Interview mit Noam Chomsky

Noam Chomsky ist heute einer der bekanntesten Schriftsteller und antiimperialistischen Aktivisten in Amerika. Er hat über viele Themen geschrieben, darunter auch über die Rolle der Medien und den Kosovokrieg. Im folgenden wir ein Interview veröffentlicht, welches unsere englische Schwesterorganisation, die Socialist Workers Party, vor kurzem mit Chomsky führte.Wie wichtig waren die Proteste gegen die Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle und gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank in Washington?

SEHR WICHTIG! Ich kann mich an nichts Vergleichbares erinnern.
Es gab schon lange Stimmen gegen das, was irreführend Globalisierung genannt wird, diese eigentümliche Art von internationalen Verflechtungen unter der Kontrolle der Konzerne, unter der sehr viele Leute leiden – wahrscheinlich die Mehrheit der Weltbevölkerung. Das hat zu lokalen Protesten gegen einzelne Aspekte geführt.
Aber in den letzten Jahren haben sich diese Proteste verbunden. Man kann das an sehr vielen Beispielen sehen. Die internationalen Aktionen gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) waren extrem beeindruckend. Sie wurden sehr kurzfristig organisiert, praktisch ohne Beachtung durch die Medien. In Seattle fand ein mächtiger Protest statt, und die mächtigen Institutionen mußte zurückweichen. In Washington war es die gleiche Geschichte.
Die Vielfalt der Beteiligten an diesen Protesten ist bemerkenswert. Sie brachten Leute zusammen, die in der Vergangenheit nicht viel miteinander zu tun hatten, wie z.B. Stahlarbeiter, Homosexuelle und Umweltschützer.
Die Proteste hatten auch einen internationalen Charakter, weil sie Leute von verschiedensten Bewegungen zusammengebracht haben, zB. landlose Arbeiter aus Brasilien, Bauern aus Indien und Arbeiter aus den USA.

Die Bewegung in Washington schien an Tiefe und Politisierung gewonnen zu haben. Die Leute haben Verbindungen gezogen, wie wir es lange nicht gesehen haben.

Ja. Die Demonstranten wissen, wovon sie reden. Sie stellen sich grundlegendere Fragen. Leute, die die Proteste reformistisch nennen, liegen falsch.
Zunächst einmal sind Reformen gut – wenn du sie durchsetzen kannst, helfen sie Leuten. Aber auch, wenn ihnen eine Grenze gesetzt ist, hilft es dir zu verstehen, wie die Welt funktioniert, und das ist wichtig.
Du fängst damit an, eine kleine Reform zu fordern. Du merkst, du kannst einen kleinen Fortschritt erreichen, doch dann rennst du gegen eine Wand. Daraus lernst du etwas. Du fragst dich, warum da eine Wand ist, und du durchschaust ein bißchen mehr, wie das System funktioniert. Dann gibt es mehr Druck, der manchmal eine stärkere Reaktion hervorruft.
Ein wichtiger Bestandteil der Proteste ist, daß die Beteiligten daraus lernen. Du lernst, wo Institutionen nachgeben und wo sie es nicht tun. Das bereitet die Aktivisten auf die nächste Protestphase vor.

Es scheint unter den Demonstranten ein genaues Verständnis davon zu geben, wie die Konzerne alles Leben aus der Welt saugen; und auch eine Vision von einer im wesentlichen sozialistischen Gesellschaft.

Für einige trifft das zu. Und dies sind in großem Maße Leute, die das durch ihre Erfahrung im Kampf um Reformen gelernt haben..
Am Anfang gehst du zu einer Konferenz von Investoren und forderst zu sozial verträglichen Investitionen auf. Du merkst, daß du damit vielleicht ein wenig erreichen kannst, aber Du wirst nicht sehr weit kommen. Du fragst dich, warum das so ist und gelangst zu der Erkenntnis, die Ihr gerade beschrieben habt.

Vor 10 Jahren wurde uns gesagt, wir wären am „Ende der Geschichte“, am Ende von Kriegen und gesellschaftlichen Konflikten. Wie paßt das zur Realität der heutigen Welt?

