Die Rolle der Sozialdemokratie

100 Jahre Reformismus – von der Reform zur Deform

Rosa Luxemburg hatte 1898 in ihrer Schrift „Sozialreform oder Revolution“ den Theoretiker und Mitbegründer des Reformismus in der SPD, Eduard Bernstein, angegriffen. Bernstein und seine Anhänger vertraten die Ansicht, dass das Streben nach inneren Reformen auf gesetzlichem Wege die realpolitisch zwar langsame, aber sichere Methode wäre, durch die die Gesellschaft allmählich in den Sozialismus hineinwächst. Rosa Luxemburg stellte dagegen ihre Ansicht: sowohl Reformen als auch Revolution! Sie erblickte im Kampf um Reformen, um die Verbesserung der Lebensverhältnisse, um Arbeiterschutz, um demokratische Rechte innerhalb des bürgerlichen Staates gerade das Mittel, die Arbeiterklasse zu schulen und für den Kampf um die politische Macht zu organisieren. Sie schrieb: „Wer sich für den gesetzlichen Reformweg, anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht, ausspricht wählt tatsächlich nicht einen ruhigen, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel.“ 1
Rosa Luxemburg hat in einem doppelten Sinn Recht behalten. Das Ziel, eine sozialistische Gesellschaft, haben Schröders Sozialdemokraten nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch aufgeben. Der von Schröder berufene und inzwischen auf Druck der Partei wieder entlassene Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, hat sich nicht nur dafür ausgesprochen den „demokratischen Sozialismus“ als Ziel aus dem SPD-Grundsatzprogramm zu streichen. Er hat sich zugleich für eine Streichung des Begriffs der „sozialen Gerechtigkeit“ aus dem Programm ausgesprochen! Wenn der Hund nicht zum Herrn kommt, dann eben der Herr zum Hund. Wenn die Praxis nicht der Theorie entspricht, dann muss die Theorie der Praxis angepasst werden. Nach dieser Logik muss die SPD ihr Programm ändern, nicht ihre Politik des Lohnraubs. Sie erhofft sich so wohl weniger Widerspruch und Enttäuschung nach dem Motto: Wo es keine Hoffnung mehr gibt, kann es auch keine Enttäuschung geben.

Aber mit dem Ziel ändert sich auch der Weg. Die SPD von Gerhard Schröder und Wolfgang Clement wollen die Reform des Kapitalismus und das verlangt auch einen anderen Weg, solange der Kapitalismus in der Krise ist. Schröder hat es fertig gebracht, den Sinn des Begriffs Reform in sein Gegenteil zu verkehren; nicht die allmähliche Verbesserung, sondern die beschleunigte Verschlechterung der Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen ist in der Agenda 2010 ausgesprochen – freilich immer noch mit der vagen Zukunftsvision, dass es im Jahr 2010 wieder besser wird. Die Deformation des Sozialstaats nennt er zynischer Weise „Reform der Reform“. Und wo er in seinen Reden noch vorgibt, es ginge seiner Regierung um den „Erhalt der Substanz“ des heutigen Sozialstaats, fordern die sogenannten „Netzwerker“ in der SPD, das sind etwa 40 jüngere SPD-Bundestagsabgeordnete vom rechten Flügel, den „Umbau des Sozialstaates zu einem vorsorgenden, aktivierenden und investierenden Sozialstaat.“ Sie wollen die „Chancengesellschaft“, in der dem Einzelnen „Möglichkeiten und nicht Rechte“ gewährt werden. Einer ihrer „Vordenker“, Thomas Meyer (Mitglied der SPD Grundwertekommission und Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD) fordert nicht nur den „Abschied vom Bismarckschen Sozialstaat“, der „im Sozialstaatsdenken fortwuchert“. Er möchte den Begriff der „gerechtfertigten Ungleichheit“ als Erscheinung einer „dynamischen Gesellschaft“ in das neue Grundsatzprogramm der SPD aufgenommen haben. Soviel Ehrlichkeit war selbst Olaf Scholz zuviel, der lieber von der „Beteiligungsgerechtigkeit“ sprechen möchte. Die Einführung des Arbeitszwangs in der Sozialhilfe nennen sie „welfare to work“, oder „beschäftigungsfördernde Sozialpolitik“. „Individuelle Freiheit“ und „Eigenverantwortlichkeit“ in der „Chancengesellschaft“ sind die nebulösen Begriffe, mit denen sie den Abbau von Solidarität und kollektiven Rechten, die allen zustehen, schönreden.
Die Parteirechte kritisiert Schröders „Pragmatismus“. Sie kritisieren, dass er über ein abstraktes Versprechen, dass seine Kürzungspolitik letztlich dem Erhalt des Sozialstaats diene, nicht hinausgehe. Der Parteienforscher Joachim Raschke schrieb schon kurz nach der Agenda-Rede, dass Schröder „der falsche Mann“ sei: „ein Programm der Zumutungen findet nur dann Unterstützung, wenn damit auch Hoffnung , Sicherheit, ,Sinn‘ und Zukunft gerade für die Kernwähler der SPD verbunden sind.“ 2 Schröder habe es im Unterschied zum britischen Führer von „New Labour“ versäumt, die Partei auch zu überzeugen, statt Loyalität „nur zu erzwingen“. Die SPD hatte zwar vor Schröders Regierungsantritt 1998 auf ihren Parteitagen eine Reihe „angebotsorientierter“ Beschlüsse zur Wirtschafts- und Sozialpolitik gefällt. Aber die Wahlprogramme von 1998 und 2002 standen eher links davon. Schröder Politik erscheint daher der Wählerschaft und den Mitgliedern zunehmend als Verrat früherer Beschlüsse und sozialdemokratischer Programmatik. Aber die Erfahrungen Tony Blairs in Großbritannien, der eine solche Programmdiskussion mit einer „Vision“ vor seiner Wahl 1996 führte, zeigen, dass auch dies nicht davor schützt, dass sich die „Arbeitnehmer“ verraten fühlen von einer Politik der Privatisierung öffentlicher Dienste zum Wohle des privaten Profits. Der „Umbau der Sozialstaates“, wie ihn Tony Blair und Gerhard Schröder als Repräsentanten der europäischen Sozialdemokratie heute praktizieren, bedeutet Privatisierung sozialer Risiken, bedeutet Armut und sozialer Abstieg für Millionen Rentner, Behinderte, Kranke, Arbeitslose und bedeutet, das die abhängig Beschäftigten insgesamt (mit Ausnahme einer kleinen Schicht von Managern) den Krisenfolgen des Kapitalismus wieder schutzloser ausgesetzt sind.
Der Verzicht auf das Ziel des Sozialismus führt direkt in die Abweichung vom Weg der Sozialreform in die Deformation des Sozialstaates.

