Das große Pokern

Folgende Rede hat Chris Harman im Mai 2004 auf einem Kongress im brasilianischen Porto Alegre vor linken Aktivisten gehalten. Er erklärt, warum die USA ihre imperiale Zukunft mit dem Irak verbinden. Gleichzeitig zieht er Lehren für die antikapitalistische Bewegung in Südamerika, die auch für Aktivisten in Europa von Bedeutung sind.Der Irak schafft für den US-Imperialismus eine schwere Krise. Die USA befinden sich in einer Lage, die der zur Zeit der Tet-Offensive in Vietnam im Februar 1968 sehr ähnlich ist: Fast alle Flügel der herrschenden Klasse Amerikas haben erkannt, dass sie den Krieg zu verlieren drohen; sie sehen jedoch keinen einfachen Weg, sich zurückzuziehen. Die USA brauchten nach der Tet-Offensive sieben Jahre, um Vietnam endgültig zu verlassen. Zwei Präsidenten mussten abtreten, die Armee brach auseinander, und der US-Imperialismus geriet in eine heftige Krise hinsichtlich seiner Fähigkeit, in anderen Teilen der Welt seinen Willen durchzusetzen. Heute steht der US-Imperialismus vor demselben Risiko. Zeitungen wie die Financial Times, die Washington Post, der Economist oder die New York Times, die allesamt vor zwölf Monaten den Krieg unterstützten, warnen den US-Imperialismus heute vor den anstehenden Gefahren. Zum Beispiel erschien kürzlich ein Artikel in der Financial Times mit der Überschrift „Irak ist ein Desaster, die Zukunft der Welt sieht jedoch noch viel verhängnisvoller aus“ – womit die Zukunft der kapitalistischen Welt gemeint ist.

Um die derzeitigen Entwicklungen zu verstehen, müssen wir ein tieferes Verständnis des Imperialismus entwickeln, als es unter vielen Linken verbreitet ist. Häufig wird der Imperialismus ausschließlich als Vorherrschaft der entwickelten über die rückständigen Länder verstanden. Das ist ein wichtiger Bestandteil des Imperialismus, aber in der klassischen Imperialismus-Theorie, wie sie von Lenin und Bucharin entwickelt wurde, steht das Zusammenspiel zwischen dem Staat und den riesigen Monopolen in den entwickelten Ländern im Mittelpunkt. Durch dieses Zusammenspiel wurde die Konkurrenz zwischen Kapitalien zur Konkurrenz zwischen Staaten, was zu militärischen Konflikten zwischen Staaten führte. Riesige Monopole in jedem Land benutzten den Staat, um ihre Macht auf Kosten der Monopole anderer imperialistischer Länder auszudehnen. Der klassischen Theorie folgend führte der Imperialismus deshalb zu Krieg, gefolgt von Zeiten bewaffneten Friedens und wiederum gefolgt von Kriegszeiten.

In den letzten 30 bis 40 Jahren hat sich dieser Prozess verändert. In den 1960er Jahren wurde in den großen imperialistischen Ländern vor allem für kontrollierte Märkte innerhalb des jeweiligen Landes produziert. In den letzten 30 Jahren konnten wir eine zunehmende wechselseitige Durchdringung der Volkswirtschaften beobachten. Diese Durchdringung beseitigt aber nicht die Konflikte zwischen den Staaten, weil die multinationalen Konzerne ihren Firmensitz in der Regel in einem bestimmten Land haben. Diejenigen, die multinationale Konzerne kontrollieren, gehören in der Regel zur herrschenden Klasse eines bestimmten Landes und betrachten die Staatsmacht dieses Landes als eine Waffe, mit der sie bei Verhandlungen mit multinationalen Konzernen anderer Länder Druck ausüben können.

Wer sich die Zusammensetzung der Vorstände von US-Spitzenkonzernen ansieht, wird feststellen, dass fast alle Vorstandsmitglieder aus den USA stammen. Bei Microsoft gibt es ein Vorstandsmitglied, das nicht aus den USA stammt, bei Boeing keins, bei Exxon eins. Die Konzerne haben nationale Standorte und betrachten ihren jeweiligen Staat als Mittel, Konzernen aus anderen Ländern ihren Willen aufzuzwingen.

