Der Nahe Osten: Zwischen Unterdrückung und Revolution

[…] Es ist erkennbar, dass rein objektiv gesehen die Bedingungen für eine revolutionäre Krise in einer Reihe von Ländern des Nahen Ostens bestehen – enorme Armut und eine wachsende Instabilität in einer Reihe von Staaten des Nahen Ostens verdeutlichen dies. Das Zusammenspiel von innerem und äußerem Druck auf eine große Zahl der Verbündeten der USA verschärft sich tendenziell. Zudem besteht heute mehr denn je potentiell die Möglichkeit, verschiedene Massenbewegungen grenzübergreifend zu vereinen.1 Die Medien, und besonders das Satellitenfernsehen haben beispielsweise einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Intifada zu verbreiten.2

Aber letztlich sind es die subjektiven Bedingungen, die darüber entscheiden, ob Aufstände sich zu organisierten Demonstrationen auswachsen und Zusammenstöße mit der Polizei zu einer Massenbewegung werden. Im Nahen Osten haben während der vergangenen zehn Jahre vor allem zwei Strömungen versucht, die Kämpfe der Menschen in der Region politisch zu lenken. Zum einen stellt die Krise in Palästina die unvollendeten Ziele der nationalen Befreiungsbewegungen der 50er und 60er Jahre dar. Die neue Intifada und die zentrale Rolle der Fatah, des größten nationalistischen Blocks in der PLO, darin, zeigen die anhaltende Anziehungskraft nationalistischer Ideen. Zum anderen hat die islamistische Bewegung auf die Krise des Imperialismus mit einer Art “muslimischem Internationalismus” geantwortet, der die islamistischen Aktivisten direkt gegen imperialistischen “Kreuzritter” stellt.

In der palästinensischen Intifada tritt die Ungleichheit der Kräfte im Kampf gegen den Imperialismus deutlicher hervor als in jedem anderen Konflikt in der Region. Die Bildersprache der Intifada – Kinder, die Panzer angreifen, die Zusammenstöße in den Straßen von Gaza und der West Bank, Massenbeerdigungen und -demonstrationen – hat sich in das Gedächtnis einer ganzen Generation im Nahen Osten gebrannt. Für viele Menschen spiegelt sich ihre eigene Demütigung in der Ohnmacht der arabischen Regime, die ständig wachsende Brutalität des israelischen Militärs zu stoppen.

Um das reale Potential für Widerstand gegen den westlichen Imperialismus und die hausgemachte Unterdrückung zu verstehen, ist es wichtig zu sehen, in welcher Verbindung die Intifada zu anderen Kämpfen im Nahen Osten steht. Verschiedene politische Strömungen haben nicht nur das Symbol der Intifada, sondern auch ihre Taktik des Volksaufstandes benutzt, um den Kampf im ganzen Nahen Osten auszuweiten. Die Schwäche der palästinensischen Bourgeoisie und die überwältigende militärische und wirtschaftliche Übermacht Israels haben dazu geführt, dass die palästinensische nationale Befreiungsbewegung sich noch keinen eigenen Staat erkämpfen konnte. In vielerlei Hinsicht zeugt die palästinensische Intifada von der Unverwüstbarkeit nationaler Befreiungsbewegungen und vom Mut und der Kreativität des palästinensischen Volkes. Der Verlauf der Intifada während des letzten Jahres zeigt jedoch die Schwäche isolierter nationaler Kämpfe.

