Wo kommen die Ideen her?

In den achtziger Jahren gehörte es fast schon zum „guten Ton“ unter Sozialwissenschaftlern, vom Ende oder vom langsamen Absterben der Arbeiterklasse zu sprechen. Wir haben dagegen in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift argumentiert [1], daß die Entwicklung der Produktivkräfte zwar zu einer Umstrukturierung der Klassen geführt hat, daß es eine „Proletarisierung“ im Angestellten- und Dienstleistungssektor gegeben hat und daß parallel zum Verschwinden des alten Besitzkleinbürgertums eine neue, lohnabhängige Mittelklasse entstanden ist. Die Arbeiterklasse im marxistischen Sinn macht heute knapp drei Viertel aller Erwerbstätigen aus, die neue Mittelklasse zwischen 15 und 20 Prozent.
Der Anstieg sozialer Kämpfe in den 90er Jahren konnte jedoch von Sozialwissenschaftlern nicht ignoriert werden. Der Streik der Verkäuferinnen im Frühjahr dieses Jahres hat noch einmal unterstrichen, wie unsinnig es wäre, von einer neuen „Dienstleistungsklasse“ zu reden. Manche sprechen daher von einer Tendenz zur „Rückkehr der sozialen Frage“. Und nicht alle gehen so weit wie der Soziologe Ulrich Beck, der vom „Kapitalismus ohne Klassen“ spricht.

Um so populärer ist dagegen die These von der „Entkoppelung“ vonKlassenbewußtsein und Klassenlage geworden. Sie besagt, daß die Zugehörigkeit zu
einer ökonomischen Klasse kein bestimmender Faktor für Bewußtseinsbildung mehr
ist und wohl auch nicht mehr werden kann. Ganz Vorsichtige argumentieren gar mit
beiden Argumenten: erstens gebe es keine Arbeiterklasse mehr und zweitens habe
die Klassenlage keinen Einfluß mehr auf das Bewußtsein der Individuen und damit
auf die politischen und sozialen Prozesse. [2]

Ein platter Materialismus ist einem nicht weniger platten Idealismus
gewichen.

Marx und Engels waren davon ausgegangen, daß sich das Bewußtsein der Menschen
in Abhängigkeit von ihrem „gesellschaftliche Sein“ entwickelt. Unter
„gesellschaftlichem Sein“ verstanden sie vor allem den Stand der Entwicklung der
Produktivkräfte (Technik, Wissen und Ausbildung usw.) und die darauf fußenden
Produktion- soder Eigentumsverhältnisse.

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die
Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,
Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer
materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser
Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die
reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und
welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die
Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und
geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen,
das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr
Bewußtsein bestimmt. [3]

Der Begriff „gesellschaftliches Sein“ schließt mit ein, daß es sich
um eine von Menschen selbst gemachte und gestaltete Umwelt handelt, daß die
Menschen insofern nicht nur ein Produkt ihrer Umwelt, sondern die Umwelt ein
Produkt tätiger und bewußt handelnder Menschen ist. Die Menschen sind nicht frei
von den Umständen, unter denen sie leben, aber man kann sie auch nicht darauf
reduzieren. Die sind ständig damit beschäftigt, die vorgefundene, materielle und
objektive Welt um sich zu „negieren“, indem sie darauf aktiv reagieren, d.h. in
einer Weise, daß sie sowohl sich als auch die Umwelt verändern.

Noch zu Engels Lebzeiten gab es in der deutschen Sozialdemokratie heftige
Debatten darüber, wie der historische Materialismus zu verstehen sei. Im Zentrum
der Debatte stand die Frage, wie genau die Bestimmung des Überbaus (und des
Bewußtseins) durch die Basis aussehe und wie weit sie gehe, ob und wieviel
Autonomie dem menschlichen Denken und Wollen zukomme.

Marx und Engels bestanden darauf, daß man sich nicht mit der platten Phrase
zufrieden geben sollte, daß in der Gesellschaft alles von allem abhänge und
verschiedene Faktoren aufeinander einwirkten. Sie betonten dagegen, daß es einen
Faktor, ein Element gibt, das sich schließlich durchsetzen muß durch
allmähliche, sich summierende Veränderungen. Das sei die menschliche Arbeit an
der Umwelt, um sich am Leben zu erhalten.

Die Veränderungen sind oft sehr gering und kaum wahrnehmbar, z.B. die
veränderte Zusammenarbeit zwischen zwei Menschen hier oder die zusätzliche
Beschäftigung eines Menschen bei einem bestimmten Arbeitsprozeß dort. Über die
Zeit bringen solche Veränderungen einen Wandel in der gesamten Sozialstruktur
zustande. Die minimalen quantitativen Veränderungen haben irgendwann eine
qualitative Auswirkung. Entscheidend ist, daß die Richtung der quantitativen
Veränderungen immer die gleiche bleibt, nämlich eine Tendenz der kumulativen
Verbesserung von Werkzeugen, Rohstoffen, Maschinen und Wissen. Dies schließt
Rückschläge und Regressionen über ganze Epochen nicht aus. Zivilisation auf
Zivilisation sind in die „Barbarei“ zurückgefallen. Aber immer wieder versuchten
die Menschen, die Produktivität ihrer Arbeit zu erhöhen, um sich das Leben zu
erleichtern. Und schließlich sind es jene Gesellschaften gewesen, deren
Arbeitsproduktivität höher war, die sich gegen andere, rückständigere
durchgesetzt haben.