In Mode gekommen ist eine Theorie von Leuten wie Antonio Negri, wonach auf Grund der gegenseitigen Durchdringung nationaler Kapitalien die Vorstellung von Imperialismus aufgegeben und stattdessen die von einem abstrakten Etwas namens „Empire“ entwickelt werden müsse. In Wirklichkeit führt die Multinationalisierung des Kapitals zu mehr Konflikten zwischen den Nationalstaaten, nicht zu weniger. Die Gespräche der Welthandelsorganisation (WTO) sind Verhandlungen zwischen Nationalstaaten, die im Interesse nationaler Kapitalismen handeln. Alle möglichen Fakten kommen ins Spiel – nicht nur wirtschaftliche, sondern auch militärische Stärke, die Fähigkeit einiger Kapitalismen, die Vorherrschaft über andere auszuüben.

Die wichtigsten Formen der gegenseitigen Durchdringung bestehen zwischen den entwickelten Ländern. China empfängt sehr hohe Auslandsinvestitionen, Brasilien und Mexiko geringere, aber in die meisten anderen Länder der Welt fließen nur geringe Auslandsinvestitionen. Die Investitionsströme zeigen an, wo die wirklichen Zentren der Mehrwertschaffung in der heutigen Welt sind. Die allerwichtigsten sind die USA, Europa und Japan. Nach ihnen spielt China eine zunehmende Rolle, dann folgen Brasilien, Mexiko und ein oder zwei andere Länder. Nach Europa fließen etwa 500 Mal mehr US-Investitionen als nach Indien. Die Bevölkerung Indiens ist dreimal größer als die Europas, aber die US-Kapitalisten halten Europa für erheblich wichtiger.

Der Kampf um Kontrolle

Die Konzentration ihrer Auslandsinvestitionen in anderen entwickelten Ländern führt zu Komplikationen, wenn die Kapitalisten den Staat benutzen, um sich gegenüber ihren Konkurrenten zu behaupten. US-Kapitalisten sind nicht besonders erpicht darauf, ihre Fabriken in Europa zu bombardieren. Selbst wenn sie über die militärische Stärke verfügen würden, hätten europäische Kapitalisten wenig Interesse, ihre Fabriken in den USA zu bombardieren. Sie können jedoch verschiedene Arten von Kämpfen in anderen Gegenden der Welt nutzen, um Druck auf die anderen auszuüben. An dieser Stelle kommt die zentrale Frage des Nahe Ostens ins Spiel, weil diese Region das Produktionszentrum jenes Rohmaterials bildet, das jedes kapitalistische Land der Welt braucht – Öl. Der Kampf um die Kontrolle des Öls ist ein Kampf um die Kontrolle der Macht eines kapitalistischen Blocks über andere kapitalistische Blöcke.

Das meiste von den USA verbrauchte Öl stammt aus der westlichen Hemisphäre – aus den USA selbst, aus Kanada, Mexiko und – was sehr wichtig ist – aus Venezuela. Es kommt nicht aus dem Nahen Osten. Ein Großteil des in Europa verbrauchten Öls kommt jedoch aus dem Nahen Osten, Japan importiert fast seinen gesamten Ölbedarf von dort und auch China ist zunehmend auf dieses Öl angewiesen.

Wie sieht das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen kapitalistischen Mächten aus? Die USA sind nicht übermächtig. Ihre Wirtschaft entspricht lediglich der Größe der erweiterten Europäischen Union. Sie sind wirtschaftlich stärker als vor zehn Jahren, aber verglichen mit 1945 sind sie viel schwächer. Im Jahr 1945 wurde die Hälfte aller Güter der Welt in den USA hergestellt. Heute sind es höchstens noch 22 Prozent. Diese Veränderung hat zu einer strategischen Diskussion innerhalb der herrschenden Klasse der USA geführt. Sie hatten lange Zeit überall außerhalb der Sowjetunion die Vorherrschaft ausgeübt. Heute besteht das Problem der herrschenden Klasse darin, sie wieder zu erlangen.