Dem zugrunde liegt einfach die immense Ungleichheit zwischen den beiden Seiten. Die palästinensischen Steinewerfer stehen der viertgrößten Militärmacht des Planeten gegenüber, und hinter dieser steht die allergrößte Militärmacht, die USA. Das Ausmaß der israelischen Gewalt übersteigt bei weitem die erste Intifada von 1987. Die Gewalt wurde systematisch seit dem ersten Ausbruch des Aufstandes angewandt. Ein Bericht der renommierten israelischen Menschenrechtsgruppe B’Tselem belegt klar, dass die israelische Armee bei den Vorfällen in Haram al-Sharif nach dem Besuch Ariel Scharons mit massiver Gewalt gegen einen breiten, aber meistens gewaltfreien Protest vorgingen.3 Das Muster der palästinensischen Todesfälle ist ebenfalls erhellend: palästinensischen Quellen zufolge sind in den letzten zwölf Monaten mehr als 200 Kinder von israelischen Soldaten getötet worden. Ein Großteil starb an Wunden im Oberkörper oder Kopf, was zeigt, dass auf sie direkt gezielt wurde und sie nicht Opfer von Kreuzfeuern wurden, wie die israelische Seite oft behauptete.4 Neben den Hunderten von Toten gibt es Tausende, die während des Konfliktes langfristig verkrüppelt wurden. Angesichts der mageren Ressourcen des palästinensischen Gesundheitssystems und der zerschmetternden Folgen der Wirtschaftsblockade verbirgt sich hinter diesen Zahlen gewaltiges Elend für Tausende Palästinenser. Der Ausbruch der Intifada hat die amerikanischen Waffen- und Hilfslieferungen an Israel nicht unterbrochen. Im Oktober 2000, nur Tage nach dem Massaker an Palästinensern in der Al-Aqsa Moschee in Jerusalem, besiegelte die israelische Luftwaffe ihren bisher größten Handel mit den USA. In ihm enthalten sind acht Apache Kampfhubschrauber, 14 Beechcraft Überwachungsflugzeuge und Kraftstoff im Wert von 111 Millionen Dollar.5

Darüber hinaus ist das Territorium, auf dem der Kampf ausgetragen wird, auf Grundlage der Osloer Friedensverträge seit 1993 stark verändert worden. Die Zerstückelung der palästinensischen Gebiete, die in den Verhandlungen vorgesehen war, hat Israel in die Lage versetzt, eine viel engmaschigere Kontrolle über den Gazastreifen und die Westbank auszuüben als 1987. Weil die ‚Autonomen Gebiete‘ in verstreute Enklaven zerteilt wurden, die von einander durch Straßen getrennt werden, auf denen israelisches Militär patrouilliert, ist die Überwachung leichter geworden, nicht schwerer:

„Die Matrix der Kontrolle wird durch rohe militärische Gewalt aufrechterhalten, obwohl sie der Besetzung ein zivileres und gutmütiges Antlitz verleiht. Die israelische Tageszeitung Yediot Akhronot zitierte eine Rede des israelischen Stabschefs Shaul Mozaf, die er vor Soldaten am Grenzposten in Erez hielt: ‚Wenn Panzer gebraucht werden, setzen wir Panzer ein. Und wenn Hubschrauber gebraucht werden, setzen wir Hubschrauber ein… Unsere Möglichkeiten, mit den palästinensischen Konfrontationen fertig zu werden, sind heute besser als in der Vergangenheit, und die Ereignisse vom Nakba Tag (Proteste anlässlich der israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948) haben das bewiesen.“6

Heute leben in den besetzten Gebieten rund 100.000 mehr schwer bewaffnete Siedler als 1993. Sie stellen effektiv einen weiteren Zweig des israelischen Militärs dar, der in zunehmendem Maße dazu eingesetzt wird, palästinensische Kämpfer und Zivilisten zu drangsalieren und zu töten.7 Die israelischen Grenzblockaden haben die palästinensische Wirtschaft zerschlagen.8 Erste Anzeichen eines neuen Wachstums wurden von den ökonomischen Kosten des neuen Aufstands begraben.9