 

 

Klassen

Ein einheitliches Bewußtsein von der Gesellschaft kann es nur
geben, solange die Gesellschaft einheitlich ist, d.h. solange es keine Spaltung
in verschiedene Klassen gab und solange es keine Klassen gab, war das Bewußtsein
Ausdruck der unmittelbaren gemeinsamen Erfahrung. Denn alle Glieder der
Gesellschaft nahmen an der gemeinsamen, kooperativen Arbeit teil. Sobald jedoch
eine Spaltung der Gesellschaft in Ausbeuterklassen und ausgebeutete Klassen
entstanden war und auf dieser Basis sich die Trennung von geistiger und
körperlicher Arbeit hergestellt hat, endeten auch die gemeinsamen Aktivitäten
und mit diesen die Möglichkeit einer einheitlichen Sichtweise der Welt.

Verschiedenartige Gruppen verfolgen unterschiedliche praktische Ziele, einige
die Bewahrung der bestehenden sozialen Ordnung, andere deren Sturz, um auf der
Basis neuer Produktivkräfte neue Produktionsverhältnisse zu schaffen. Das
Ergebnis ist, daß verschiedene Teile der Gesellschaft unterschiedliche
Erfahrungen der gesellschaftlichen Realität sammeln. Jede Gruppe wird versuchen,
ihren eigene Sichtweise von der Gesellschaft zu entwickeln, die sich von der
anderer in zentralen Punkten unterscheidet.

Solche Sichtweisen dienen nicht nur der Erklärung und Interpretation. Sie
verbinden die Menschen miteinander durch ein geistiges Band für praktische
Zwecke, um die Gesellschaft zu erhalten oder zu verändern. Jede Gruppe
entwickelt so praktische Aktivitäten, die mit denen anderer Gruppen in Konflikt
geraten. Nur in den Köpfen bestimmter Philosophen und Soziologen besteht eine
Trennung von Beschreibung und Analyse hier und Schlußfolgerungen da, zwischen
Fakten und Bewertung. Denn was „gut“ oder „wertvoll“ ist aus der Sicht der einen
Gruppe, ist „schlecht“ für eine andere.

Der Kampf um die gesellschaftliche Vorherrschaft zwischen verschiedenen
Gruppen ist zumindest teilweise ein Kampf um die „Gültigkeit“ und Akzeptanz von
Ideen. Jede Gruppe wird versuchen, ihre Ideen über die sozialen Aktivitäten zu
den allgemeingültigen zu machen. Sie wird ihre Begriffe als „wahr“ hinstellen
und die anderer als „falsch“ bekämpfen.

Das bedeutet für Marx nicht, daß die verschiedenartigen Sichtweisen der Welt
gleich richtig oder gleich falsch sind. Denn einige erfassen die wirkliche
Entwicklung vollständiger als andere. Eine soziale Gruppen oder Klasse, die die
alte bestehende Produktionsweise und die dadurch bedingten Überbaustrukturen
verteidigen will, hat von Natur aus eine beschränkte Sicht der Gesellschaft als
Ganzes in ihrer Widersprüchlichkeit. So haben die Vertreter der feudalen Klassen
die Erkenntnis des Galilei, daß die Erde um die Sonne kreist, bekämpft, weil sie
(zu Recht) fürchteten, daß diese Erkenntnis ihre Herrschaft untergraben würde.
Ihre Praxis galt der Verteidigung des Bestehenden.

Alles was die Harmonie der herrschenden Ordnung stört, muß von den
herrschenden Klassen als destruktiv, negativ usw. entwertet werden. Selbst in
Zeiten zugespitzter Krisen der alten Gesellschaft werden ihre Vordenker diese
Gesellschaft als „natürliche“ Ordnung hinstellen, deren Harmonie durch
unverantwortliche, irrationale Element von außen gestört wird.

Eine durch die Weiterentwicklung der Produktivkräfte neu entstehende Klasse
hat ein viel weiter gestecktes Erkenntnisinteresse. Erst einmal fürchten sie
sich nicht vor neuen gesellschaftlichen Aktivitäten, die die alte
Produktionsweise (und deren Überbau) stören. Zugleich hat sie jedoch Erfahrungen
mit der alten Gesellschaftsordnung und kennt deren Institutionen, Ideen usw.
Deshalb kann sie eine Sicht der Gesellschaft entwickeln, die der tatsächlich
widersprüchlichen Entwicklung und damit der Wahrheit viel näher kommt. Ihre
Sicht wird daher weniger ideologisch geprägt und wissenschaftlicher sein, obwohl
sie ihren Ursprung in der Praxis einer gesellschaftlichen Gruppe hat, d.h.
interessenabhängig ist.