Mittel dazu waren und sind die Rationalisierungen in der US-Industrie. In Bezug auf die Pro-Kopf-Produktivität nach Beschäftigten ist die amerikanische Industrie produktiver als die Frankreichs und Deutschlands, aber in Bezug auf die Produktivität pro Arbeitsstunde ist die französische Industrie produktiver als die amerikanische. Die USA sind gegenüber Frankreich und Deutschland führend, weil amerikanische Arbeiter im Jahr durchschnittlich 400 Stunden mehr arbeiten.

Teil des neoliberalen Projekts ist der Versuch anderer Kapitalisten, der restlichen Welt amerikanische Arbeitsmethoden aufzuzwingen – zum Beispiel das Arbeitsjahr in Frankreich von 1.400 auf 2.000 Stunden zu verlängern. Die andere Seite der Aggressivität des US-Imperialismus auf internationaler Ebene ist die erhöhte Ausbeutung amerikanischer Arbeiter, die die Kapitalisten anderer Länder nachzuahmen versuchen.

In den vergangenen 10 bis 15 Jahren wurde innerhalb der herrschenden Klasse der USA diskutiert, wie sie ihre globale Dominanz erhalten kann. Bücher von wichtigen Theoretikern wie Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski behandeln alle die Frage, wie die USA ihre Stellung in der Welt gegenüber anderen Mächten aufrechterhalten können, von denen keine so mächtig sind wie die USA, die jedoch gemeinsam ein viel größeres wirtschaftliches Gewicht darstellen. Angesichts dieser Lage wurden von US-Regierungen zwei Strategien verfolgt.

Die erste unter Reagan vor 20 Jahren bestand darin, die militärische Stärke auszubauen, um den damaligen Hauptgegner Russland zu erdrücken. Hierfür musste die US-Wirtschaft einen hohen Preis bezahlen. Reagan rüstete auf, aber Ende der 1980er Jahre konnte sich die US-Wirtschaft diesen hohen Grad der Rüstungsproduktion nicht mehr leisten. Zu Reagans Glück brach Russland vorher zusammen.

Dann folgten die Regierungszeiten von Bush Senior und Clinton, in denen die USA dazu übergingen, mit anderen kapitalistischen Mächten Abkommen zu schließen, um das Kräfteverhältnis zu ihren eigenen Gunsten aufrechtzuerhalten. In dieser Zeit tauchte häufig die Frage auf, ob der US-Imperialismus einfach so weitermachen könne – oder würde er vor neuen Bedrohungen stehen?

Mit der jetzigen Bush-Regierung kam eine Gruppierung der herrschenden Klasse ins Amt, die seit einigen Jahren argumentiert hatte, der US-Imperialismus könne nicht einfach tatenlos zusehen, wie andere aufstrebende Länder seine Macht herausfordern. Zum Beispiel vertraten sie die Ansicht, die chinesische Wirtschaft würde in 20 Jahren mächtiger als die US-Wirtschaft sein, wenn sie auf demselben Niveau weiterwachse. Das ist ein ziemlich schlechtes Argument, weil eine kapitalistische Wirtschaft, die Krisen und Rezessionen unterworfen ist, nicht endlos in demselben Maße weiterwächst. Genau darüber machten sie sich aber Sorgen. Sie argumentierten weiter, es gebe angesichts dieser Lage ein gewisses Zeitfenster für den US-Imperialismus, sich zu behaupten und seine Hegemonie im 21. Jahrhundert zu sichern. Dazu bedürfe es einer neuen Runde massiver Rüstungsproduktion, um die vollständige militärische Vorherrschaft zu erlangen. Die USA müssten anschließend Beispiele schaffen, um diese Stärke zu beweisen. Und das von ihnen genannte Hauptbeispiel war der Irak, weil er potenziell der zweitgrößte Ölproduzent der Welt ist. Wer das irakische Öl kontrolliert, kontrolliert das Öl, von dem Japan, China und ein großer Teil Europas abhängig sind. Auf diese Weise könnten sich die USA in Verhandlungen über Handel, Investitionen und so weiter einen größeren Hebel verschaffen. Das war die Stoßrichtung des „Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert“, das von Bushs Bruder Jeb, Paul Wolfowitz, Donald Rumsfeld und anderen Schlüsselfiguren der jetzigen US-Regierung vorangetrieben wurde.

