Schwul ist nicht krank

Der Wissenschaftler Alfred Kinsey (Liam Neeson) fand heraus, dass viele Männer homosexuell sind. Dafür wurde er fertig gemacht.

Als er noch bei seinen Eltern wohnte, hat er sich manchmal mit einem Freund in der Scheune getroffen. Dort haben sie sich gestreichelt.

Doch eines Tages hat sein Vater ihn erwischt und seine anderen Söhne gerufen. Die Brüder des jungen Mannes schlugen ihn zusammen und pressten ihm glühendes Eisen in die Haut.

„Das Problem ist nicht, dass ich schwul bin. Ich wünschte nur, die Leute würden anders darauf reagieren“, erklärt er. Sein Zuhörer, der Sexualwissenschaftler Kinsey, schweigt betroffen.

Wir sind in den USA gegen Ende der 40er Jahre. Kinsey arbeitet an einer Studie über die Sexualität von Männern. Er und seine Mitarbeiter führen hunderte Interviews, um zu verstehen, was für sexuelle Bedürfnisse Männer haben.

Über das Ergebnis der Studie, wonach viele Männer schwule Gefühle haben, entrüstet sich das halbe Land, von Fernsehreportern bis zu Mitgliedern seiner Familie. Unerträglich wird der Druck auf Kinsey, als er in seinem zweiten Buch erklärt, Frauen könnten Spaß am Sex haben.
Bill Condons („Gods and Monsters“) Film zeichnet das Leben des Forschers nach, der die wissenschaftliche Grundlage für einen freieren Umgang mit Sexualität in den USA schuf. Der Zuschauer erlebt Kinsey als kränklichen Jungen, der unter seinem Vater leidet. Er ist ein erzkonservativer Laienprediger, der Autos für Teufelswerk hält, weil man darin ungestört Sex haben kann, und Reißverschlüsse, weil man damit seine Hose schneller aufkriegt.

Später sieht man Kinsey als Insektenforscher, der voller Ergeiz 1 Million Gallwespen sammelt und mit 27 jungfräulich heiratet. Schließlich ist Kinsey ein ebenso berühmter wie verhasster Wissenschaftler, der gegen die herrschende Moral antritt und dafür einen hohen Preis zahlt.

Der Film macht eine Zeit fühlbar, in der viele junge Menschen glaubten, Babys kämen durch den Bauchnabel zur Welt und Selbstbefriedigung mache blind. Sein größter Trumpf ist dabei Liam Neeson. Der Hauptdarsteller aus „Schindlers Liste“ überzeugt als schrulliger Wespensammler ebenso wie als Streiter gegen die Verlogenheit.

Ebenso berührt es den Zuschauer, wenn Kinsey seine eigene Sexualität entdeckt: seine Hilflosigkeit in der Hochzeitsnacht oder der schüchterne Kuss für seinen Lieblingsstudenten Clyde, mit dem er eine Affäre haben wird.

Nur wenige Hollywood-Filme zeigen so offen die Schwierigkeiten der Menschen mit Sexualität. Deshalb haben rechte Kirchen in den USA Propaganda gegen „Kinsey“ gemacht. Den Sittenwächtern gilt der Wissenschaftler als der „einflussreichste sexuell Perverse in der Geschichte der Nation.“ Zwei Fernsehsender weigerten sich sogar, Werbung für „Kinsey“ zu senden. Die Empörung über den Film zeigt, dass Kinseys Erkenntnisse bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren haben.

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