 

 

Produktivkräfte

Der Übergang von einer Produktionsweise zu einer neuen ist immer
von erbitterten Klassenkriegen begleitet. Ob sich die neue Produktionsweise
durchsetzt, hängt vom Ausgang der Kämpfe ab. Wirtschaftliche Faktoren spielen
dabei eine große Rolle. Sie bestimmen die Größe der verschiedenen Klassen, ihre
geographische Konzentration (und damit die Möglichkeiten der politischen
Organisation), den Grad ihrer Homogenität usw.

Solche unmittelbar wirtschaftlichen Faktoren können eine Lage entstehen
lassen, wo die aufsteigende Klasse keine Chance hat zu siegen, ganz gleich
welche Anstrengungen sie unternimmt. Das objektive Gewicht der Kräfte ist
einfach noch zu ungleich. Aber wenn die objektiven Faktoren eine Situation
annähernder Gleichheit der Kräfte geschaffen hat, dann entscheiden andere
Faktoren – die ideologische Geschlossenheit, die Organisation und Führung der
rivalisierenden Klassen.

Die objektive Lage entscheidet über die Chance für eine Lösung von
gesellschaftlichen Widersprüchen, sie gewährt nicht schon die Lösung selbst.

Ein neues System von Ideen ist auch nicht nur eine passive Widerspiegelung
ökonomischer Veränderungen. Es ist vielmehr ein entscheidendes Zwischenglied im
Prozeß des gesellschaftlichen Wandels, das dazu dient, die durch kleine, aber
kumulative Veränderungen der Produktivkräfte entstandenen neue Klasse zu einer
Macht zusammenzuschmieden, deren Ziel die Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse in ihrer Gesamtheit sind.

 

 

Widerspiegelung

Friedrich Engels hatte in seinen letzten Lebensjahren (1890-95)
wiederholt darüber geklagt, daß in der deutschen Sozialdemokratie „vielen
jüngeren Schriftstellern“ das Wort „materialistisch“ als eine einfache Phrase
diente. Er verwies darauf, daß „von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die

ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt“. Marx und er selbst hätten
lediglich behauptet, daß die Produktion „das in letzter Instanz
bestimmende Moment in der Geschichte“ sei, was von den „Jüngeren“ aber dahin
verdreht werde, „das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende …“

[4]

Damit werde aber die Geschichtsschreibung leichter als die Lösung einer
Gleichung mit einer Unbekannten. Dagegen betonte Engels:

Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen
Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate
– Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse
festgestellt. usw. – Rechtsformen und nun gar die Reflexe aller dieser
wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische,
philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu
Dogrnensystemen üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf geschichtlicher
Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. [5]

An anderer Stelle spricht Engels von einer „Wechselwirkung
ungleicher Kräfte“.

Nach dem Tod von Engels 1895 setzte sich der einseitige, nur die ökonomische
Seite betonende Materialismus der „Jüngeren“ durch, nicht nur in der SPD,
sondern mehr oder weniger in allen Parteien der Zweiten Internationale. Der
Marxismus wurde zwar zur offiziellen Lehrmeinung der Sozialdemokratie, aber es
war ein durch die Brille Karl Kautskys verfälschter Marxismus. Karl Kautsky war
nach Engels Tod 1895 wichtigster Theoretiker der Arbeiterbewegung geworden und
kam in den Ruf eines „Papst des Marxismus“.

Kautsky sah in dem Reifeprozeß der Produktivkräfte nicht nur die Chance der
Lösung von Gesellschaftskonflikten, sondern auch die Lösung selbst: „Jede
Veränderung der Gesellschaften … sei“, so Kautsky, „auf eine Veränderung der
Umwelt zurückzuführen. Die Umwelt verändere sich durch das Fortschreiten der
Produktivkräfte …“ Die neuen Produktivkräfte „schaffen nicht nur die Aufgabe,
sondern gewähren auch die Mittel, mit denen sie zu lösen ist.“ [6]

Die „Mittel“, mit denen eine neue Produktionsweise zum Durchbruch gebracht
werden kann, sind aber die Organisationen und Ideen der handelnden
Konfliktparteien und diese sind eben nicht durch die Produktivkräfte schon auf
der Höhe ihrer Aufgaben. Richtiges oder falsches Handeln der beteiligten
Menschen aufgrund richtiger oder falscher Ideen und Taten können nach Kautsky
allenfalls das „Tempo des Vormarsches“ beeinflussen, nie jedoch den Vormarsch
des Proletariats insgesamt gefährden.

