Das Kapital gibt keine Ruhe – aber auch der Widerstand wächst
Die Umfragewerte der SPD lagen Anfang 2004 bei einem historischen Rekordtief von 24%. „Gewinner“ war eindeutig die Gruppe der Wahlenthaltungen: über ein Drittel wollte gar nicht wählen. Die CDU/CSU konnte zwar mehr Prozentpunkte gewinnen, aber die Zahl ihrer Wähler stagnierte. Immer weniger Wähler glauben, dass keine der im Bundestag vertretenen Parteien in der Lage sei, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Auch die PDS konnte vom Stimmungstief der SPD nicht dazugewinnen. Zu sehr hat sie sich in der Hauptstadt Berlin auf einen Kurs des Sozialkahlschlags zusammen mit der SPD eingelassen, als dass ihre Opposition noch glaubhaft wäre. Die wachsende Zahl der Nichtwähler signalisiert ein politisches Vakuum. Die große Frage ist, wer dieses Vakuum füllen wird.
Laut einer Umfrage im „Stern“ vertrauen nur noch 12 Prozent der Bundesbürger politischen Parteien. Diese Zahl weist auf eine ausgewachsene Krise des parlamentarischen Systems. Diese Ablehnung kommt aus der Erfahrung mit neoliberaler Politik in der Vergangenheit. Sowohl unter Kohl als auch unter Schröder wurden Lohn-Nullrunden und Kürzungen damit begründet, dass so neue Jobs geschaffen würden. Doch die Jahre des Verzichts haben die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigen können und so die Glaubwürdigkeit neoliberaler Politik untergraben. Das bereitet den Befürwortern des Sozialabbaus zunehmend Kopfschmerzen. Der konservative Politikwissenschaftler Jürgen Falter fordert deshalb den „Zusammenschluss aller politischen Kräfte“, um den „Egoismus der Bevölkerung“ zu brechen. Es handele sich bei der „Reformfeindlichkeit“ der Bevölkerung um eine „über lange Zeit gewachsene“ Einstellung, die nun durch einen „Umerziehungsprozess“ gebrochen werden müsse: „Es fehlt die Einsicht, dass es wehtun muss“. „Das Hauptproblem“ der Koalition, so bringt es sein Kollege Professor Meinhard Miegel auf den Punkt, „das Hauptproblem sind die Bürger selbst.“
Das Aufeinandertreffen von heftigen Attacken des Kapitals und einem großen Unmut auf Seiten der Bevölkerung hat in verschiedenen europäischen Ländern zum Wiederaufleben von sozialen und politischen Kämpfen geführt. Die Attacken des Kapitals zerreißen die alte sozialpartnerschaftliche Struktur – nicht nur in Deutschland. Das ist der Hintergrund für die größte Streikwelle in Europa seit Mitte der 90er Jahre. Alle europäischen Regierungen, ob konservativ oder sozialdemokratisch, sind mit ihrem Angriff auf den Sozialstaat in die Offensive gegangen.
Als Reaktion darauf mobilisierten die französischen Gewerkschaften im Mai und Juni 2003 die größten Massenstreiks seit 1995. In Österreich liefen die beiden größten Streikaktionen seit dem Zweiten Weltkrieg. In Italien streikten im Mai 2003 mehr als eine Million Angestellte im Öffentlichen Dienst. Am 24. Oktober legten 11 Millionen italienische Arbeiter in einem Generalstreik gegen die Rentenreform die Arbeit nieder. Eine Welle von Streiks ergriff im Januar 2004 weite Teile des Öffentlichen Dienstes, nachdem die großen Gewerkschaften schon vor der Regierung Berlusconi kapituliert hatten. In Spanien kam es am 20. Juni 2003 zu einem erfolgreichen Generalstreik mit etwa 80 Prozent Beteiligung gegen eine Verschlechterung der Arbeitslosenunterstützung. In Großbritannien waren Ende 2003 zum ersten Mal sei den 70er Jahren „wilde“, das heißt nicht von den Gewerkschaften unterstützte Streiks erfolgreich (Postarbeiter).
Der Widerstand war keineswegs überall erfolgreich. In Österreich und Frankreich setzten sich in der ersten Runde die konservativen Regierungen durch. In Deutschland hat bewusstes Gegenarbeiten von Teilen der IG Metall-Führung dazu beigetragen, dass die Metallarbeiter in Ostdeutschland im Sommer 2003 eine bittere Niederlage einstecken mussten. Aber die große Welle von Warnstreiks vom Februar 2004 hat die Arbeitgeber auch zum Teilrückzug gezwungen. BDI-Präsident Rogowski war enttäuscht: „Das Ausweiten der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich …, das ist überhaupt nicht erreicht.“ Das Handelsblatt vom 13. Februar 2004 kommentierte, die Metallarbeitgeber seien angesichts ihrer hohen Ziele „als Bettvorleger“ gelandet. So hat sich gezeigt, dass die IG Metall auch nach der Niederlage vom Sommer 2003 durchaus kampffähig geblieben ist.