Ironischerweise ist der gegenwärtigen palästinensischen Führung der eine Aspekt der neuen Intifada, der der israelischen Sicherheit am gefährlichsten werden könnte, bislang verschlossen geblieben. Die neue Militanz der ‚israelischen Araber‘ stellt eine ernste Herausforderung im Herzen Israels dar. Dies sind die Palästinenser, die in den Grenzen Israels von vor 1967 leben. Zum ersten Mal seit den 1970ern haben sie sich in einer Revolte erhoben, als die besetzten Gebiete im Oktober 2000 in Flammen aufgingen. Die Proteste in Nazareth und anderen palästinensischen Städten waren nicht einfach Akte der Solidarität. Sie waren Ausbrüche von jahrelang unterdrückter Wut auf den Rassismus des israelischen Staates. Palästinensische Dörfer haben keinen Zugang zu staatlichen Fördermitteln für Wasser-, Strom- oder Abwasseranlagen. Palästinenser haben nicht einmal das Recht, Häuser zu bauen. Das Lohnniveau der Palästinenser liegt bei etwa einem Drittel dessen, was israelische Juden verdienen.10 Im Oktober 2000 erschoss die israelische Armee 13 arabische Demonstranten und löste damit eine Protestbewegung aus, die die politische Debatte in Israel zutiefst aufrührte.11 Die Palästinenser in Israel haben das Potential, die stillschweigende Apartheidpolitik, die Israel in den besetzten Gebieten durchsetzt, zu untergraben. Ihre schiere Anwesenheit im Herzen Israels – sie stellen mit rund 20% eine gewichtige Minderheit – untergräbt die ganze Idee eines zionistischen Staates. Aber die Logik eines Vierteljahrhunderts der Friedensverhandlungen hat die palästinensische Führung dazu gebracht, Israels Anspruch auf das Land hinter der Waffenstillstandslinie von 1948 zu akzeptieren. Auf diese Weise spaltet sie die Palästinenser innerhalb dieser Grenzen von denen in den besetzten Gebieten ab.12

Diese Widersprüche spiegeln sich auch in den palästinensischen Basisorganisationen. Die erste Intifada zeugte vom Heranwachsen einer neuen Generation von Widerstandskämpfern in den besetzten Gebieten, die einen alternativen politischen Anziehungspol neben der exilierten Führerschaft von PLO und Fatah in Tunesien bildete.13 Diese Mal findet der Aufstand im Kontext einer existierenden palästinensischen Autonomiebehörde statt. Die neue Intifada hat innerhalb solcher Organisationen wie Fatah, die weiterhin große moralische Autorität und organisatorisches Gewicht haben, die Widersprüche verschärft. Eine der Folgen der Osloer Verträge war die Bildung einer palästinensischen Polizei, der viele der Kämpfer beitraten, die sich während der ersten Intifada politisiert hatten. Diese Männer erwarteten, dass sie während der Jahre des ‚Friedens‘ gemeinsam mit israelischen Einheiten Proteste gegen die israelische Besetzung unterbinden würden. Indem sich die Konfrontationen mit der islamistischen Hamas-Bewegung verschärften und die Palästinenserbehörde korrupter und repressiver wurde, begannen die Tanzim, Fatahs aktivistische Basis, von der PLO-Führung Reformen zu fordern. Wie Graham Usher erklärt, sind die Tanzim auf der einen Seite die politische und militärische Basis der Autonomiebehörde. Auf der anderen aber sind sie ihre loyale – und potentiell aufrührerische – Opposition.14

Die neue Intifada hat der Fatah den Aufwind gegeben, die Tanzim verstärkt aufzubauen. Und sie hat die informelle Allianz zwischen den sekulären Nationalisten und den Islamisten bekräftigt. Allerdings gibt es innerhalb der Bewegung eine scharfe Auseinandersetzung um ihre weitere Richtung und Zielsetzung. Ein Diskussionsbulletin der Fatah vom Juli 2001 sprach diese Frage direkt an. Sein Autor befürwortete die Ausweitung der Massenaktionen der Intifada – wie Streiks und Proteste örtlicher Kommunen – aber auch “die Formulierung einer klaren militärische und Sicherheitsstrategie … um das Selbstvertrauen der zionistischen Besatzungstruppen bis zu einem Punkt zu erschüttern, wo ihre Verluste die Besatzung unhaltbar werden lassen.”15 Die immer häufigeren Attentate und das Wiederauferstehen der PFLP als Guerillaeinheit zeigen, dass einige solcher Strategien schon von zentralen nationalistischen Organisationen in die Praxis umgesetzt werden.