Klassenbewußtsein ist nach Kautsky ein bloßer Reflex auf eine bestimmte
Klassenlage, bzw. „Umwelt“. Natürlich sah Kautsky, daß Menschen in identischen
sozialen Lagen zu abweichenden Erkenntnissen und politischen Aktionen kamen.
Aber er tröstet sich mit der Feststellung: „Die Abweichungen des Einzelnen vorn
Durchschnitt verschwinden in der Masse. Die Menschen reagieren alle (im
Durchschnitt) auf die gleichen Reize in gleicher Weise, wenn die Bedingungen die
gleichen sind, unter denen der Reiz sie trifft.“ [7]

Amerikanische und russische Verhaltensforscher von der Schule des
Behaviorismus haben mit dem gleichen „Reiz-Reaktionsschema“ versucht,
menschliches Verhalten überhaupt zu erklären. Die Behavioristen (Watson, Pawlow)
entwickelten eine extreme Milieutheorie, nach der die Umwelt eine vom
menschlichen Verhalten unabhängige Größe sei und „erfolgreiches“ Handeln in
einer bloß passiven Anpassung an die Bedingungen der Umwelt bestehe.
Menschliches Verhalten sei allein eine Funktion gegenwärtiger und vergangener
Reize, den Verarbeitungen der Erfahrungen (Summe von Reizen) durch das
Bewußtsein komme. keine selbständige Bedeutung zu. J.B. Watson schrieb 1919 über
seine Forschungsarbeit:

Der Leser wird keine Diskussion des Bewußtseins finden und auch
nicht Termini wie Empfindungen Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Wille usw. Diese
Worte besitzen ihren guten Klang, aber ich habe bemerkt, daß ich ohne sie
auskommen kann. [8]

Bei Kautsky ist die Entwicklung der Produktivkräfte die einzig
wirksame Ursache, die die Umwelt der Menschen verändert. Auch der Übergang zum
Sozialismus ist ein Reflex, d.h. ein vom Willen und Wollen der Menschen
unabhängiger Anpassungsprozeß an die sich entfaltenden Reifungsprozesse der
Produktivkräfte durch den Kapitalismus. Mit deren Entwicklung wächst die Zahl
der Arbeiter und mit ihre die sozialistischen Organisationen der Arbeiter.

Der Theoretiker der frühen russischen Sozialdemokratie G.W. Plechanow, der
neben Kautsky bedeutsamste Theoretiker der Zweiten Internationale, schrieb ganz
m Sinne einer behavioristischen Verhaltenslehre:

Wo das bewußte Streben der Menschen, die alten Einrichtungen
aufzuheben und eine neue rechtliche Ordnung zu errichten, schwach entwickelt
ist, dort ist die neue Ordnung durch die ökonomische Struktur der Gesellschaft
nicht ganz vorbereitet. Mit anderen Worten, die Unklarheit des Bewußtseins –
„Fehlgriffe des unreifen Denkens“, „Unwissenheit“ – kennzeichnet in der
Geschichte mitunter nur das eine, nämlich daß der Gegenstand, über den man
sich bewußt werden muß, d.h. die neuen entstehenden Gegenstände nur schwach
entwickelt sind. [9]

Der ungarische Marxist Georg Lukács bemerkte dazu, daß für diese
Art von blindem Fortschrittsglauben, ein „Zurückbleiben der proletarischen
Ideologie hinter der ökonomischen Krise, eine ideologische Krise des
Proletariats … etwas prinzipiell Unmögliches (ist)“, da er von einer
geradlinigen Parallelität von Klassenlage und Klassenbewußtsein ausgehe.

Lukács bezeichnete diese Denkweise als „fatalistisch-optimistische“ und
verwies darauf, daß andere Marxisten wie Lenin „mit großem Recht darauf
hingewiesen haben, daß es keine Lage gibt, die an und für sich (für den
Kapitalismus) ausweglos wäre … Das Proletariat, die Tat des Proletariats
versperrt dem Kapitalismus den Ausweg aus dieser Krise. Die Barbarei ist eine
ebenso realistische Entwicklungsperspektive wie der Sozialismus.“ [10]

Aus der Sicht Kautskys spielen Individuen keine Rolle im Geschichtsprozeß. Es
hätte für den Verlauf der französischen Revolution 1789-94 keinen Unterschied
gemacht, wenn Robespierre 1788 an einer Pilzvergiftung gestorben wäre. Und auch
die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als erfahrene und
anerkannte Führer der sozialistischen Bewegung im Januar 1919 hatte keinerlei
Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Revolution. Die Führer jeder sozialen
Bewegung sind beliebig austauschbar und ersetzbar.

Die Niederlage der deutschen Revolution von 1918 ist durch die Schwäche ihrer
politischen Führung auf der Seite der Arbeiter nicht erklärbar. Die Ansicht, daß
das Proletariat 1918 nicht alles erreicht habe, „weil diesem der tat kräftige
Wille fehlte“, bezeichnete Kautsky als „eine ganz verfehlte Auffassung“. [11]

Es nimmt daher auch nicht Wunder, daß die noch stark von Kauskys
optimistisch-fatalistischem Fortschrittsglauben beeinflußte SPD den aufkommenden
Faschismus als tödliche Gefahr der Arbeiterbewegung nicht ernst nahm. Die
Barbarei des Faschismus hatte in der ökonomistischen Anschauung der Kautskyaner
keinen Platz.