Die SPD: das kleinere Übel?

Nach seiner Wiederwahl 2002 hoffte Schröder zunächst auf einen baldigen Aufschwung. Als dieser im Winter 2002-3 nicht nur ausblieb, sondern die Konjunkturdaten weiter nach unten zeigten, trat der Kanzler dann im März 2003 die Flucht nach vorn an. In seiner Agenda-Rede machte er sich die Kritik der Herrschenden an seiner bisherigen Regierungstätigkeit zu eigen: „Vor allem reicht die Geschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturreformen den veränderten Bedingungen anpassen, nicht aus.“ 3Aber Schröder erinnerte das Kapital auch daran, dass nicht die Konservativen unter einem Bundeskanzler Helmut Kohl erfolgreich waren beim Sozialabbau, sondern die Sozialdemokraten („Unter Ihrer Führung ist mit solchen Reformen nie begonnen worden…“). Es ist dieser enorme Druck der Herrschenden auf rasche Senkung der Lohnkosten und Sozialabgaben der Unternehmer, der seitdem den Kurs der Schröder-Regierung diktiert. Das Versprechen einer Geschwindigkeitssteigerung beim Sozialabbau hängt seitdem wie ein Damoklesschwert über der Regierung Schröder-Fischer. Dies zeigt auch die Schwäche und Verwundbarkeit Schröders. Kaum hatte er Anfang Februar 2004 auf Druck der Regionalfürsten der SPD, die in den Ländern gewählt oder wiedergewählt werden wollen, eine Drosselung des Tempos angekündigt, widersprach ihm sein grüner Vizekanzler Joschka Fischer und mit ihm ein gewaltiges Konzert um Merkel & Co sowie den Medien.
Dass die Unternehmer sich in bestimmten geschichtlichen Konstellationen des „Vorteils“ einer sozialdemokratischen Regierungsverantwortung durchaus bewusst sind und diesen einzuschätzen vermögen, haben ihre führenden Sprecher in Krisenzeiten immer wieder betont. Als es 1966/67 zu einer großen Koalition von CDU/CSU und SPD kam, schrieb der Industriekurier (heute „Handelsblatt“): „Die Krise, die die Regierung jetzt aufzufangen hofft, ist in Wirklichkeit die beginnende Krise des Sozialstaates. …. Die enge Verbindung zwischen SPD und den Gewerkschaften, die bisher als Einfluss der Gewerkschaften auf die Sozialpolitik der SPD in Erscheinung traten, müssen jetzt umgekehrt die Einflussnahme der SPD auf die Gewerkschaftsführer ermöglichen.“ 4

