sich die EU im Schatten der US-Kriege als „Friedensmacht“ verkaufen kann. Die EU will eigene kriegsführungsfähige Strukturen. Stattdessen müßte es strukturelle Angriffsunfähigkeit geben. Für die zukünftigen Opfer von Interventionskriegen ist es egal, wie sie begründet werden und wer sie durchführt, USA, NATO oder EU. Wir müssen Protest und Widerstand gegen diese Kriegspolitik organisieren. Die öffentliche Debatte um die Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages sollte genutzt werden, um dies deutlich zu machen.

Das Interview führte Thomas Walter.

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