1927 verglich Kautsky die Lage in Italien, wo die Faschisten bereits fünf
Jahre an der Macht waren, mit der in Deutschland und kam zu dem Schluß, daß der
Faschismus ein Zeichen der Rückständigkeit der Produktivkraftsentwicklung in
Italien sei und sich daher in Deutschland nicht wiederholen könne:

Sollen die Faschisten eine politische Wirkung üben, müssen sie in
großer Zahl auftreten – in Italien mit 39 Millionen Einwohnern etwa eine halbe
Million. In Deutschland müßten sie, um dieses Verhältnis zu erreichen, fast
eine Million stark sein. In einem industriellen Lande ist eine so große Zahl
von Lumpen in den besten Mannesjahren für kapitalistische Zwecke nicht
aufzutreiben. [12]

Nach dem Sieg der Nazis 1933 verflog der Optimismus, zurück blieb der
Fatalismus. Kautsky und andere Führer der SPD argumentierten nun, daß die
Niederlage der Arbeiterbewegung nicht die Folge einer falschen Politik ihrer
Führer gewesen sei, sondern das Resultat eines „unvermeidlichen Vormarsches“ der
Nazis. Rudolf Hilferding, Mitglied des Parteivorstands der SPD und neben Kautsky
deren bedeutendster Theoretiker, schrieb wenige Monate nach Hitlers Sieg an
Kautsky:

Unsere Politik in Deutschland war seit 1923 sicher im Ganzen und
Großen durch die Situation erzwungen und konnte nicht viel anders sein. In
diesem Zeitpunkt hätte auch eine andere Politik kaum ein anderes Resultat
gebracht. [13]

 

 

Stalinismus

So wie Kautskys Marxismus-Interpretation die sozialdemokratischen
Parteien der Zweiten Internationale vor 1914 beherrschte, wurde Plechanows
Interpretation zum Dogma der stalinistischen Parteien seit Ende der zwanziger
Jahre. [14]

In den Händen Stalins und seiner „Theoretiker“ wurde der Sieg des Sozialismus
in den Rang eines Naturgesetzes gehoben: die Entwicklung der Produktivkräfte
führte unvermeidlich zu entsprechenden Veränderungen in der Gesellschaft. Das
Wachstum der Industrie in Rußland würde unvermeidlich vom „Arbeiterstaat“ zum

„Sozialismus“ und zum „Kommunismus“ führen, ganz gleich welche Opfer und welche
Leiden die Menschen auf dem Weg dahin bringen müßten.

Die „revolutionäre Umwälzung“ war nach Stalin eine „völlig natürliche und
unvermeidliche Entscheidung“. [15]

Ahnlich sah auch der chinesische Stalinist Mao Tse-Tung den Übergang zum
Sozialismus als „ein vom Willen der Menschen unabhängiges Gesetz“. [16] Bei
Stalin findet sich auch die Abbildtheorie des einseitigen Materialismus wieder:
Die Materie sei das „primäre“ das „Bewußtsein aber das Sekundäre, das
Abgeleitete, weil es ein Abbild der Materie ist“. [17]

Stalin hob mit dieser Dogmatik seine politischen Entscheidungen und seine Praxis
in den höheren Rang von Naturgesetzlichkeiten, denen man sich nicht widersetzen
kann.

 

 

Reaktion

Der stalinistische Marxismus überlebte Stalin nicht lange in seiner
Reinform. In Großbritannien entstand Ende der fünfziger Jahre eine „Neue Linke“
(New Left – in Reaktion auf die Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 hatten
etwa 10.000 Mitglieder die Kommunistische Partei verlassen, darunter die
Mehrheit der Intellektuellen) und Mitte der sechziger die maoistische Linke, die
sich beide gegen die rohe mechanistische und deterministische Auffassung der
Geschichte wandten.

Sie bestanden zu Recht darauf, daß in Marx eigenen historischen Schriften –
wie z.B. Klassenkämpfe in Frankreich, Der 18. Brumaire
des Louis Bonaparte
, Der Bürgerkrieg in Frankreich
kein Hinweis für eine passive, fatalistische Haltung zur Geschichte zu finden
wäre. Und sie verwiesen auch auf die oben angeführten Bemerkungen von Engels
gegen den ökonomistischen Materialismus der „Jüngeren“, in denen Engels das
Verhältnis von Basis und Überbau, gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein als
eine „Wechselwirkung ungleicher Elemente“ charakterisiert hatte, wobei die

ökonomische Basis das „letztlich bestimmende Element“ sei.

Aber die „Neue Linke“ ging einen Schritt weiter und stellte die
Unterscheidung von „Basis“ und „Überbau“ selbst in Frage. Die „Wechselwirkung“

von Überbau und Basis deutete sie so, daß das „bestimmende Element“ nicht in
einer direkt ursächlichen Beziehung stünde.

Die maoistische Linke begann nicht mit einem so offenen Bruch mit der
Vergangenheit. Der theoretische Wortführer dieser Schule, Louis Althusser,
berief sich seinen frühen Schriften in den sechziger Jahre noch zustimmend auf
Stalin.