SPD und Gewerkschaften
Die SPD hatte schon seit 1914 ihren dominierenden Einfluss in der Gewerkschaftsbewegung dazu eingesetzt, diese an den Kapitalismus zu binden – in „guten und in schlechten Zeiten“. Die letzten „guten Zeiten“ war die Jahre der Kanzlerschaft Willy Brandts 1969-72, als es unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler noch einmal einen Schub in Richtung Ausbau des Sozialstaates gab. Schon unter Kanzler Schmidt kam es zu ersten gewerkschaftlichen Massendemonstrationen unter anderem gegen die Erhöhung der Selbstbeteiligungskosten der Patienten. Nach mehrjähriger bitterer Erfahrung mit sozialdemokratischen Regierungen ist der kontrollierende Einfluss der Sozialdemokratie heute brüchiger geworden. Brüchiger heißt nicht verschwunden – nirgendwo ist das besser zu sehen als in Deutschland.
Das Jahr 2003 zeigte beides: sowohl den nach wie vor sehr wirksamen „langen Arm“ Schröders in die Gewerkschaften, wie auch die Lockerung seines Zugriffs. Die – durchaus berechtigte – Voraussicht, eine massive Mobilisierung des DGB gegen die Agenda 2010 könne den Sturz Schröders einleiten, führte nach kurzen, eher symbolischen Protesten zur sogenannten „Sommerpause“ des Widerstands Mitte 2003 (so Michael Sommer, der DGB-Vorsitzende).
Durchbrochen wurde diese Phase der Kapitulation nicht durch eine Initiative der Gewerkschaftsführer, sondern durch ein Bündnis von radikalen Linken, Globalisierungskritikern und Teilen des unteren Funktionärsapparats in mehreren Einzelgewerkschaften (IG Metall, Ver.di, IG Bau). Ergebnis war die überraschend große Demonstration gegen Sozialkahlschlag am 1. November in Berlin mit 100.000 Teilnehmern. Die anschließende Studentenbewegung, die sich mit den Protesten gegen die Agenda 2010 solidarisierte, brachte weiteren Unmut zum Vorschein. Kein Berliner Politiker wusste im Dezember 2003 auf dem Weg ins Büro, ob es besetzt ist. Die schillernd subversiven Aktionsformen standen im Zeichen der globalisierungskritischen Bewegung. Eberhard Diepgen (CDU) warnte vor einem „neuen 1968“, in den Medien wurde teilweise von einer „neuen APO“ gesprochen.
Sehr wichtig ist nun, was in den Gewerkschaften passiert. Die Motive der Gewerkschaftsbasis und der Gewerkschaftsführung sind durchaus unterschiedlich, obwohl sie bisher zeitweise zur gleichen Praxis, nämlich zur Anpassung und Unterwerfung unter die sozialdemokratische Regierung führen.
Die Gewerkschaftsführer fürchten die Radikalisierung des Kampfes in Inhalt und Form. Massenstreiks bergen aus der Sicht der Führung immer die „Gefahr“ einer Mobilisierung von unten mit „überschießender“, unkontrollierbarer Tendenz. Zugleich muss die Gewerkschaftsbürokratie, das heißt der zahlenmäßig beträchtliche Apparat hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionäre jedoch auch um sein eigenes Gewicht bedacht sein und dieses hängt letztlich von der Zahl der beitragszahlenden Mitglieder ab. Eine halbierte oder geviertelte Gewerkschaft hat eben auch nur einen halben oder viertel Anspruch als „Vermittler“ zwischen Kapital und Arbeit gehört zu werden.
Die Gewerkschaftsbasis, das heißt die Masse der einfachen Mitglieder, hält an der Sozialdemokratie fest, solange sie als Alternative nur eine Ablösung durch noch rechtere, offen gewerkschaftsfeindliche Parteien und Politiker sehen.
Die widersprüchliche Rolle der Gewerkschaftsführer bestimmt die strategische Diskussion in den Gewerkschaften. In Österreich wurden nach den Streiks alle weiteren Aktionen abgeblasen; in Frankreich ist bei den Rentenprotesten vom Frühjahr 2003 die große Gewerkschaft CFDT aus der Streikfront ausgeschert.