Das Sowjetimperium ist zusammengebrochen, und andere Regionen Jugoslawien sind zusammengebrochen. Wenn es einen derartigen Zusammenbruch gibt, entstehen gewalttätige ethnische Konflikte, weil Herrschaftssysteme wie totalitäre Staaten dazu neigen, innere Konflikte zu unterdrücken. Als das britische Weltreich zusammenbrach, kam es zu Grausamkeiten, die viel schlimmer waren als alles, was heute in Osteuropa passiert.
In Südasien entstand ein Krieg zwischen Indien und Pakistan, der immer noch anhält, 50 Jahre danach. Das Gleiche gilt für Palästina.
Als das französische Weltreich zusammenbrach, gab es Kriege in ganz Afrika. Genauso, als das portugiesische Imperium Mitte der 70er Jahre kollabierte. Es brachen erbitterte Kriege in Afrika aus. Südafrika versuchte als Vorkämpfer für die USA und Großbritannien, diejenigen Staaten niederzuhalten, die gerade unabhängig geworden waren.
In Südostasien, wo Portugal ein kleines Reich hatte, erlebten wir dasgleiche, nur daß diesmal Indonesien die Rolle von Südafrika spielte. Die Gewalt in Ost-Timor hielt bis ins letzte Jahr an.
Die Geschichte wiederholte sich, als das russische Imperium zusammenbrach. Viele der Konflikte in Afrika heute, z.B. in Ruanda, sind direktes Ergebnis des Zusammenbruches des belgischen, deutschen und französischen Kolonialsystems.

Welche Rolle spielt dabei die amerikanische Außen- bzw. Militärpolitik?

Es ist die gleiche Geschichte. Ein interessanter Aspekt ist der Waffenhandel.
Die Hauptempfänger von Waffen sind Israel und Ägypten. Ägypten wird beliefert, weil es Israel unterstützt. Das hat etwas mit der amerikanischen Vormachtstellung über die Ölvorkommen im Nahen Osten zu tun.
Die Türkei ist auch ein führender Empfänger von US-Waffen. Die Türkei ist ein NATO-Staat und stand während des kalten Krieges an der Frontlinie. Aber die Höhe der Waffenlieferungen war relativ gleichbleibend und bis 1984 nicht allzu hoch. Dann stiegen sie enorm an und blieben hoch. Die Spitze stellte das Jahr 1997 dar. In diesem Jahr importierte die Türkei mehr Waffen von den USA, als in der ganzen Zeit von 1950 bis 1984.
Das lag daran, daß der türkische Staat einen immensen Fluß von US-Waffen benötigte, um die Kurden zu schlagen. Also flossen amerikanische Waffenlieferungen für massive ethnische Säuberungen und Massaker im Südosten der Türkei.
1998 hatten sie die kurdische Bewegung unterdrückt und der Waffenhandel wurde geringer.
Bis dahin war die Türkei der führende Empfänger von US-Waffen, abgesehen von Israel und Ägypten. 1999 wurden sie von Kolumbien übertrumpft. Ebenso wurde die kolumbianische Regierung, wenn es um Verstöße gegen Menschenrechte ging, in den Menschenrechtsberichten an führender Stelle erwähnt. Kolumbien war der führende US-Waffenempfänger in der westlichen Hemisphäre in den 90ern. Warum? Weil Kolumbien eine starke Guerillabewegung hat, welche der Staat ohne Hilfe nicht zerschlagen kann.

Wie passen die Bombardements der NATO im Balkan da hinein?

Als die NATO Jugoslawien bombardierte, tat sie das nicht nicht wegen der Menschenrechtsverletzungen. Die NATO schert sich einen feuchten Kehricht um Menschenrechte. Die NATO tat das, weil sich Serbien nicht an die Regeln gehalten hat.
Milosevic ist ohne Zweifel ein Kriegsverbrecher und ein Schurke. Aber die USA und Großbritannien haben keine Probleme damit, Kriegsverbrecher und Schurken zu unterstützen – sie tun das die ganze Zeit.
Zum Beispiel Saddam Hussein. Tony Blair und die Vereinigten Staaten erzählen, daß er das einzige Monster in der Geschichte ist, das nicht nur Massenvernichtungswaffen entwickelt hat, sondern diese sogar gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat. Was nicht erwähnt wird, ist: Hussein hat Massenvernichtungswaffen gegen seine eigene Bevölkerung eingesetzt, aber mit der UNTERSTÜTZUNG von Amerika und Großbritannien.
Der wahre Grund, warum sie hinter Saddam Hussein her sind, ist, daß er Anweisungen des Westens nicht befolgt hat. Das ist offensichtlich ein „Verbrechen“. Ihr könnt Kurden vergasen, wenn ihr mögt – wir kümmern uns nicht darum – aber mißachtet keine Befehle! So arbeiten Großmächte. Die Vereinigten Staaten arbeiten so. Großbritannien, der Kampfhund der Vereinigten Staaten, arbeitetn so. Rußland macht das gleiche in Tschetschenien.