Aber die Schule Althussers brachte einen neuen theoretischen Rahmen hervor,
der den Inhalt der ursprünglichen Inhalt der Begriffe „Basis“, „Überbau“ und

„bestimmend“ mehr und mehr zerstörte. Die Gesellschaft bestand aus einer Anzahl
verschiedener „Strukturen“ – einer politischen, einer ökonomischen, einer
ideologischen, einer sprachlichen – und jede entwickelte sich nach eigenen
Gesetzmäßigkeiten und beeinflußte dabei die anderen. Jede dieser Strukturen
könnte zu bestimmten Zeitpunkten über die anderen dominieren. Zwar hielt
Althusser daran fest, daß die ökonomische Struktur „in letzter Instanz
bestimmend“ sei, dies hatte aber keine konkrete Bedeutung mehr wie bei Marx und
Engels.

Die Neue Linke und die Maoisten-Althussserianer waren ursprünglich sehr
miteinander verfeindet. [18] Aber
beide Schulen reformulierten den historischen Materialismus in einer Weise, die
eine große Portion Beliebigkeit und Voluntarismus zuläßt.

Der britische Marxist Chris Harman hat charakterisiert und kritisiert den Zug
zum Voluntarismus der „Neuen Linken“ folgendermaßen:

Für die „New Left“ der fünfziger Jahre bedeutete dies, daß sie
sich einer genauen Definition von Klasse enthält und von jedem wirklichen
Interesse, wie das gesellschaftliche Sein das soziale Bewußtsein bestimmt,
entfernt. In den aktuellen politischen Schriften des prominentesten Sprechers
der britischen „New Left“ E.P. Thompson, angefangen mit seinem Aufsatz
Revolution (1960) bis zu seinen Schriften gegen die neuen
Mittelstreckenraketen in den achtziger Jahren – gibt es eine eindringliche
Botschaft daß Energie und guter Willen bei gleichzeitiger Verwerfung von engen
Begrifflichkeiten ausreichen, um den Weg zum Sieg zu öffnen. In seinen mehr
theoretischen Schriften weist er die Ansicht zurück, daß „ökonomische“

Faktoren irgendeine bestimmende Rolle in der Geschichte spielen können oder
daß sie von anderen Faktoren wie ideologischen oder rechtlichen Faktoren
abgesondert werden können. [19]

Bei seinen theoretischen Definitionen von Klasse und
Klassenbewußtsein geht Thompson von der geschichtlichen Erfahrung aus, daß
Klassenbewußtsein trotz gleicher Klassenlage und Klassenerfahrung nie genau auf
dieselbe Weise entsteht und schließt von daher zu Recht darauf, daß zwischen
Erfahrung und Bewußtsein keine zwingende Verbindung im Sinne einer
unausweichlichen Parallelität besteht.

Aber daraus zieht er den überzogenen Umkehrschluß, daß das Klassenbewußtsein
überhaupt nicht „determiniert“ sei durch die Klassenlage.

Und Thompson geht noch einen Schritt weiter: Eine „Klasse an sich“, wie Marx
es formuliert hatte, gibt es für ihn nicht. Klasse sei keine „Struktur“, sondern
ein subjektiver Prozeß:

Klasse geschieht, wenn einige Menschen infolge gemeinsamer
(überlieferter oder gemeinsam erlebter) Erfahrungen die Identität der
Interessen zwischen sich selbst wie gegenüber anderen Menschen, deren
Interessen von ihren eigenen verschieden (und ihnen gewöhnlich
entgegengesetzt) sind, fühlen und artikulieren. [20]

Dies entspricht natürlich dem Marx’schen Begriff einer „Klasse für sich“,
wenn gegensätzliche Interessen „gefühlt und artikuliert“ werden. Aber es gibt
auch Klassen oder Teile von Klassen, die die Gegensätze nicht fühlen und nicht
artikulieren, aber trotzdem nach ihrer objektiven Stellung im Produktionsprozeß

eine gemeinsame Klassenzugehörigkeit haben. So, wie ein Gegenstand auch dann
noch vorhanden ist, wenn das Licht ausgeschaltet ist und man ihn nicht sehen
kann, so existieren Klassen auch dann, wenn sie ihre gemeinsame Klassenlage nur
erfahren, aber nicht subjektiv empfinden oder ausdrücken.

In den früheren Schriften Althussers spielt zwar eine Partei stalinistischen
Typs noch eine wesentliche Rolle für Gesellschaftsveränderung. Aber auch hier
findet sich das gleiche voluntaristische Element wie bei Thompson: wenn die
Partei nur die Logik der verschiedenen Strukturen versteht, kann sie den Schritt
der Geschichte bestimmen, unabhängig von „ökonomischen“ Faktoren. Viele seiner
Schüler haben auch die letzte marxistische Scham abgelegt und verwerfen die
Begriffe wie „bestimmend“, selbst „in letzter Instanz“ und bewegen sich auf
Positionen, die es nicht mehr erlauben, gesellschaftlichen Wandel zu erklären.
Alle Konflikte der verschiedenen Strukturen erscheinen gleich wichtig,
Klassengegensätze verlieren ihre bestimmende Funktion.