Exakt aus diesem Grund, dass die SPD anders als die offen bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP in der Lage ist, den Widerstand der Gewerkschaften zu zügeln, hat sich im Februar 2004 der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) gegen vorgezogene Neuwahlen ausgesprochen: „Ich halte davon wenig. Ich wünsche mir, dass der Kanzler seine Agenda 2010 weiter vorantreibt.“ Rogowski fürchtet, dass im Fall von baldigen Neuwahlen „wir mindestens ein Jahr Stillstand haben – und wer weiß was dann kommt.“ 5 Rogowski geht dabei von zweierlei Annahmen aus: Erstens glaubt er, dass die Regierung Schröder-Fischer trotz Popularitätsverlust noch nicht am Ende ihrer Kraft angelangt ist, dass sie den Widerstand gegen Sozialabbau noch zügeln kann. Und zweitens, dass die Gewerkschaften und die linken Kräfte insgesamt zur Zeit stark genug sind, dort weiterzumachen, wo sie 1996/97 im Kampf gegen Kohls Sozialabbau aufgehört hatten, nämlich bei Massendemonstrationen und erfolgreichen Streiks. So will Rogowski „alles tun, um dem Bundeskanzler den Rücken zu stärken.“ Wenigstens einer, der ihm den Rücken stärkt, möchte man sagen, wenn das nicht mit einer Bedingung verknüpft wäre: „Sollte er mit den Reformen allerdings nicht weiterkommen, weil die eigene Fraktion nicht mitspielt, muss er die Konsequenzen ziehen.“ 6
„Wenn die Fraktion nicht mehr mitspielt“, muss als Metapher für die Wut und den Widerstand von unten gesehen werden. Schröder und die rot-grüne Regierung haben für Rogowski ihren Wert darin, dass sie bisher besser als die bürgerliche Regierung Helmut Kohls vor ihm den Sozialraub durchsetzen konnte – wegen ihrer „besseren Verbindung zu den Gewerkschaften“, insbesondere in die Funktionärsapparate hinein.
Wo die Überzeugung nicht mehr ausreicht und durch Erpressung „Loyalität“ erzwungen wird, bleibt als letzte Verteidigungslinie nur noch das Argument des „kleineren Übels“. Dieses Argument hat eine lange, verhängnisvolle Geschichte. Von 1930-33 hat die SPD dieses Argument bis zum bitteren Ende strapaziert, um ihre Politik der „Tolerierung“ der weitgehenden Zerstörung des Sozialstaats, vor allem der Arbeitslosenversicherung, durch die konservative Brüning-Regierung zu verteidigen. Das „größere Übel“, in diesem Falle Hitler und die Nazis, haben auf der Verzweiflung der Massen ihren Einfluss erst gewinnen können.
Der Sturz zweier sozialdemokratischer Kanzler in Krisenzeit (Herrmann Müller 1930, und Helmut Schmidt 1982) spielt im kollektiven Gedächtnis der Sozialdemokratie auch heute wieder eine gewisse Rolle und es ist deshalb wert, die Mythen, die sich darum ranken, zu widerlegen. Von Helmut Schmidt stammt der Ausspruch, er „möchte nicht als zweiter Herrmann Müller in die Geschichte eingehen.“ Und Wolfgang Clement (Stellvertretender SPD-Vorsitzender) hat im Oktober 2003 gewarnt: „Es erinnert mich derzeit einiges an das, was zum Sturz von Helmut Schmidt beigetragen hat.“ Deshalb sollten die Parteilinken mit ihrer Kritik an Schröder „nicht überziehen“. Schmidt und Clement erwecken damit den Eindruck, als seien sozialdemokratische Kanzler am Widerstand ihrer eigenen Linken gestolpert. Darin enthalten ist der Vorwurf, die Parteilinke und ihr Widerstand sei Schuld am darauffolgenden Vormarsch der Rechten.
Aber weder Herrmann Müller noch Helmut Schmidt waren über linke „Abweichler“ in der eigenen Fraktion gestürzt – es waren bürgerliche Koalitionspartner (DVP 1930, FDP 1982), die das Lager gewechselt hatten. Allerdings hatten Schmidt und Müller ihre eignen Anhänger soweit demoralisiert, dass die SPD bei Neuwahlen 1930 und 1983 jeweils herbe Wahlniederlagen hinnehmen musste. 1930 profitierten davon die Nazis, 1983 die CDU/CSU Kohls. Aus der Sicht der bürgerlichen Koalitionspartner hatte die Sozialdemokratie ihre Pflicht getan und rechtere Regierungen konnten das von den Sozialdemokraten begonnene Zerstörungswerk am Sozialstaat verstärkt fortsetzen.