Das Problem ist, dass die Militarisierung der Intifada allein unmöglich zur Befreiung der Palästinenser führen kann. Die letzte Intifada, die auf sehr viel übersichtlicherem Terrain ausgefochten wurde, resultierte in den Osloer Verträgen, die jetzt von einer Mehrheit abgelehnt werden. In jedem Fall hängt die Befreiung Palästinas nicht nur von den Bedingungen innerhalb Palästinas ab. Die Rolle der arabischen Staaten, die Israel und die USA unterstützen, macht dies klar. Die Ohnmacht dieser Staaten, die selbst die Produkte radikaler anti-kolonialer Bewegungen aus den 50er und 60er Jahren sind, bezeugt, wie unmöglich es ist, Befreiung innerhalb der Grenzen und Parameter eines Nationalstaates zu erreichen.

Das Versagen des politischen Islam

Der Zusammenbruch der Träume der nationalen Befreiung in den letzten 20 Jahren hat maßgeblich zum Wachsen der islamistischen Bewegung im Nahen Osten beigetragen. Die Islamisten weben den Kampf in Palästina, die Krise im Irak und natürlich den Krieg der Mudjahedin in Afghanistan zu einer Art „islamistischen Internationalismus“ zusammen, der auf der Idee einer vereinheitlichten bewaffneten Konfrontation mit dem Imperialismus fußt. In vielen Ländern bilden die Islamisten die Hauptopposition zu den kompromittierten örtlichen Herrschern, die Vasallen der USA sind. Schon vor den Anschlägen auf das World Trade Center stellten die westlichen Medien die islamistischen Organisationen als einen einheitlichen reaktionären Block dar. Tatsächlich besteht zwischen den Gruppen kaum Übereinkunft über organisatorische Methoden oder auch nur die wichtigsten politischen Fragen. Und die Vergangenheit hat gezeigt, dass sie keineswegs automatisch von einer Schwächung der lokalen Regime profitieren.

Islamistische Gruppen, die derzeit im Nahen Osten aktiv sind, fallen grundsätzlich in zwei Kategorien. Die erste bilden reformistische Parteien oder Studentengruppen mit relativ breiter Basis, die im legalen oder halblegalen Rahmen des Wahlsystems und der studentischen Vereinigungen operieren. Die zweite Kategorie bilden hochgradig unstabile bewaffnete Gruppen mit oft nur wenigen Mitgliedern, die in der Vergangenheit meist leicht sehr verwundbar gegenüber staatlicher Repression waren. Nur in sehr bestimmten Fällen, nämlich im Libanon und in Palästina, haben es islamistische Gruppen geschafft, Massenanhängerschaft und einen bewaffneten Kader zu erhalten. Beide Organisationstypen zeigen einige Dynamik. Als Antwort auf staatliche Unterdrückung offener, legaler Aktivitäten brechen desillusionierte Aktivisten mit der Hauptbewegung und verschwinden in den bewaffneten Untergrund. Es wird weithin angenommen, dass einer der Faktoren, die den Ausschlag für die Entscheidung des Islamischen Jihad gaben, Anwar el-Sadat 1981 zu ermorden, Sadats Massenverhaftungen von breiten Schichten von Oppositionellen aus der halblegalen Gama’at Islamayya war. Unter ihnen hatte sich der Bruder von Khalid al-Islambouli, einem der Schlüsselaktivisten des Jihad, befunden.16 Aber die bewaffneten Gruppen haben es nie geschafft, den Staat allein zu erobern und mussten meistens den Preis dafür bezahlen, dass sie die herrschenden Klassen angriffen.17 Weder der Islamische Jihad, noch die Muslimische Bruderschaft oder Gama’at Islamiyya konnten das Attentat auf Sadat nutzen, um in Ägypten die Macht zu ergreifen.

Die Beziehung zwischen dem Staat und den islamistischen Gruppen ist immer widersprüchlich gewesen. Auf der einen Seite erhalten die Islamisten Unterstützung für ihre Kritik am bestehenden Staat. In vielen Ländern des Nahen Osten erscheinen sie als die einzige glaubwürdige und konsequente Oppositionskraft. Dieselben Staaten haben jedoch oft eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Islamisten als Gegengewicht zu linken Gruppen aufzubauen.18 Vor allem aber tendieren die islamistischen Führungen dazu, zu schwanken und sich auf Händel mit den Regierungen einzulassen, je mehr sich ihre Massenbewegungen zu einer echten Herausforderung für den Staat entwickeln. Üblicherweise beruhen diese Vereinbarungen auf der Macht der islamistischen Führer, die Massenbewegungen, die sie entfacht haben, zu steuern. Und bei einigen Gelegenheiten hat diese Strategie die Bewegungen völlig zersplittert.19