 

 

Neostrukturalisten

Radikaler noch als Thompson lehnen Neostrukturalisten wie der
französische Soziologe Bourdieu eine Ableitung sozialer Klassen aus den
Produktionsverhältnissen ab: „Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch
die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen …“ Zu solchen
Merkmalen zählt Bourdieu Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft,
Einkommen, Ausbildungsniveau usw. [21]

Die Annäherung der Neostrukturalisten an die alte „Neue Linke“ hat auch in
Deutschland zu einem breiten Selbstverständnis unter linken
Sozialwissenschaftlern geführt, das darin besteht, die Unterscheidung von
sozialer Basis und Überbau als überholt zu betrachten.

So haben beispielsweise deutsehe Vertreter der alten „Neuen Linken“ wie
Michael Vester, Peter von Oertzen u.a. mit ihrer Studie „Soziale Milieus im
gesellschaftlichen Strukturwandel“ keine Schwierigkeiten beide Schulen
miteinander zu verbinden. In der Studie sprechen sie sich sowohl gegen eine
„einseitige Struktur- und Entwicklungslogik aus“ wie gegen ein „rein
subjektives, interessen- und strukturblindes Verständnis der sozialen Milieus“
[22]
Ganz im Zug der Zeit betonen sie die Wechselwirkung verschiedener subjektiver
und objektiver Faktoren, ohne jedoch einem Faktor eine „bestimmende“ Funktion
zuzuschreiben. An die Stelle des alten Klassenbegriffs setzen sie den des
sozialen Milieus, in den sowohl objektive Merkmale wie Einkommen und Bildung als
auch subjektive wie solche der Selbstzuordnung einfließen. [23]

Auch Vester, Oertzen u.a. sprechen sich für eine „Ausweitung des Begriffs des
gesellschaftlichen Sein auch auf subjektive Aspekte“ aus. [24] Der
Beliebigkeit des Begriffs des sozialen Milieus entspricht die Beliebigkeit der
empirischen Analyse: „Die westdeutschen Großmilieus konzentrieren sich in der
horizontalen wie der vertikalen Mitte. Die oberste und unterste Gruppe umfassen
jeweils 20 Prozent, die Zwischengruppen aber fast 60 Prozent.“ [25] Die
alte Klassengesellschaft habe sich „stark relativiert“, die Gesellschaft sei
zwar noch vertikal gestuft, „aber ohne extreme Polarisierung“. [26]

Womit man wieder bei der nivellierten Mittelstandsgesellschaft angekommen wäre,
in der es zwar noch „soziale Ungleichheiten“ gibt, die aber den wirkliche
Klassendifferenzen und latenten sozialen Spannungen Deutschlands gegen Ende des
Jahrhunderts in keiner Weise Rechnung trägt (vgl. SVU Nr. 3,
Die Arbeiterklasse: Ende oder Wandel? und Wie stark ist die
Arbeiterbewegung heute
).

 

 

Klassenkämpfe

Die Abkehr linker Sozialwissenschaftler vom einseitigen
Materialismus des Stalinismus fand historische schon in den fünfziger und
sechziger Jahren statt. Ihr endgültiger Bruch mit dem historischen Materialismus
von Marx und Engels, d.h. die Vernachlässigung, ja Ausblendung objektiver
ökonomischer Faktoren aus dem „Untersuchungsgegenstand“ Gesellschaft fand jedoch
erst in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren statt. Bei ihrer Kritik
des historischen Materialismus unterscheiden die Neoidealisten nur unscharf oder
überhaupt nicht zwischen dem dialektischen und deshalb historischen
Materialismus von Marx-Engels und dem mechanisch-ökonomistischen Materialismus
seiner sozialdemokratischen und stalinistischen Epigonen. [27]

Die Popularität des Entkoppelungs-These, wonach ein „Wandel im
Vergesellschaftungsmodus kapitalistischer Gesellschaften“ stattgefunden habe und
„nicht mehr die soziale Prägung der Arbeitswelt und der
industriegesellschaftlichen Klassen, sondern offenere, individuell in höherem
Grad wählbare Lebensweisen … die Interessen, das Denken und das Handeln der
Menschen (bestimmen)“ [28], muß
selbst materialistisch erklärt werden. Sie spiegelt einerseits den Rückzug der
Arbeiterbewegung vor der hereinbrechenden Krise des Kapitalismus wider, aber
auch die gesellschaftliche Praxis der in den siebziger und achtziger Jahren noch
aufsteigenden neuen Mittelklasse, die nicht nur bestrebt ist wie jede
Mittelklasse, die gesellschaftlichen Widersprüche zu verschleiern und ihre
mittlere Lage und ihr mittleres Denken als universell zu erklären.

Die Klasse der lohnabhängigen Arbeiter hat viel schärfer erfahren müssen, daß
das Gerede von der Modernisierung des Kapitalismus ein frommer Selbstbetrug ist
und daß die „Modernisierungsverlierer“ in Wirklichkeit Krisenverlierer sind.
Modernisierung im Sinne einer Umwälzung der Produktivkräfte hat es in mehr oder
weniger radikaler Form in jeder Phase des Kapitalismus gegeben. Der Kapitalismus
zeichnet sich gerade dadurch von allen vorkapitalistischen Gesellschaften aus,
daß er seine eigene technisch-wissenschaftliche Produktionsbasis ständig
revolutionieren muß.