Innerhalb der heutigen Bewegung gegen Sozialkahlschlag gibt es zwei Irrtümer über die rot-grüne Regierung, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten. Eine (linksradikale) Minderheit glaubt, dass es praktisch keinen Unterschied zwischen CDU und SPD mehr gäbe. Die große Mehrheit von Gewerkschaftern und SPD-Wählern glaubt zu Recht, dass es doch noch Unterschiede gibt, schließt aber zu Unrecht daraus die Konsequenz, dass die SPD das „kleinere Übel“ sei und man deshalb auch den Widerstand gegen Schröder nicht überziehen dürfe.
Die SPD ist kein kleineres, sondern ein anderes Übel. Natürlich geht das Programm eines Stoiber, Merz oder Koch weiter als das eines Schröder oder Clement. Deshalb sind es auch rein bürgerliche Parteien, die auf die organisierte Arbeiterschaft und deren Interessen wenig bis gar keine Rücksicht nehmen müssen – es sei denn diese beginnen ernsthaft zurückzukämpfen. Ein Laster und ein Personenwagen dienen beide der Fortbewegung, aber zu unterschiedlichen Zwecken – es wäre unsinnig zu sagen, das eine Fortbewegungsmittel sei besser als das andere. Sie sind „besser“ oder „schlechter“ zu unterschiedlichen Zeiten und Zwecken. Ebenso verhält es sich mit den Parteien, die die kapitalistische Gesellschaft bewahren möchten: die SPD ist, wie Rogowski und Handelsblatt sehr gut betonen, eine besondere Partei mit besonderen Aufgaben. Diese Aufgaben kann nur sie lösen wegen ihrer Herkunft aus der Arbeiterbewegung und ihrer besonderen Verbindung zu den Gewerkschaften. Das macht sie empfindlicher gegen den Druck von unten, das versetzt sie aber auch in die Lage, den Widerstand der Gewerkschaften von innen heraus zu lähmen. Die FDP und CDU/CSU können mit ihren Plänen des Sozialabbaus noch rücksichtsloser vorgehen. Rogowski weiß dies zu schätzen, aber ist sich durchaus unsicher, ob eine Regierung des Bürgerblocks zum jetzigen Zeitpunkt „erfolgreich“ wäre oder ob sich nicht die Schleusen des Widerstands erst recht öffnen würden.
Je offener der Widerstand sich gegen Schröders Sozialkahlschlag formiert, desto nutzloser wird er für die Herrschenden. Deshalb stellt sich die Frage nicht, ob Schröder stürzt, sondern wie und von wem er gestürzt wird. Wenn Schröder über eine Welle von Massendemonstrationen und Streiks stürzte, wäre am ehesten garantiert, dass eine neue konservative Regierung vor ebenso „unlösbaren“ Aufgaben stünde wie Kohl 1997.

Nicht seine linken Kritiker und gewerkschaftlicher Widerstand gegen Arbeitszeitverlängerung und Sozialraub stärken Merkel und die Konservativen. Schröder selbst sägt den Ast ab, auf dem er sitzt.
Von Wahl zu Wahl, von Umfrage zu Umfrage zeigt sich, dass sich die SPD-Stammwähler, die Arbeitnehmer, enttäuscht abwenden.
Die Frage ist nicht, ob Schröder stürzt, sondern wie er stürzt.

Der einzige Garant gegen Sozialabbau ist die Herausbildung einer neuen außerparlamentarischen Massenbewegung und der gleichzeitige Wiederaufbau einer neuen sozialistischen Massenpartei, die den Herrschenden Respekt und Furcht um den Verlust von Privivilegien abnötigen könnte.