Die US-Hegemonie zu behaupten hieß, überall auf der Welt ausbeuten zu können. Im Mittelpunkt aber stand die Dominanz über die Europäische Union, Russland, China und Japan als wichtigste Zentren der Weltökonomie.

Diese Politik beruhte auf einem „Pokerspiel“: die erforderlichen Ausgaben dürften unter dem Strich nicht den erwarteten Gewinn übersteigen. Die Rüstungsausgaben sind viel niedriger als während des Koreakriegs. Allerdings ist auch die Leistungskraft der US-Wirtschaft viel geringer als damals. Wer über 50 Prozent der Weltproduktion verfügt, kann sich davon 20 Prozent für Waffen leisten, was zur Zeit des Koreakriegs der Fall war. Bei nur noch 20 bis 25 Prozent der Weltproduktion sind Ausgaben in derselben Höhe nicht zu verkraften. Auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, 1968, konnten es sich die USA nicht mehr leisten, 8 Prozent ihrer Produktion für Waffen auszugeben. Aus diesem Grund drosselten sie nach und nach ihre Rüstungsausgaben.

Die Bush-Regierung ließ sich also auf ein waghalsiges Unternehmen in Bezug auf den Irak ein. In dessen Mittelpunkt stand die Rumsfeld-Doktrin, wonach die USA durch Einsatz ihrer hochentwickelten Militärtechnologie einen billigen Krieg mit geringem Truppeneinsatz führen könnten.

Sie vergaßen ein paar entscheidende Dinge. Erstens: Wer eine Opposition in einem anderen Land zerschlagen will, benötigt nicht nur Waffen, sondern auch jede Menge Soldaten. Als die Russen 1956 in Ungarn einmarschierten, setzten sie 500.000 Soldaten gegen 10 Millionen Menschen ein. Als sie 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, waren es erneut 500.000 Soldaten gegen 10 Millionen Menschen. Im Irak versuchen die USA mit 130.000 Soldaten gegen eine Bevölkerung von 20 Millionen Menschen anzukommen.

Zweitens vergaßen sie, dass die Situation der Bevölkerungen überall in der Dritten Welt heute anders ist als vor 50 oder 60 Jahren. Heute sind sie Teil einer modernen Welt und haben einen gewissen Zugang zu Wissen, Technik und den in dieser Welt erhältlichen Waffen. Die USA vergaßen, warum Frankreich gezwungen war, Algerien aufzugeben, oder Großbritannien Indien. Sie glaubten, rein militärische Übermacht sei ausreichend für einen Sieg. Vor über einem Jahr argumentierte der Socialist Review [Monatsmagazin der britischen Socialist Workers Party], dass die Amerikaner im Irak eine stetig wachsende Opposition gegen sich hervorrufen und sich festfahren würden. Vor genau dieser Situation stehen wir heute.

Kontrolle über das Öl

Die USA können sich nicht einfach aus dem Irak zurückziehen Andererseits scheint es keine Möglichkeit zu geben, den Widerstand zu brechen. Es gibt nur einen Weg, eine irakische Regierung mit einer echten sozialen Basis zu etablieren, die gleichzeitig mit den USA zusammenarbeitet: Die USA müssten die Kontrolle über das Öl an diese Regierung abtreten. Damit würden sie aber den eigentlichen Zweck des Krieges aufgeben. Der US-Imperialismus würde gleichzeitig eine Niederlage eingestehen. Sie haben sich festgefahren. Daraus ergibt sich, dass sie immer mehr Mittel in den Irak pumpen müssen, was mehr Probleme für sie schaffen wird und eine noch größere Demütigung bedeuten würde, wenn sie schließlich zum Abzug gezwungen wären. Deshalb ist die Irakfrage das zentrale strategische Problem für den heutigen Imperialismus und stellt alle anderen Probleme in den Schatten.