Die Widersprüche innerhalb der palästinensischen Hamas sind ein Beispiel für diesen Prozess. Während der Jahre des Osloer Vertrages erschienen die Hamaskämpfer als die einzigen militanten Palästinenser, die bereit waren, sich gegen die Besatzungsmacht aufzulehnen. Innerhalb von nicht einmal zehn Jahren erwuchs Hamas zur größten Opposition zur PLO in den besetzten Gebieten. Je erfolgreicher Hamas in ihren militärischen Aktionen wurde, desto schwerer waren die Gegenangriffe Israels. Das erhöhte den Druck auf Yassir Arafat von zwei Seiten, nämlich von den Straßen Palästinas, wo Hamas begonnen hatte, in dem Vakuum, das die Fatah hinterlassen hatte, eine echte Massenbasis aufzubauen; und von Seiten Israels, das ein hartes Vorgehen gegen Hamas verlangte. Bei mehreren Gelegenheiten blies die Führung der Hamas alle militärischen Aktionen ab, um Arafat zu entlasten. Aber sie musste feststellen, dass sie die Bewegung, die sie aufgebaut hatte, nicht einfach abstellen konnte, zumal Israel gleichzeitig den Druck auf die palästinensischen Gebiete erhöhte. Die Spannungen innerhalb der Hamas drohten mehrmals in offenen Krieg auszubrechen, wenn die jüngeren Aktivisten und Kämpfer drohten, die Waffenstillstände zu ignorieren, die die Führung ausgerufen hatte. Einige dieser Führer wurden sogar selbst zu Zielscheiben, wenn sie weiterhin mit den palästinensischen Sicherheitskräften kooperierten.20 Diese Dynamik konnte man nach den amerikanischen Luftangriffen auf Afghanistan wieder beobachten. Riesige Studentendemonstrationen in der West Bank wurden von der palästinensischen Polizei beschossen, die dabei zum ersten Mal seit Ausbruch der neuen Intifada mehrere Demonstranten tötete. Als Reaktion auf diese Polizeiattacken raffte sich die Hamasführung zu einem Deal mit Arafat auf, um die Straßen ruhig zu halten.21

Wenn Hamas es trotz ihrer Massenbasis schwierig fällt, ihre radikale Rhetorik in eine ernsthafte Herausforderung der palästinensischen Bourgeoisie, der bei weitem schwächsten der örtlichen herrschenden Klassen, zu formen, wird klar, dass die Aufgaben, vor der die Zellen von Al Qaida stehen, noch viel schwieriger sind. Diese heterogenen Gruppen bewaffneter Militanter haben trotz ihrer militärischen Erfolge gegen US-Einrichtungen keine wirkliche Verbindung zu den Kämpfen der normalen Bevölkerung und verfügen über keinen effektiven Weg, eine solche herzustellen. Olivier Roy erklärte 1998 in der Le Monde Diplomatique:

„Der soziale Inhalt der islamischen Revolution ist ihnen fremd. In Ägypten zum Beispiel befürwortete Gama’at Islamyya die Agrargegenreform, die Mubarak durchführte… Sie haben praktisch keine Verbindung zu den strategischen Problemen in der muslimischen Welt (außer in Pakistan und Afghanistan). Ihre Besonderheit liegt in ihrem Internationalismus und der Tatsache, dass sie keine feste territoriale Basis haben.“22

Bewaffnete Bewegungen haben in der Geschichte wieder und wieder erfahren müssen, dass Attentate und Selbstmordanschläge allein nie das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräften zugunsten der Unterdrückten verändern konnten. Die islamistischen Bewegungen des Nahen Ostens sehen sich mit denselben Problemen konfrontiert wie Fatah und die anderen sekulären nationalen Befreiungsbewegungen, wenn sie sich für eine Strategie der militärischen Konfrontation mit dem Imperialismus entscheiden. Darüber hinaus bieten sie keine Alternative für die Millionen von Menschen in der Region, deren Leben durch den globalen Kapitalismus ruiniert werden. In vielen Fällen ignorieren die bewaffneten Gruppen diese Fragen einfach. Dort, wo die islamistischen Gruppen an den staatlichen Strukturen beteiligt sind – wie im Iran und dem Sudan und auf der kommunalen Ebene in Algerien und der Türkei – setzen sie letztlich oft dieselben neoliberalen Politiken durch, die sie in der Vergangenheit verurteilt haben.23