Die SPD-Linke und der Bankrott des Keynesianismus

Welche Rolle spielt die SPD-Linke im Kampf gegen den Sozialkahlschlag? Bisher eine außerordentlich bescheidene, ja traurige! Schröder hat in den letzten vier Jahren bereits sieben Mal mit Rücktritt gedroht. Zuletzt im September 2003 („Wenn ihr mir nicht folgen wollt, könnt ihr euch einen anderen suchen“ 7). Das Problem der SPD-Linken ist, dass sie im wesentlichen die Notwendigkeit eines „Umbaus“ des Sozialstaates teilen, diesen aber „sozial gerechter“ gestalten wollen als Gerhard Schröder. Sie bauen dabei auf Parlamentstaktik anstatt auf Massenaktionen. Rosa Luxemburg hat dies „Kompensationspolitik“ genannt. Man lässt sich die Zustimmung zu einer Schweinerei abkaufen, um so eine kleine Verbesserung auf anderem Gebiet oder eine Abmilderung der Schweinerei zu erkaufen. Rosa Luxemburg nannte als Beispiel die Zustimmung zum Wehretat durch Sozialdemokraten im Austausch für Zugeständnisse auf sozialem Gebiet. Wer derartigen staatsmännischen Tauschgeschäften unbekümmert um die Prinzipien … nachjage, komme bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und zugleich die Flinte verloren hat.“ 8
Ganz in diesem Sinn hatten sechs SPD-Linke ihre Zustimmung zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (Hartz IV) im Oktober 2003 davon abhängig gemacht, ob die Zumutbarkeitsregelung verbessert wird. Zumutbar sollten nur solche Jobs sein, die zu tariflichen und ortsüblichen Entgelt bezahlt werden. Die Fraktionsführung machte den Linken dieses Zugeständnis, die Linken stimmten zu. Im Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundstag fiel das Zugeständnis nachträglich wieder weg. Der Kern des Gesetzes, die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, sei „dem Grunde nach unstreitig und daher zu begrüßen.“ Die sechs Abweichler haben sich bis zur Lächerlichkeit demontieren lassen und von solchen Leuten ist wohl auch in Zukunft nichts zu erwarten. Wer solche Kröten einmal geschluckt hat, schluckt auch noch weitere.