In Lateinamerika überschätzen die Menschen aus guten Gründen häufig die Macht des Imperialismus. Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein: Die USA sind zurzeit nicht in der Lage, in irgendein Land einzumarschieren, in dem es echte Widerstandsbewegungen dagegen gibt. Sie konnten kürzlich in Haiti intervenieren, weil Aristide eine breite Unterstützungsbewegung zerstört und so eine sehr schwammige Opposition mit sowohl populären als auch reaktionären Elementen erzeugt hatte. Wenn sich die Volksbewegung in Venezuela weiterentwickelt, wird ein direktes Eingreifen der USA schwierig sein. Sie können versuchen, über Kolumbien einzugreifen, aber eine direkte militärische Intervention der USA wäre eine andere Geschichte. Die USA haben einfach nicht genügend Soldaten dafür. Sie mussten sogar Soldaten aus Südkorea [und mittlerweile auch Deutschland, d. Red.] abziehen, um sie in den Irak zu schicken.

Die gegenwärtige Schwäche des US-Imperialismus hat weitere Implikationen. Reformistische Kräfte in Lateinamerika weisen auf die Möglichkeit eines US-Eingreifens hin, um ein Übereinkommen mit den USA zu rechtfertigen. Das ist das Kernargument von Evo Morales [Begründer der „Bewegung zum Sozialismus“ in Bolivien. Bei der Präsidentschaftswahl 2002 hat er völlig überraschend mit über 20 Prozent die zweitmeisten Stimmen erhalten, d. Red] in Bolivien: Die Revolution könne nicht vorangetrieben werden, weil dann die USA eingreifen würden. Das Argument sollte jedoch ganz anders lauten: Die USA befinden sich in einer schwachen Position, der schwächsten seit dem Vietnamkrieg, und gerade diese Situation erlaubt es, eine breite Mobilisierung voranzutreiben.

Einige lateinamerikanische Linke stellen die USA gerne als Manipulatoren der einheimischen Kapitalisten dar, die von den USA zum Hass gegenüber der Arbeiterklasse angestiftet werden. Diese Ansicht wurde traditionell von stalinistischen Parteien vertreten, weil diese ein Bündnis mit den einheimischen Kapitalisten anstrebten. Aber die lateinamerikanischen Kapitalisten brauchen keine Nachhilfe aus den USA über Klassenhass gegenüber Arbeitern und Bauern. Die Generäle in Brasilien brauchten 1964 keinen Nachhilfe, ebenso wenig Videla in Argentinien oder Pinochet in Chile [General Branco 1964 in Brasilen, Augusto Pinochet 1973 in Chile und Jorge Rafael Videla 1976 in Argentinien führten Militärputsche gegen linke Regierungen durch und bauten anschließend in ihren Ländern diktatorische Regime auf, d. Red.]. Sie erhielten Hilfe von den USA – Geheimdienstinformationen, Koordination und so weiter – aber es waren die einheimische herrschende Klasse und die einheimische Armee selbst, die kämpften. Hierbei verwendeten sie häufig nationalistische Parolen, um die Arbeiterklasse anzugreifen. Diese Gefahr besteht zweifellos auch noch heute.

Ein weiterer Punkt muss verstanden werden. Die Dynamik der einheimischen kapitalistischen Klasse und die Dynamik der US-Interessen überschneiden sich nicht immer. Am Beispiel von Venezuela ist interessant, dass der Putschversuch vor zwei Jahren von den einheimischen Kapitalisten und Generälen angetrieben wurde – das US-Außenministerium war darüber nicht besonders glücklich, weil es glaubte, Chávez steuern zu können.1 Die einheimischen Kapitalisten machten den ersten Schritt, und dann unterstützen die USA den Putsch, ehe sie begriffen, dass es ein Fehler war. Das gilt umso mehr für den Unternehmerstreik im letzten Jahr. Ich glaube nicht, dass die USA ihre Öllieferungen aus Venezuela gerade in dem Moment unterbrechen wollten, als sie sich auf den Irakkrieg vorbereiteten.

Wir müssen verstehen, dass der Imperialismus und die Kapitalisten vor Ort aufgrund anderer Ziele häufig gegeneinander arbeiten und so große Fehler machen, aus denen wir Nutzen ziehen können. Gleichzeitig müssen wir uns daran erinnern, dass sie sich auf jeden Fehler der Linken stürzen werden, um einzugreifen. Deshalb bleibt die Frage nach revolutionärer Führung lebenswichtig.