In Richtung einer arabischen Intifada

Die einzige Kraft, die wirkliche Veränderung im Nahen Osten herbeiführen kann, ist die moderne Arbeiterklasse. Im Gegensatz zu den Befreiungsbewegungen, die versuchten, den Imperialismus mit dem Nationalstaat zu bekämpfen, haben organisierte Arbeiter eindeutig das Potential, die imperialistische Ordnung grenzübergreifend herauszufordern. In einer Zeit, da Konzerne und Staaten sich auf internationaler Ebene organisieren, um Profite zu sichern, ist eine internationale Antwort der Arbeiter, die für die Krise bezahlen, nicht nur möglich, sondern notwendig. Das trifft für den Nahen Osten genauso zu wie für jede andere Region der Erde. Wie die Ereignisse der letzten Jahre gezeigt haben, erzeugen die neoliberalen Politiken rasch die Bedingungen für eine soziale Explosion in einem oder mehreren arabischen Ländern. Strukturanpassungen und Privatisierungen haben in der ganzen Region Streiks und Massenproteste hervorgerufen. Genau diese Prozesse drängen die Arbeiter nicht nur in den Widerstand, sondern vergrößern auch die Arbeiterklasse, wie das Beispiel Saudi-Arabiens deutlich zeigt. Gleichzeitig untergraben die Auswirkungen dieser Politik die ideologischen Grundlagen des Neoliberalismus. Oppositionelle Aktivisten in Syrien verlangen z.B. politische “Liberalisierung” als Gegengewicht zur ökonomischen Liberalisierung. Das Beispiel Ägyptens zeigt, dass Strukturanpassungen in Zeiten ökonomischer Krise nur durchgesetzt werden können, wenn sie von brutaler Polizeirepression flankiert werden.24 Es gibt erste Anzeichen, dass Aktivisten im Nahen Osten beginnen, sich Inspiration von der anti-kapitalistischen Bewegung zu holen. Als Reaktion auf das geplante Treffen der Welthandelsorganisation WTO in Qatar im November 2001 organisierten libanesische Aktivisten eine Gegenkonferenz, die nach den Vorbildern aus Prag und Genua über Globalisierung und Imperialismus debattierte.

Der Imperialismus intensiviert die Auswirkungen der ökonomischen Krise im Nahen Osten, indem er Bedingungen schafft, unter denen die Wut über wirtschaftliche und soziale Übel schnell in eine verallgemeinerte und aktive Ablehnung des Systems als ganzem umschlagen kann. Die Entwicklung in Palästina ist ein Gradmesser für diesen Prozess der Radikalisierung. In Ägypten schlossen sich rasch Arbeiter den Studentenprotesten an, die zu Beginn der neuen Intifada stattfanden. Die Slogans der Proteste forderten zuerst eine Ausweisung des israelischen Botschafters, bald aber ging es auch um Preissteigerungen, Korruption in der Regierung und um staatliche Repression. Auch Journalisten und Rechtsanwälte solidarisierten sich mit Arbeitsniederlegungen und Besetzungen. Die Schilder und Gesänge griffen das Mubarakregime für seine Verbindungen zu Israel und den USA an, und eine Gruppe von Studenten folgte dem Beispiel aus Prag wenige Tage zuvor und demolierte ein Kentucky Fried Chicken Restaurant.25

Der Krieg in Afghanistan hat den Druck auf die örtlichen Regime und die USA nur noch erhöht. Was jedoch letztendlich darüber entscheiden wird, ob die Wut auf den Straßen sich zu einer dauerhaften Massenbewegung entwickelt, ist ein subjektiver Faktor, nämlich die politische Klarheit der Führung. Das Schicksal der nationalen Befreiungsbewegungen und die Widersprüche innerhalb der islamistischen Organisationen zeigen, dass keine von ihnen diese politische Führung anbieten kann. Die Notwendigkeit einer marxistischen Analyse der Krise im Nahen Osten ist nie deutlicher gewesen. Die Region braucht eine revolutionäre sozialistische Organisation dringender denn je.