Die SPD-Linke hat unter Schröder 2003 wohl ihren absoluten Tiefpunkt erreicht und es stellt sich die Frage nach den Ursachen ihrer vollständigen Kapitulation. Der Verweis auf Schröders Erpressungsmanöver reicht nicht hin. Die eigentliche Ursache liegt darin, dass auch sie an die Priorität der „Wirtschaftspolitik“ glauben und dass ihnen in den letzten 25 Jahren die Gewissheit abhanden gekommen ist, über eine politische Alternative zur neoliberalen „angebotsorientierten“ Politik der SPD-Führung zu verfügen. Ihre Krise ist die Krise des Versuchs, innerhalb des Kapitalismus mithilfe von Wirtschaftsoperationen des Staates mehr Gerechtigkeit zu erzeugen – eine Wirtschaftspolitik, die in der Regel Keynesianismus genannt wird – und es ist deshalb notwenig, diese Erfahrung aufzuarbeiten.
Der Keynesianismus der SPD unter Wirtschaftsminister Schiller (1966-72) und später unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-82) hatte immer schon eine Nachfrageseite (Steigerung der Staatsnachfrage nach Investitionsgütern) und eine Angebotsseite (Senkung der Lohnkosten und konsumtiv, d.h. konsumsteigernd wirkender Staatsausgaben, d.h. vor allem Sozialausgaben). In den drei Konjunkturkrisen unter sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung (1967, 1975, 1981) kamen immer beide Elemente zum Tragen, die Dämpfung von Löhnen und konsumtiven Staatsausgaben sowie die Erhöhung der Staatsnachfrage zur Belebung des Investitionsgütersektors. Sie unterschieden sich vom linken Keynesianismus, indem sie die positive Bedeutung steigender Profitaussichten für Investitionsentscheidungen privater Kapitalisten betonte. Und sie unterschieden sich vom klassischen Liberalismus darin, dass sie in Krisenzeiten zum Mittel der defizitär finanzierten, „zusätzlichen“ Staatsnachfrage griffen.
In der Rezession 1975 stieg unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) die Arbeitslosigkeit auf 1,1 Millionen. Wie 1967 wirkte die Regierung auf die Gewerkschaften ein, Lohnverzicht zu üben, um die Profitaussichten der Kapitalisten zu verbessern. Sie legte auch wieder ein paar Investitionshaushalte auf, aber die Konjunktur kam nach kurzem Aufschwung rasch wieder ins Stocken. Jetzt zeigte sich, dass sich die internationalen Bedingungen seit 1967 grundlegend gewandelt hatten. Die Weltmärkte wuchsen langsamer, über eine Steigerung der Exporte ließ sich eine Stagnation der Binnenkonjunktur nicht mehr überwinden. Anders als nach der Rezession von 1967 ging deshalb die Arbeitslosigkeit 1975 und 1976 kaum zurück.
Die USA senkten nach Ende des Vietnamkrieges 1975 ihre Rüstungsausgaben und übten nun starken Druck auf Deutschland und Japan aus, die Rolle der Konjunkturlokomotive der westlichen Welt zu übernehmen. Schließlich verpflichtete sich die Regierung Schmidt 1978 zu zusätzlichen nachfragesteigernden Ausgaben in der Größenordnung von 1% des Bruttosozialprodukts. Daraus entstanden die „Zentralen Investitionsprogramme“ (ZIP) der Jahre 1977-81. Die Programme zeigten sogar Wirkung. 1979 stieg das Wirtschaftswachstum noch einmal auf 4,2%, die Arbeitslosigkeit ging zurück. Eine neue internationale Krise 1980-81 machte jedoch diese Anstrengungen zunichte. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte überstiegen die Importe die Exporte beträchtlich. Die „Flucht in den Export“ funktionierte nicht mehr.
Insofern war 1980 eine neue Situation eingetreten. Trotz der ZIP kam es zu einem Konjunktureinbruch. Die Regierung geriet in Panik und warf die keynesianische Ausgabenpolitik über Bord. Statt „antizyklisch“ die Staatsnachfrage zu erhöhen, wurden mitten in der Krise die Staatsausgaben gesenkt, indem die Regierung ein Sparprogramm nach dem anderen auflegte, die vorwiegend der Kürzung von Sozialausgaben dienten, also die Arbeitnehmer trafen. Ganz gegen alle keyenesianische Lehrbücher verschärfte die Schmidt-Regierung mit ihren Sparhaushalten die Krise. Im Winter 1981 erreichte die Arbeitslosigkeit unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler die 2-Millionen-Grenze.
In anderen europäischen Ländern sah es nicht besser aus. In Großbritannien wurde eine Labour-Regierung 1976 vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gezwungen, Ausgabenkürzungen in Milliardenhöhe im Sozialetat durchzuführen und eine Verdoppelung der Arbeitslosigkeit von 2,9% (1974) auf 6,1% (1977) hinzunehmen. Unter dem Eindruck der Krise sagte der damalige Labour-Premier James Callaghan auf dem Parteitag 1976: „Wir dachten, wir könnten uns aus den Krisen freikaufen, indem wir Steuern senkten und die staatliche Verschuldung erhöhten … Diese Möglichkeit besteht nicht länger; wenn sie überhaupt je bestanden hat, dann haben wir dafür mit Inflation bezahlt. Und jedesmal, wenn das passierte, stieg der Anteil der Arbeitslosen.“ 9
Ähnliche Erfahrungen folgten in Frankreich Anfang der Achtziger, wo die Sozialistische Partei Mitterands zunächst mit einem Programm der Wiederbelebung der Wirtschaft und der sozialen Reformen gewählt worden war. Sie endete mit fast vier Millionen Arbeitslosen. Selbst in Schweden, dem Musterbeispiel des linken Keynesianismus, verfolgte eine sozialdemokratische Regierung eine Politik der Deflation, die 14 % Arbeitslose hinterließ.
Die harte Realität war, dass der Keynesianismus vor dem Hintergrund des Endes des Nachkriegsaufschwungs und des Beginns der langen Stagnationskrise (vgl. Kapitel 2) nicht mehr funktionierte und dass sich die europäische Sozialdemokratie unter dem Druck negativer Erfahrungen mit diesem einst so gefeierten wirtschaftlichem Steuerungssystem schrittweise abwandte.