In Venezuela haben die Massen Chávez unterstützt, weil er eine Reihe Reformen durchführte, die die herrschende Klasse verärgerten. Aber es gab keine Revolution. Dieselben Leute, die den Putsch vor zwei Jahren organisierten, kontrollieren noch immer das Radio, das Fernsehen, die Zeitungen. Die Krise des US-Imperialismus im Irak verschafft Venezuela Zeit. Wenn der revolutionäre Prozess jedoch nicht vorwärts kommt, um die Macht des Kapitalismus herauszufordern, kann es zu einer Wiederholung von Chile kommen. Dabei geht es nicht darum, Chávez zu verunglimpfen. Er ist ein Mann der Armee mit den besten Absichten, der Reformen durchführt. Aber er hat den Kapitalismus nicht gestürzt und zeigt auch nicht den geringsten Willen, dies zu tun. Und das beweist die Notwendigkeit unabhängigen revolutionären Handelns.

Um das Gesagte zusammenzufassen: Die Krise des US-Imperialismus ist kein Zufall. Er kämpft jetzt in einer Situation, in der jede Entwicklung des Kapitalismus neue Kräfte hervorruft, die auf die eine oder andere Weise seine Hegemonie in Frage stellen können. Er reagiert auf zweierlei Weise: durch Umstrukturierung, durch Erhöhung der Ausbeutung seiner Arbeiterklasse, aber auch durch den Versuch, seine Überlegenheit zu demonstrieren. Das „Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert“ behauptete, es werde mit dem Irak fertig werden, dann mit Syrien, dann mit dem Iran, dann Kuba, dann Venezuela – und am Ende der Liste stand China. Heute kommen die Amerikaner wegen des Iraks nicht voran.

Das heißt nicht, dass sie einfach friedlich verschwinden werden. Ich denke, sie werden sehr wahrscheinlich irgendwo anders zuschlagen. Wenn es irgendwo auf der Welt einen Ort mit einer schwachen Bewegung gibt, der den US-Imperialismus ärgert, werden sie versuchen dort einzugreifen, um zu beweisen, dass sie es können, so wie sie es in Haiti gemacht haben. Wir sollten uns daran erinnern, dass Nixon und Kissinger, nachdem die USA grundsätzlich entschieden hatten, Vietnam nicht halten zu können, noch eine Million Menschen in Kambodscha umbringen ließen. Wir können nicht ausschließen, dass Bush – oder gegebenenfalls Kerry – dieses schreckliche Beispiel wiederholen wird. Der Kampf gegen die USA im Irak ist nicht beendet, weil die USA sich in einer ungünstigen Lage befinden. Dies wird in der kommenden Zeit zur entscheidenden strategischen Frage für Revolutionäre werden.

1 Anm. d. Red.: Hugo Chávez gilt als Hoffnungsträger der armen Bevölkerung Venzuelas. 1998 ist er als Präsident gewählt worden. Seitdem gerät er immer wieder in Konflikt mit den Unternehmern des Landes, aber auch mit den USA. Venezuela ist der drittgrößte Öllieferant der Vereinigten Staaten. Im Dezember 2001 brachte Chávez ein Gesetzespaket auf den Weg, das eine Sondersteuer für transnationale Ölkonzerne, freie Bildung bis zur Uni und Gesundheitsversorgung und eine grundlegende Landreform beinhaltet. Dieses Gesetzespaket brachte ihm den erbitterten Widerstand der alten Eliten ein. Seitdem haben sie – mit Unterstützung durch die USA – mehrfach erfolglos versucht, Chávez zu stürzen. Im April 2002 scheiterte ein Putsch am Widerstand der Bevölkerung – ebenso ein Boykott der Unternehmer Anfang 2003. Im Sommer 2004 versuchte die Rechte Opposition den Präsidenten mit Hilfe eines Referendums des Amtes zu entheben. Die Mehrheit der Venezuelaner stimmte jedoch für Chávez.Übersetzung: Rosemarie Nünning

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