Anmerkungen

Dieser Essay ist die gekürzte englische Übersetzung des folgenden Textes: Anne Alexander, ‘The crises in the Middle East’, in: International Socialism 93, London 2001 (Winter)

1 S. Aburish, ‘The Coming Arab Crash’, in: The Guardian, 18.10.2001

2 Siehe z.B.: A.. Soueif, ‘It Provides The One Window Through Which We Can Breathe”, in: The Guardian, 9.10.2001

3 Y. Stein, ‘Events On The Temple Mount- September 29. 2000: Interim Report’, B´Tselem, in: www.btselem.org

4 Health, Development, Information and Policy Institute, ‘Factsheet: Palestinian-Intifada (28 September 2000-13 September 2001)’, in: www.hdip.org

5 A. Barzilay, ‘IAF’s Largest Ever Helicopter Deal With US Seen Ending Crisis Over Phalcon Affair’, in: Ha’ aretz, 03.10.2000

6 J. Halper, ‘The 94 Percent Solution: A Matrix Of Contro1’,in: Middle East Report 216, www.merip.org

7 Siehe z.B. folgenden Amnesty International Report: ‘Israel/Occupied Territories: Impunity for Killers of Palestinians’, 24.01.2001 (MDE/004/2001), www.amnesty.org

8 A. Alexander, ‘Powerless in Gaza: The Palestinian Authority and the Myth of the Peace Process’, in: International Socialism 89, London 2000), S. 41-43

9 S. Roy, ‘The Palestinian Economy After Oslo: Decline and Disfigurement’, in: R. Carey (ed.), The New Intifada (London, 2001).

10 Siehe: www.arabhra.org

11 Siehe z.B.: A. Fisher-Ilan, ‘Ben-Shabbat Rips Livnat’s Linking Loyalty To School Funding’, in: Jerusalem Post, 27.08.2001, www.jpost.com/Editions/2001/08/27/News/News.33457.html

12 Siehe: M. Sid-Ahmed, ‘The Israeli Arabs’, Al-Ahram Weekly, 14-20 Dezember 2000.

13 G. Andoni, ‘A Comparative Study of Intifada 1987 and Intifada 2000’, in: R. Carey, a.a.O.

14 G. Usher, ‘Fatah’s Tanzim: Origins And Politics’, Middle East Report 217, www.merip.org

15 ‘Intifada: Miwazin al-Quwa’, Fatah, issue 13, vol 37 (first half of July 2001), S. 25

16 G. Kepel, The Prophet And Pharoah, London, 1985, S. 210

17 Siehe: C. Harman, ‘The Prophet And The Proletariat’, in: International Socialism 64, London 1994, S. 3-63 für eine detaillierte Analyse islamistischer Bewegungen.

18 G. Kepel, a.a.O., S. 138-141

19 C. Harman, a.a.O., S. 30-37

20 M. al-Dirassat al-Ishtirakiyya, ‘Filastin: Ruyia Thawriyya’, Cairo 2001

21 H. Morris, ‘Palestinian Police Shoot Dead Two Protesters’, in: Financial Times, 09.10.2001

22 O. Roy, ‘Fundamentalists Without A Common Cause’, in: Le Monde Diplomatique, Oktober 1998, www.en.monde-diplomatique.fr/1998/10/4afghan. Siehe auch O. Roy, The Failure Of Political Islam, Cambridge, Mass. 1994

23 C. Harman, a.a.O., S. 49-51

24 Siehe zahlreiche Statements von Amnesty International, in: www.amnesty.org. Z.B.: ‚Egypt Fails To End Torture’ 07.05.1998 (MDE 12/23/98); ‘Hafez Abu Sa´ada Returns To Egypt: Authorities Must Stop Now Harassment Of Human Rights Defenders, 10.03.2000 (MDE 12/08/00)

25 M. al-Dirassat al-Ishtirakiyya, a.a.O.

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