In einer in SPD-Führungskreisen der 80er Jahre viel zitierten und gelesenen Studie über Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, worin Fritz W. Scharpf die Erfahrungen von keynesianischer Steuerungspolitik in Großbritannien, Österreich, Schweden und Deutschland verglich, heißt es: „Anders als in den ersten drei Nachkriegjahrzehnten gibt es derzeit keine ökonomisch plausible keynesianische Strategie, mit der im nationalen Rahmen die sozialdemokratischen Ziele voll verwirklicht werden könnten, ohne dass dadurch Funktionsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie verletzt werden.“
Scharpf fordert die SPD auf, eine „auf den Privatsektor bezogene sozialdemokratische Angebotspolitik“ zu entwickeln. Diese müsse „auf die Steigerung der Unternehmenserträge gerichtet sein, und sie muss bei den Produktverfahren der Unternehmen ansetzen.“10 Scharpf erkennt ausdrücklich an, dass eine solche „sozialdemokratische“ angebotsorientierte Politik „immer die Einkommensposition der Klasse der Kapitalbesitzer im Verhältnis zur Klasse der Arbeitnehmer“ begünstigt. Der Sozialdemokratie bliebe aber nichts anderes übrig, als die „historische Niederlage erst einmal zu akzeptieren“ und mit ihr „die Grenzen ihrer binnenwirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten“.
Eine ganze Generation von ehemals linken Keynesianern in der SPD folgte in den 80er und 90er Jahren den von Fritz Scharpf empfohlenen Pfaden. Sie nannten sich nun „Modernisierer“. Modern ist an ihrer Kapitulation vor der Krise des Kapitalismus gar nichts. Sie erinnert an die historische Kapitulation Hilferdings (SPD-Finanzminister 1928-30 und Wirtschaftstheoretiker) und der SPD-Reichstagsfraktion 1930-33, die damals hilflos und alternativlos den Sparkurs der konservativ-reaktionären Brüning-Regierung unterstützte.
Die Erfahrungen der ersten Hälfte der 90er Jahre unter Helmut Kohl bestätigten die Lehren der Schmidt-Ära. Unter dem Druck der zusammenbrechenden Industrie in den neuen Bundesländern verließ die Regierung Kohl den in den 80er Jahren eingeschlagenen Kurs eines gemäßigten Monetarismus. Seit der Wiedervereinigung nahm die Wirtschafts- und Finanzpolitik ausgeprägt nachfrageorientierte Züge. Der Staatsanteil am BSP (,Staatsquote‘) stieg von 45,7 % (1990) auf 50,4 % (1995). Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte verdoppelte sich im gleichen Zeitraum von 1048 auf 2006 Milliarden Mark. Gerhard Schröder sprach damals vom „größten schuldenfinanzierten Beschäftigungsprogramm, das es jemals gegeben hat“.
Die Erfahrung der Regierung Helmut Schmidts wiederholte sich. Kohls Verschuldungspolitik konnte weder die Rezession von 1993 noch das Abgleiten in die Stagnation von 1995-97 verhindern. Kohls Regierungszeit endete ähnlich der seines sozialdemokratischen Vorgängers Helmut Schmidt mit dramatisch ansteigenden Arbeitslosenzahlen (4,3 Millionen).

Die Illusionen der sozialdemokratischen Keynesianer in einen krisenfreien Kapitalismus sind in den 80er und 90er Jahren ebenso zerstoben wie die der Reformsozialisten Bernstein und Hilferding nach 1929. Bernstein, Hilferding und ebenso Keynes hatten immerhin erkannt, dass der Kapitalismus ein wildes Tier ist, das man erledigen (Bernstein) oder dem man zumindest Fesseln anlegen muss (Keynes). Die heutigen „Modernisierer“ um Gerhard Schröder erkennen zwar die Gefahren der „Globalisierung“ und der verschärften internationalen Konkurrenz, aber sie ziehen daraus den merkwürdigen Schluss, das wilde Tier frei laufen zu lassen. Das ist keine gesunde Reaktion für Menschen, die nicht bei lebendigem Leib verschlungen werden wollen.
Ratlosigkeit ist auch den „neokeynesianischen“ Kritikern vom linken SPD-Flügel anzumerken. Sie haben mit ihrer Kritik am „unsozialen“ Charakter des Schröderschen Angriffs auf den Sozialstaat und die „Arbeitskosten“ (besser bekannt als Löhne und Gehälter) keinen Gegenentwurf zur Überwindung der Wachstumskrise und der Arbeitslosigkeit aufzeigen können. Warum sollten Steuererhöhungen für die Reichen – so begrüßenswert sie wären – und auf diese Weise steuerfinanzierte höhere Staatsausgaben zu mehr Wachstum führen? Die Neokeynesianer wollen mehr Staatsnachfrage ohne mehr Staatsverschuldung, sie wollen die Massenkaufkraft in Zeiten mangelnder Nachfrage nicht senken. Warum stimmen sie dann aber der Kürzung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau zu? Allein diese Maßnahme lässt die Massenkaufkraft um geschätzte 6 Milliarden Euro sinken. Ihre alten keynesianischen Rezepte sind gescheitert und neue haben sie nicht. Im Rahmen eines kapitalistischen Krisenmanagements gibt es diese auch nicht. Dies ist auch der Hauptgrund für ihre so jämmerliche Kapitulation vor Schröder. 11
Der Kapitalismus hat nichts von seiner unkontrollierbaren Dynamik und seiner zerstörerischen Kraft verloren. Die Krisentheorie von Karl Marx war nie unmodern geworden, aber es war leicht, sie für überholt zu erklären, als der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg von seiner bis dahin tiefsten Krise in seinen längsten und steilsten Aufschwung überging. Modern sein heißt heute, der unbequemen Tatsachen ins Auge zu sehen, dass die Krise des Kapitalismus erneut auf eine ernste Zuspitzung zuläuft und dass wir uns auch in Europa und den entwickelten Industrieländern früher oder später erneut vor die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ gestellt sehen werden. Für die Überwindung der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre hat die Menschheit einen hohen Preis bezahlt: die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der Eintritt in das Zeitalter der permanenten Rüstungswirtschaft. Welchen Preis sollen wir dieses Mal bezahlen ?
Es gehört keine besondere seherische Fähigkeit dazu vorauszusagen, dass Schröder und Fischer sich im Jahr 2010 schon lange nicht mehr für ihre Versprechungen aus 2003 verantworten müssen. Wie eine Horde Lemminge scheinen SPD- und Grünenfraktion im Bundestag fest dazu entschlossen, sich hinter und mit ihren Leittieren in den politischen Abgrund zu stürzen. Die Wählerbasis sollte sich von den hohlen Versprechungen auf ein besseres Leben im Jahr 2010 nicht täuschen lassen.