Was haben die Großkonzerne mit all dem zu tun?

Staaten sind bis zu einem gewissen Grad unabhängige Akteure. Aber überwiegend reflektieren sie die Machtkonzentration in ihrem Inneren. Diese Konzentration in heutigen Industriestaaten ist konzentrierte Konzernherrschaft. Diese Machtkonzentration ist in den USA extrem hoch, aber sie ist auch international – obwohl Großkonzerne fest verwurzelt und abhängig von ihren eigenen Heimatstaaten sind.
Was man Globalisierung nennt, eine Entwicklung, die seit den letzten 25 Jahren stattfindet, ist ein wirkliches Machtspiel der konzentrierten Konzernmacht, und die Staaten sind damit verbunden. Sie versuchen, eine spezielle Form der globalen Verschmelzung zu entwickeln, die im Interesse der Finanzinstitutionen ist. Was mit der Bevölkerung passiert, ist für sie nebensächlich. Selbst die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum sind für sie nebensächlich. Man hört viel aufgeregtes Gerede darüber, wie wunderbar der Wirtschaftsbericht in den letzten 25 Jahren war. Das ist totaler Unsinn.
In der Phase ab Mitte der Siebziger bis zur Mitte der Neunziger ist das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern ungefähr um die Hälfte gesunken. Die Löhne in den meisten Industrieländern stagnierten oder sanken, hauptsächlich in den USA. Arbeitsstunden vermehren sich, Sozialleistungen gehen runter.
Obwohl sich das Wachstum verlangsamt hat, gibt es hochkonzentrierte Profite.
In der Dritten Welt beträgt die Wachstumsrate in den 90ern 50% von der in den 70ern. Das ist eines der Ergebnisse der Globalisierung und hauptsächlich auf die finanzielle Liberalisierung zurückzuführen. Diese Veränderungen der letzten 25 Jahre beeinflußten die internationale Wirtschaft negativ. Sie wächst noch, aber nicht so wie vorher. Und sie konzentriert viel mehr Reichtum und Macht als vorher und unterminiert demokratische Prozesse.
Es gibt auch noch andere Prozesse, die die Demokratie aushöhlen. Nehmen wir z.B. die Europäische Union. Ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union ist die Übertragung von Macht an die Zentralbanken. Das ist in der Tat ein harter Schlag gegen die Demokratie. So hart, daß selbst Teile der Konservativen in den USA schokiert waren.

Was haben die Großkonzerne mit all dem zu tun?

Die Durchschnittslöhne in den USA haben heute gerade einmal das Niveau vor 20 Jahren erreicht. Eine Periode von 20 Jahren, in der die Löhne stagnierten oder fielen und das, obwohl es Wirtschaftswachstum gab, ist beispiellos. US-Arbeiter leiden unter der höchsten Arbeitsbelastung der industriellen Welt. Sie haben Japan in dieser Hinsicht vor einigen jahren überholt. In den USA müssen zwei Familienmitglieder arbeiten, damit das Essen auf dem Tisch steht. Es gibt kein System der Kindertagesbetreuung, d.h. man muß erst einmal überlegen, wohin mit den Kindern. Das ist eine unglaubliche Belastung für die Familien. Es ist also bei dieser Belastung auch kein Wunder, daß die Rate der Kindesmißhandlungen gestiegen ist. In bezug auf die meisten sozialen Indikatoren der USA kann man nur sagen: es geht seit Mitte der 70er bergab. Die Menschen fühlen das in ihrem Privatleben, aber sie beginnen auch, es kollektiv zu fühlen. Das betrifft nicht nur die Industriearbeiterschaft, sondern zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Kleine Bauern gehen ebenso pleite wie kleine Ladenbesitzer. Mit Ausnahme eines kleinen Teils leiden die Menschen. Und das war einer der Gründe für die Proteste in Seattle. In der Zukunft werden die Konflikte und Kämpfe weitergehen. Man sollte über sie nicht spekulieren, denn sie nicht nicht vorhersagbar. Man muß einfach etwas tun.

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