Nicht die Modernisierung, sondern die seit Mitte der siebziger Jahre
zurückgekehrte Tendenz der Stagnation und der Krisen des Kapitalismus sind
zunehmend die Grundlage aller Erfahrungen der Arbeiterklasse (und auch
von Teilen der Mittelklassen) nicht zuletzt auch in den entwickelten
Industriegesellschaften des „Nordens“.

Ulrich Beck sah 1984 die Abkehr von kollektiven Handlungsweisen
(„Klassenhandeln“) und das „Hervortreten von Individualisierungstendenzen“ an
eine „wohlfahrtsstaatliche Entwicklung“ geknüpft. Darunter verstand er:

„allgemeine wirtschaftliche Prosperität und die damit verbundene
Vollbeschäftigung, Ausbau des Sozialstaates, Institutionalisierung
gewerkschaftlicher Interessenvertretung, Bildungsexpansion, Erweiterung des
Dienstleistungssektors und so eröffnete Mobilitätschancen, Reduzierung der
Arbeitszeit usw.“ [29]

Bei genauerem Hinsehen erweist sich, daß einige dieser Faktoren schon 1984
nicht mehr zutrafen (z.B. Wiederanstieg der Armutszahlen statt „allgemeiner
Prosperität“, Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger Jahre
statt Vollbeschäftigung, Rücknahme von Sozialreformen seit Beginn der achtziger
Jahre statt deren Ausbau). 1995 haben sich die damals schon zu beobachtenden
Krisentendenzen weiter verschärft und als permanent etabliert. Individuelles
Handeln ist nur ein anderer Begriff für Zersplitterung und passives Erleiden von
Verschlechterungen der Lebenslage. Kollektive Aktion in Form von Streiks,
Massendemonstrationen und anderen Formen des kollektiven Widerstands gegen die

Übergriffe des Kapitals sind spätestens seit Beginn der neunziger Jahre für die
große Mehrheit der Lohnabhängigen die einzige reale Alternative zur demütigender
Vereinzelung. Kein einziger der Faktoren „wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung“ ist
heute noch gültig. Selbst die „Reduzierung der Arbeitszeit“ ist heute, wie das
Beispiel VW zeigt, mit der Gefahr des sozialen Verelendung verbunden.

 

 

Anmerkungen

1. V. Mosler, Die Arbeiterklasse: Ende oder Wandel?,
SVU Nr.3

2. z.B. Ulrich Beck, in: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in
eine andere Moderne
, Frankfurt 1986, S.132f.

3. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie,
Berlin 1958, S.13

4. Friedrich Engels an Bloch, 21 September 1890, zitiert
nach Marx, Engels Ausgewählte Schriften, Berlin 1953, S.458

5. Engels an Bloch, S.459

6. Karl Kautsky, Die materialistische
Geschichtsauffassung
, Bd.2, Berlin 1927, S.628

7. a.a.O., S.699

8. Lexikon der Psychologie, Frankfurt 1964,
S.65f.

9. G.W. Plechanow, Über materialistische
Geschichtsauffassung
, Berlin 1946, S.29

10. Georg Lukács, Methodisches zur Organisationsfrage, in:
Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S.308

11. Karl Kautsky, Berlin 1927, S.732

12. a.a.O., S.469-78

13. zitiert nach Heinrich August Winkler, Weimar
1918-1933
, München 1993, S.599

14. Es ist nicht Plechanows Schuld, daß die Stalinisten seine oft
sehr differenzierten Schriften in gröbster Weise mißbrauchten.

15. J. Stalin, in: Über dialektischen und historischen
Materialismus
, zitiert nach P. Vranicki, Geschichte des
Marxismus
, 2. Bd., S.657

16. zitiert nach: Worte des Vorsitzenden Mao
Tse-Tung
, Peking 1967, S.29

17. Stalin, a.a.O., S.660

18. Vgl. etwa: E.P. Thompsons heftige Polemik gegen die
Althusserianer: Das Elend der Theorie, Frankfurt/Main 1980

19. Chris Harman, Base and Superstructure,
International Socialism 32

20. E.P. Thompson, Die Entstehung der englischen
Arbeiterklasse
, zit. nach M. Vester, P. v. Oertzen u.a.:
Soziale Milieus im gesellschaftlichen Struturwandel, Frankfürt
1993, S.106

21. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede,
Frankfurt 1982, S.182

22. Vester u.a., Köln 1993, S.120

23. a.a.O., S.126

24. a.a.O., S.192

25. a.a.O., S.61

26. a.a.O., S.17

27. Vgl.: Ulrich Beck, a.a.O., S.132. Marx
argumentiere, so Beck („wenn ich es recht sehe“) daß „eine kontinuierliche
Verschlechterung der Lebenslage der Arbeiter im Kapitalismus, … nicht zur
Zersplitterung (führt), sondern zur Organisierung und zum organisierten
Zusammenschluß der Arbeiterklasse.“ Eine solches mechanistisches
Verelendungsargument ist jedoch weder bei Marx noch bei Engels zu finden.

28. Vester u.a., a.a.O., S.186

29. Ulrich Beck, a.a.O., S.133

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