Anmerkungen:
1 Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Politische Schriften, Frankfurt 1966, Bd. I, S. 113 f.
2 „Wo die Ziele unklar sind, gibt es auch keine Strategie“, Joachim Raschke, Frankfurter Rundschau-Dokumentation, 17.5.2003
3 www.faz.net-spezial:agenda2010
4 Industriekurier, 24.1.1967
5 Das Handelsblatt, 9.2.2004
6 Ebenda
7 Vgl. www.bild.de
8 Rosa Luxemburg, Possibilismus, Opportunismus, in: Ges.Werke, Berlin 1970, Bd. 1.1, S. 230
9 Zitiert nach Tony Cliff / Donny Gluckstein, The Labour Party – a Marxist History, London 1988, S. 322
10 Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt 1987, S. 332 f.
11 Auch die heutigen Kritiker Schröders wie der AfA-Vorsitzende Ottmar Schreiner sind theoretisch nicht sehr weit von ihm entfernt. Schreiner und die SPD-Linke kritisieren zwar, dass die Schröderschen Kürzungen die ohnehin schwache Binnennachfrage dämpfe und so zu mehr Arbeitslosigkeit führe. Aber das ursprüngliche marktkritische Argument vieler linker SPDler, das sie von Keynes übernommen haben, dass die kaufkräftige Nachfrage im Kapitalismus strukturell zu niedrig sei und daher der Staat für zusätzliche Nachfrage sorgen müsse, wird nicht aufgegriffen, weil alle wissen, dass dies die Krise nicht lösen würde. Schreiner und auch die Bremer Memorandumgruppe, eine Gruppe linker Wirtschaftswissenschaftler, treten für Steuererhöhungen zur Finanzierung staatlicher Investitionsprogramme ein, also für eine Umverteilung bereits bestehender privater Kaufkraft zugunsten vermehrter Staatsnachfrage. Dabei sollen aus „Gerechtigkeitsgründen“ Wohlhabende und Reiche stärker herangezogen werden. Eine Rückkehr zum klassischen Keynesianismus, d.h. eine Ausweitung der Nachfrage durch eine defizitäre Ausgabenpolitik des Staates, wird in Deutschland von niemandem Gefordert. Die Kritiker Schröders mögen ihm vorwerfen, dass seine Kürzungen „ungerecht“, „sozial unausgewogen“ sind, dabei bleiben ihre Gegenvorschläge blass und der von Schröder zu recht als „dramatisch“ bezeichneten Wirtschaftslage unangemessen. Wir unterstützen natürlich alle Vorschläge zur stärkeren Besteuerung der Reichen, aber wir teilen nicht die Illusion, dass dadurch auch eine Verhinderung der drohenden Krisenzuspitzung mit noch mehr Arbeitslosigkeit zu erreichen wäre. Die Politik des ,Ja aber‘ der SPD-Linken (und der DGB-Führung) zum Schröderschen Sparkurs ist vor allem nicht geeignet, die betroffenen Arbeitslosen und Arbeitnehmer für eine Verteidigung ihrer sozialen Rechte zu mobilisieren.

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