Doch der politische Preis, den die gewerkschaftlichen Führungen für diese Politik zahlen muss, ist seit Mitte der 90er gestiegen, denn die jetzigen Proteste spielen sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Sozialdemokratie und der globalisierungskritischen Bewegung ab.
Mitte der 90er konnten die Gewerkschaftsführungen Kämpfe mit dem Argument abbrechen, dass den Konservativen am Wahltag die Quittung für ihre Politik ausgestellt werde und mit einer sozialdemokratischen Regierung Reformen kommen würden. 1997 konnte Oskar Lafontaine protestierende Bergarbeiter aus dem Bonner Regierungsviertel nach Hause schicken, indem er die Abrechnung mit Kohls Politik am Wahltag versprach.
Heute mehren sich die Anzeichen, dass der politische Preis für das Deckeln von Protesten höher wird. Trotz einer intensiven Hetzkampagne der bürgerlichen Medien, die ihm die alleinige Verantwortung für die Niederlage in der ostdeutschen Metallindustrie 2003 unterstellte, ist der „Linke“ Jürgen Peters kurz darauf zum Vorsitzenden der IG Metall gewählt worden. Die Kongresse von IG Metall und Ver.di im Oktober 2003 waren von Kritik an Rot-Grün geprägt. Statt Beifallsstürme gab es Pfeifkonzerte für Schröder. Die Initiative für eine zentrale Demonstration gegen Sozialabbau am 3. April 2004 wurde von zahlreichen Gewerkschaftsgliederungen unterstützt und schließlich vom DGB augegriffen. Am 3. April 2004 gingen in Berlin, Köln und Stuttgart eine halbe Million Gewerkschafer/innen auf die Straße. Niemals zuvor war die Kluft zwischen Gewerkschaften und SPD so scharf und offensichtlich hervorgetreten. Innerhalb der Gewerkschaften bildet sich eine Strömung, die Widerstand gegen den rot-grünen Sozialabbau sehen will. Diese Strömung ist der wichtigste Bündnispartner für die Kräfte, die sich links von der Sozialdemokratie formieren.
Ob sich Menschen wehren, hängt natürlich nicht nur mit objektiven Bedingungen zusammen, sondern auch damit, ob sie das Gefühl haben, an ihrer Situation etwas ändern zu können. Genau dieses Gefühl ist in den letzten Jahren endlich wieder angewachsen. Die neue globalisierungskritische Bewegung ist der sichtbarste Ausdruck dieser Stimmung. Weltweit bildeten sich neue Widerstandsnetzwerke heraus, es bilden sich internationale Zusammenschlüsse wie ATTAC, die Gipfeltreffen der Mächtigen der Erde werden regelmäßig belagert. Neben diesen in den Medien zum Teil berichteten Entwicklungen kam es in den letzten Jahren auch zu einem Aufschwung von Arbeiterkämpfen. Die Frage, ob sich diese Kämpfe, die in der Regel Abwehrkämpfe gegen konkrete Kürzungsmaßnahmen und Privatisierungen öffentlicher Dienste sind, vergrößern und politisieren, ist zentral für die Zukunft.
Gerade weil die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung so zentral ist, die Gewerkschaftsführungen die Kämpfe heute unter dem Druck der SPD-Regierung gar nicht oder höchst inkonsequent führen, müssen linke Globalisierungskritiker und Sozialisten in den Gewerkschaften Netzwerke kämpferischer Gewerkschafter aufbauen.
Eine neue Linke für eine andere Welt
Europaweit ist der Raum für die Linke größer geworden. In Deutschland ist ATTAC die entscheidende Organisation links von der Sozialdemokratie. Das globalisierungskritische Netzwerk hat personell wie politisch eine rasante Entwicklung hinter sich. Von 200 Mitgliedern vor den Genua-Protesten 2001 ist ATTAC mittlerweile auf über 13.000 Mitglieder angewachsen. Auf dem letzten ATTAC-Ratschlag wurde der Kampf gegen Schröders Sozialabbau zum zentralen Projekt der Organisation erklärt – ein wichtiger Schritt. Auf den Demonstrationen vom 3. April 2004 konnten in Köln, Stuttgart und Berlin Attac-Redner zu hunderttausendn Gewerkschaftern sprechen.
Die Verbindung einer kämpferischen Strömung in den Gewerkschaften mit dem Antikapitalismus der Globalisierungskritiker ist der Stoff, aus dem eine neue Linke in Deutschland entstehen kann. Diese Einheit entsteht nicht am grünen Tisch, sondern in gemeinsamer Aktion und Debatte. Die gemeinsam organisierten Proteste gegen die Agenda 2010 sind der erste Schritt.
Im Kampf gegen Sozialabbau und Lohnraub geht es darum, die größtmögliche Zahl an Menschen in einer gemeinsamen Gegenbewegung zusammenzubringen. Den konsequenten Gegnern aller Kürzungen am Sozialstaat muss es darum gehen, die unsicheren, aber auch inkonsequenten Kräfte in eine gemeinsame Front gegen Schröder einzubeziehen. Sie repräsentieren heute noch die Mehrheit der organisierten Arbeitnehmer. Eine Minderheit ist bereit ohne Rücksicht auf Schröder den Kampf aufzunehmen. Diese Minderheit muss sich zusammenschließen, damit sie Mehrheiten gewinnen kann. Breite Bündnisse, Sozialforen etc. können so zu echten Gegenkräften werden.
Die heute wieder vorhandene systemkritische Stimmung ist der eigentliche Grund für die Dynamik, die die außerparlamentarische Bewegung momentan vorantreibt. Sie speist sich aus den Erfahrungen, die die Menschen in den vergangenen Jahren mit der kapitalistischen Realität gemacht haben. Das ist nicht nur die Demontage des Sozialstaates. Einschneidend war auch der Krieg gegen den Irak, in dem Tausende Iraker für die machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen der USA getötet und die Weltöffentlichkeit offensichtlich belogen wurde. Die Hintergrundmusik dazu spielen Klimakatastrophe, die Armut der Dritten Welt und zahlreiche andere Missstände in einer Welt, die reicher ist als je zuvor und die Möglichkeiten böte auf jedes dieser Probleme Antworten zu finden, wenn die Entscheidungsträger nicht in einem blinden Wettlauf um Profite gefangen wären.
So entsteht eine explosive Mischung, aus der die reale Chance entstehen kann, die Welt zum Positiven zu verändern. Weltweit wird die Hegemonie der neoliberalen Politiker mit Widerstand konfrontiert. Der Aufstand in Bolivien mit dem Sturz des Präsidenten 2003, sowie die Generalstreiks in Italien und Frankreich sind nur die jüngsten Beispiele dieser Tendenz. Und eine Entspannung ist derzeit nicht in Sicht. Die schärfer werdende Konkurrenz auf den Weltmärkten vor dem Hintergrund ökonomischer Stagnation spitzt diese Konflikte weiter zu. Je greifbarer die Chance wird, die Welt tatsächlich zu verändern, desto dringlicher ist die Frage, wohin die Reise gehen soll. Linksruck arbeitet mit allen Kräften daran, die Bewegung gegen Schröders Sozialkahlschlag aufzubauen und tritt für die Perspektive einer sozialistischen Alternative ein, in der es eine demokratische Entscheidung über die materiellen Ressourcen gibt, die in dieser Welt schon heute im Überfluss vorhanden sind.
Ein gewaltiges Loch klafft in der politischen Landschaft in Deutschland. Noch gibt es für die Zehntausenden, welche die SPD verlassen und die Millionen Wähler, die sich enttäuscht von der Schröder-Regierung abwenden, keinen wirklich relevanten Anlaufpunkt, keine politische Kraft, die ihre Interessen verteidigt. Dieses Vakuum wird sich füllen. Doch wenn wir nicht handeln, dann werden Konservative und noch rechtere Kräfte sich an die Spitze des Unmuts setzen. Die Geschichte zeigt, dass der Rassismus in Zeiten der Krise, in denen das Zuckerbrot der Sozialreform knapp wird, dazu dient Sündenböcke in ethnischen Minderheiten zu suchen und zu finden und dass die Herrschenden nur zu bereit sind, sich auf solche Bewegungen als Gegengewicht zum Widerstand von unten zu stützen. Die CDU/CSU will die Europawahl 2004 auch „zu einer Volksabstimmung“ über die EU-Mitgliedschaft der „islamischen“ Türkei machen. Sie schüren die antiislamische Stimmung.
Die Zeit ist reif für eine glaubwürdige politische Kraft, die sowohl enttäuschten Sozialdemokraten als auch radikalen Linken eine gemeinsame Heimat bietet. Eine Kraft, die entschlossen Widerstand von unten aufbaut, jeden Kampf gegen Sozialabbau, Rassismus und Krieg unterstützt und dem Standortwettlauf der Konzerne auf dem Rücken der Bevölkerung den Kampf ansagt. Dem gemeinsamen Aufbau einer solchen politischen Alternative zur SPD aus dem Geiste der internationalen Kämpfe gegen Sozialabbau und Krieg ist Linksruck verpflichtet.